Krisenmanagement: Das Controlling als Multikrisen-Navigator

Finance und Controlling sind aktuell wieder als Feuerwehr unterwegs. Wie können die immer neuen Brände eingedämmt werden? Planungs- und Controlling-Experte Michael Kappes empfiehlt drei Stoßrichtungen, um die hohe Unsicherheit und die veränderten Anforderungen in den Griff zu bekommen.

Die Unsicherheit wird bleiben

Die Finanzabteilungen im Allgemeinen und das Controlling im Speziellen sind spätestens seit März 2022 wieder einmal im "Firefighting-Modus". Immer wieder tauchen neue Brände auf, die bekämpft und gelöscht werden müssen. Schien das Corona-Feuer schon eingedämmt, flammt es gerade wieder auf. Die "Brandstiftung" gegenüber der Ukraine bringt Auslandsmärkte und Lieferketten zum Schmelzen und feuert zusätzlich die ohnehin schon hohe Inflation an. In dieser Situation wird das Controlling definitiv gebraucht, aber die herrschende Unsicherheit (nicht zuletzt auch die Frage: "Was kommt als Nächstes?") sorgt für viel Stress bei den Akteuren.

Klar ist: Keine Krise ist permanent. Aber auch: Wer glaubt, es wird wieder ruhig ("wie früher"), der täuscht sich. Die Unsicherheit wird bleiben, vielleicht sogar noch weiter zunehmen. Die Controllerinnen und Controller müssen sich dieser Realität stellen, sonst droht mittelfristig Burnout (hierzu gerne einmal "Stockdale-Paradox" googeln).

Sich der Realität stellen heißt in diesem Zusammenhang, das Controlling "krisenfest" zu machen, also so aufzustellen, dass die gestiegenen Anforderungen an die Unternehmenssteuerung in Zeiten enormer Unsicherheit und unterschiedlicher Disruptionen ("VUCA") souverän und effizient bewältigt werden können.

Ich empfehle hier an drei Stellen anzusetzen:

  1. dem Selbstverständnis des Controllings,
  2. dem vom Controlling betrachteten Rahmen und
  3. den vom Controlling zugrunde gelegten Beurteilungskriterien.

Stoßrichtung 1: Aktiver agieren

"Im Zentrum der Controlling-Aktivitäten muss die Entscheidungsunterstützung stehen; dazu ist die aktive Modellierung von Zukunftsszenarien zwingend notwendig!"

Statt umfangreicher rückwärtsgewandter Berichte und Analysen ("Wo haben wir wieso welche Abweichungen?") bedarf es eines kontinuierlichen Nach-vorne-Schauens in Form von Forecasts kombiniert mit Simulationen. Dabei sollten immer auch eigene Maßnahmenvorschläge seitens des Controllings mit einfließen. Um ein Bild zu verwenden: Es gilt, die im Weg liegenden Eisberge zu identifizieren und Wege vorzuschlagen, diese Eisberge elegant zu umschiffen. Ein Bericht (oder Dashboard) mit der Anzahl der bereits umschifften Eisberge als Kennzahl ist dagegen nicht relevant!

Für im Weg liegende Eisberge bedarf es Maßnahmen zum Ausweichen!

In Zeiten größerer Unsicherheit und Umbrüche kann die dafür notwendige Vorausschau nicht einfach wie in ruhigen Zeiten an den Autopiloten bzw. eine Maschine delegiert werden. Die vielgepriesenen Predictive Analytics ("Machine Learning" / KI) bringen hier nur begrenzten Mehrwert. Das heißt nicht, auf Analytics zu verzichten, wohl aber ihre Grenzen anzuerkennen. Bei hoher Unsicherheit wie aktuell erweisen sich manuelle top-down-Anpassungen einfacher Trendprojektionen als der effektivste Weg – Krisenzeiten sind "top-down-Zeiten"!

DAS Controlling-Instrument in VUCA-Umfeldern sind zweifellos Simulationsmodelle. Ein Simulationsmodell sollte auf dem Forecast bzw. einer intelligenten Trendprojektion aufsetzen und es ermöglichen, auf dieser Basis verschiedene Entwicklungen in allen relevanten Dimensionen betrachten zu können. Im Idealfall liegt ein umfassendes und durch ein professionelles Tool unterstütztes Modell vor, das eine gemeinsame Modellierung ohne Verzögerungen ermöglicht. Das Ziel der Simulation besteht darin, externe Entwicklungen mit internen Maßnahmen zu kombinieren, um so verschiedene sinnvolle Szenarien als Basis für rationale Entscheidungen zu generieren.

Stoßrichtung 2: Umfassender agieren

"Das Controlling muss alle wesentlichen Wertschöpfungsbereiche in die Betrachtung und Entscheidungsunterstützung einbeziehen – nicht nur Financials!"

Statt sich auf eine Betrachtung der Finanzzahlen zu beschränken ("weniger Umsatz, mehr Kosten") sollten die zugehörigen Treiber ("Absatzmengen", "Auslastung", "Einkaufspreise", ...) im Vordergrund stehen. Dabei müssen alle für das Unternehmen wesentlichen Funktionsbereiche einbezogen werden (abhängig vom Geschäftsmodell). Typischerweise heißt das, dass im Minimum sowohl Vertriebssteuerung und Supply-Chain-Steuerung als auch Personalsteuerung integrativ mitbetrachtet und in Szenarien-Diskussionen und Entscheidungsvorbereitung einbezogen werden müssen!

Alle wesentlichen Bereiche müssen in die Betrachtung einbezogen werden!

Zentral ist sicherlich die Betrachtung von Absatzmarkt (Kundenseite) und Supply-Chain (Produktions- und Beschaffungsseite). In Zeiten erhöhter Inflation müssen hier sowohl die Auswirkungen veränderter Beschaffungskosten als auch die Preispolitik gegenüber den Kunden modelliert werden können. Selbstverständlich müssen auch ein Wegfall bestimmter Absatzmärkte sowie eine Beeinträchtigung von Lieferketten bzw. Lieferanten-Beziehungen abbildbar sein; eine Fragestellung, die mit der Ukrainekrise nochmals relevanter wurde.

Schon im Verlauf der Coronakrise wurde sehr deutlich, dass personalbezogene Fragestellungen wie z.B. der Anteil der Kurzarbeit, die Auslastung von Produktionsstätten, die Verfügbarkeit von Arbeitskräften bis hin zu den Personalkosten einen essenziellen Bestandteil der Unternehmenssteuerung bilden. Entsprechend müssen auch diese Treiber und die aus ihnen resultierenden Finanzeffekte Teil der Betrachtung und modellierbar sein.

Stoßrichtung 3: Mehrdimensionaler bewerten 

"Das Controlling muss verschiedene Kriterien für die Bewertung und Entscheidungsunterstützung einbeziehen!"

Nicht nur die Betrachtung verschiedener Szenarien ist in Zeiten von hoher Unsicherheit unerlässlich, auch die Bewertung sollte mehrere Dimensionen umfassen, statt sich auf eine finanzielle Bewertung im Sinne einer Rentabilität (wie RoI oder EVATM) zu beschränken.

Beurteilungskriterien

Die zentrale zwingend notwendige zweite Dimension ist die Risikobewertung: Wie verändert sich durch das jeweilige Szenario die Risikoposition des Unternehmens? Auch die Diskussion um eine stärkere "Resilienz" gehört hier dazu: Würde sich durch eine Entscheidung die Flexibilität (geringerer Fixkostenanteil) erhöhen? Wie wirkt sich das auf eventuelle Produktionsausfälle aus? Etc. Damit keine Missverständnisse aufkommen: Eine gute Risikobewertung zahlt auch auf den Shareholder Value ein, der bei gleicher Profitabilität und geringerem Risiko höher ist!

Weniger ein Produkt der Krise(n) als des gesellschaftlichen Wandels ist die zunehmende Bedeutung von ESG-Aspekten (Environmental Social Governance) für die Unternehmen – eng verwandt mit der unternehmerischen Sozialverantwortung (CSR bzw. Corporate Social Responsibility). Auch diese Entwicklung kann das Controlling nicht ignorieren, sondern muss die zugehörigen Aspekte schrittweise in die Unternehmenssteuerung (und deren Kern – die Szenarien-Betrachtung!) mit integrieren und bei Entscheidungen immer mitberücksichtigen. Am dominantesten sind hier aktuell sicherlich Nachhaltigkeitsthemen (z.B. Pflicht zum Reporting von CO2-Emissionen), aber auch viele weitere Größen (z.B. Umgang mit Minderheiten) dürften zukünftig eine entsprechende Mitberücksichtigung erfordern.

Fazit: Ein richtig aufgestelltes Controlling ist bei hoher Unsicherheit bzw. in Krisenzeiten die Schlüsselfunktion im Unternehmen!

Die Weiterentwicklung entlang der geschilderten Stoßrichtungen dürften für viele Unternehmen in Summe eine Ausweitung der Controlling-Aktivitäten bedeuten. Daraus folgt aber keineswegs zwingend ein Ausbau der Controlling-Ressourcen. Parallel zur Ausweitung wertschöpfender Aktivitäten sollten möglichst eine Rückdrängung nicht-wertschöpfender Controlling-Prozesse erfolgen; Stichworte sind hier: Eliminierung und Verzicht sowie Automatisierung und Digitalisierung. Auch hier bieten Krisenzeiten eine gute Chance, alte Zöpfe abzuschneiden! Und meiner Erfahrung nach gibt es durchaus einiges zum Abschneiden in vielen Controlling-Bereichen.

Wie skizziert kann ein gutes Controlling in Krisenzeiten seinen Wertbeitrag zeigen und sich als der zentrale und anerkannte Business Partner im Unternehmen etablieren? Dafür muss man aber bereit sein, alte Pfade zu verlassen und die eigenen Kompetenzen und Prozesse kontinuierlich weiterzuentwickeln. Hierzu ist erfahrungsgemäß einiges an Change Management erforderlich. Viele Controller tun sich schwer damit, "bewährte" Praktiken aufzugeben; es könnte ja doch noch mal jemand nach der vor 3 Jahren einmal vom Vorstand angeforderten und seitdem regelmäßig angefertigten Analysen fragen.

Der Prognose des ehemaligen Volkswagen CIOs Martin Hofmann aus dem Jahr 2016, dass es in 10 Jahren in großen Unternehmen keine Controller mehr geben wird, kann man als Controllerin bzw. Controller gelassen entgegensehen. Die Unsicherheit wird bleiben, neue Krisen werden kommen und das Controlling wird als Krisen-Navigator dringender denn je gebraucht werden!

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Schlagworte zum Thema:  Controlling, Risikomanagement, Planung