Komplexität und Dynamik erfordern eine neue Kostenrechnung

In seinem neuesten Forschungsprojekt nimmt Prof. Dr. Jürgen Weber die „deutsche“ Kostenrechnung unter die Lupe, obwohl – oder gerade vielleicht weil – sich die Theorie seit Jahrzehnten nicht geändert hat. In diesem Interview erläutert er seine Motivation und identifiziert verschiedene Themenbereiche, die den Veränderungsdruck auf die Kostenrechnung massiv erhöhen.

Der Interviewpartner:

Prof. em. Dr. Dr. h.c. Jürgen Weber war bis zu seiner Emeritierung zusammen mit Prof. Dr. Utz Schäffer Direktor des Instituts für Controlling und Management an der WHU – Otto Beisheim School of Management. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu erarbeiten und in der Praxis umzusetzen, ist ein zentrales Ziel und Markenzeichen seiner Arbeit. Der Autor ist vielfach ausgewiesener Controlling-Experte, Co-Autor u. a. des führenden Lehrbuchs "Einführung in das Controlling" sowie jahrelanger Vorsitzender des Kuratoriums des Internationalen Controller Vereins (ICV).

Das Interview führte Günther Lehmann, Mitglied der Controller Magazin-Redaktion, Chefredakteur Compliance und Controlling von Haufe.

Herr Prof. Weber, zunächst eine persönliche Frage: Die Kostenrechnung ist seit Beginn Ihrer Karriere ein Schwerpunktthema von Ihnen. Gibt es dafür einen besonderen Anlass oder einen „Faszinationsfaktor“?

Prof. Dr. Weber: Wer eine Kostenrechnung verstehen und gestalten will, muss sich intensiv mit dem Geschäft des Unternehmens auseinandersetzen. Tief in dessen Vielfältigkeit einzutauchen, wichtige Muster zu erkennen und diese in Zahlen abzubilden, macht sie noch heute für mich spannend. Außerdem kann man an dem Instrument lernen, dass es nicht nur eine betriebswirtschaftliche Perspektive auf der Welt gibt, sondern dass unterschiedliche Konzeptionen zu ganz unterschiedlichen Zahlen führen. Die Kostenrechnung ist eben kein ingenieurswissenschaftliches Messinstrument!

In den letzten Jahren war die Kostenrechnung als Gesamtkonzeption nur selten ein Thema in Publikationen wie dem Controller Magazin. Welche Ursachen sehen Sie dafür?

Weber: Instrumentell ist eigentlich alles über die Kostenrechnung gesagt. Wenn Sie die Auflagen der bekannten Lehrbücher verfolgen, hat sich dort seit vielen Jahren konzeptionell nichts verändert. Spannend ist es nur auf der Anwendungsseite. Was machen Controller und Manager wirklich mit den Zahlen? Welche Auswirkungen hat es, wenn die Kostenrechnung harmonisiert wird? Wie misst man die Qualität einer Kostenrechnung und wie hat sie sich entwickelt? Offensichtlich waren aber solche Fragen in der Praxis nicht drängend genug, um sich näher damit zu beschäftigen. Die Kostenrechnung funktionierte ohne ins Auge springende Probleme und Controller haben chronisch eher zu viel als zu wenig zu tun.

Heißt das, diese Fragen hätten besser gestellt werden sollen?

Weber: In der Tat! Die Kostenrechnungen in den Unternehmen haben meiner Erfahrung nach deutlich mehr Mängel, als man glaubt, auch deshalb, weil man sie nicht auf Entwicklungen des Geschäfts hin angepasst hat. Im Gegensatz zur Finanzbuchhaltung fehlt für die Kostenrechnung zudem ein regelmäßiger Qualitätscheck.

Welche Veränderungen in der „Kostenlandschaft“ der Unternehmen haben Sie in den letzten Jahren denn wahrgenommen, auf die die Kostenrechnung eine Antwort finden muss?

Weber: Ich sehe da insbesondere drei Themen. Das erste betrifft das Verhältnis zur Finanzbuchhaltung. Insbesondere in größeren Unternehmen gerät die Parallelität von Ergebniszahlen zunehmend unter Druck. Die IFRS-Welt liefert managementnähere Zahlen als die klassische HGB-Welt und die Kapitalmarktperspektive wird immer wichtiger. Hinter dem schön klingenden Begriff der Harmonisierung verbirgt sich nichts anderes als die Aufgabe des Wertkonzepts der Kostenrechnung, das einige von uns noch als „Schmalenbach´sche Treppe“ gelernt haben.

Ist das eine einschneidende Veränderung?

Weber: Konzeptionell schon, was allein die vielen Seiten zeigen, die in den Lehrbüchern auf das Thema des Kostenbegriffs und der kalkulatorischen Kosten verwendet werden. Sie wird von den Unternehmen aber nicht als eine solche wahrgenommen. Ich werte das als ein Indiz dafür, dass konzeptionelle Überlegungen zur Kostenrechnung in vielen Unternehmen eher Mangelware sind.

Welche Veränderungen sehen Sie noch?

Weber: Die anderen beiden Themen betreffen das Geschäft der Unternehmen und ihr Wettbewerbsumfeld. Sie lassen sich mit den beiden „Buzzwords“ Komplexität und Dynamik beschreiben. Beide sind nicht neu, haben aber eine Größenordnung erreicht, die einen hohen Veränderungsdruck auf die Kostenrechnung erzeugt. Mit anderen Worten: Komplexität und Dynamik in Unternehmen und Geschäftsmodellen erfordern eine neue Kostenrechnung!

Was meinen Sie mit den beiden Begriffen genau und wie wirken sie sich auf die Kostenrechnung aus?

Weber: Die gestiegene Komplexität des Geschäfts der Unternehmen hat viele Gründe. Die Kunden verlangen zunehmend individualisierte Produkte, so wie wir das schon seit langem aus der Automobilindustrie kennen. Dies führt zu einer Vielzahl von Varianten, wo es früher im Wesentlichen nur ein Basisprodukt gab. Komplexität entsteht aber auch durch eine zunehmende Kombination von Sach- und Dienstleistungen dem „Dienstleistungskranz“, mit dem Produkte ergänzt werden. Auf der Seite der Leistungserstellung haben wir es immer mehr mit Versorgungsketten statt mit Einzelprozessen zu tun. Will die Kostenrechnung diesen Entwicklungen folgen, muss sie selbst komplexer werden. Unterlässt sie dies, werden ihre Zahlen immer schlechter. Das kann für die Unternehmen durchaus gefährlich werden, wie es das schon lange bekannte Beispiel der Variantenkalkulation zeigt: Die Kostenrechnung weist zwar Kosten für Varianten aus, diese stimmen aber nicht. Zumeist werden den Varianten nur sehr wenige spezifische Kosten zugewiesen. Der Großteil davon wird auf alle verteilt. Damit werden die Basisprodukte mit Kosten belastet, für die sie nichts können, und das bedeutet, dass sie zu teuer werden und Probleme im Wettbewerb bekommen.

Und was bedeutet Dynamisierung für die Kostenrechnung?

Weber: Ganz offensichtlich macht eine steigende Dynamik ein häufigeres Überprüfen erforderlich, ob die Kostenrechnung noch aktuell genug ist. Immer wieder trifft man auf Kostenstellen, die es physisch schon längst nicht mehr gibt, auf Kostenarten, die nicht bebucht werden, auf Verrechnungsschlüssel, die schon seit Jahren nicht mehr überprüft wurden, auf Aufteilungen in variable und fixe Kosten, von denen niemand mehr weiß, wer sie wann warum vorgenommen hat. Weniger offensichtlich bedeutet Dynamik steigende Probleme mit Durchschnitten; die Varianz gewinnt gegenüber den Erwartungswerten immer mehr an Bedeutung. Auch schleift Dynamik die Bedeutung von Erfahrung. Diese war aber z.B. für eine Plankostenrechnung essentiell und der Grund dafür, dass sich eine solch aufwändige Rechnung gelohnt hat. Schließlich macht es die Dynamik auch erforderlich, regelmäßig ganz grundsätzlich über das Geschäftsmodell des Unternehmens nachzudenken. Änderungen hier führen i.d.R. auch zu erheblichen Veränderungen der Kostenrechnung.

Die Kostenrechnung muss sich also Ihrer Meinung nach ändern, um zukunftsfähig zu werden?

Weber: Das ist meine feste Überzeugung. Ohne eine Veränderung wird sie den genannten Herausforderungen nicht gerecht werden können.

Bislang scheint Ihre Einschätzung die Unternehmen noch nicht breitflächig erreicht zu haben. Wie soll sich das in Ihren Augen ändern?

Weber: Zunächst einmal: Veränderungen dieser Art dauern immer viel länger, als man glaubt. Auf dem Papier sieht das immer zwingend und überzeugend aus. Aber um es Wirklichkeit werden zu lassen, müssen Sie viele Menschen überzeugen, ihnen die Angst vor Veränderung nehmen, ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie Treiber und nicht Opfer der Veränderung sein können bzw. werden. Inhaltlich würde ich im ersten Schritt den Veränderungsdruck sichtbar machen und Qualitätsmängel der bisherigen Kostenrechnung aufdecken. Dann hilft auch der Blick nach außen weiter; gerade in größeren Unternehmen trifft man aktuell auf viele, die große Veränderungsprojekte der Kostenrechnung aufgesetzt haben. Wichtiger Treiber dieser Projekte ist dort auch der Wechsel von SAP R/3 auf SAP S/4HANA, der ohne ein konzeptionelles Re-Design der Kostenrechnung keinen Sinn macht. Schließlich ist es auch hilfreich, sich in die Projekte zur Digitalisierung einzureihen, z.B. zu analysieren, welche Rolle die Kostenrechnung als ein Instrument für „small financial data“ in einer Welt von „big data“ spielen kann und sollte.

Wird die Veränderung der Kostenrechnung Ihrer Meinung nach dazu führen, dass sie, die die Rentabilität von Produkten und Unternehmen bewertet, selbst „rentabler“, also effizienter wird?

Weber: Gute Frage! Ihre Beantwortung setzt voraus, dass die Kosten der Kostenrechnung hinreichend bekannt sind. Das trifft aber nur in den wenigsten Unternehmen zu. Wenn doch, hört man niedrige Promillezahlen bezogen auf den Anteil an den Gesamtkosten des Unternehmens. Auf der Kostenseite ist mit anderen Worten „wenig zu holen“. Die Nutzenseite ist deutlich wichtiger. Wenn die Kostenrechnung Werte ausweist, die nur passend und genau aussehen, es aber nicht sind, würde es nichts helfen, ihre Kosten zu reduzieren. Unter dem Strich rechnete sie sich in diesem Fall selbst dann nicht, wenn sie kostenlos wäre. Wie nützlich eine Kostenrechnung heute ist und morgen sein soll, kann man nur abschätzen, wenn man eine Vision dafür entwickelt, welche Rolle sie in einer „VUCA-Welt“ und einem digitalen Umfeld spielen soll. Ein solches Projekt erfordert nicht unerheblich Aufwand hinsichtlich Zeit und Kosten. Kein Stein bleibt auf dem anderen, und was die Datenkonsistenz und -qualität angeht, ist viel Kärrnerarbeit zu leisten. Manager wie Controller sind gefordert. Den Aufwand eines solchen Projekts kann man in seiner Größenordnung abschätzen, aber nicht genau berechnen. Aber das ist für strategische Projekte generell nichts Besonderes.

Herr Prof. Dr. Weber, herzlichen Dank für dieses aufschlussreiche Interview.

Das Interview ist eine Vorabveröffentlichung aus der September-Ausgabe des Controller Magazins.

Literatur-Tipp:
Zukunftsfähige Kostenrechnung in der Unternehmenssteuerung
Autor: Prof. Dr. Jürgen Weber

Die Veränderungen des Wettbewerbsumfelds („VUCA-Welt“) und insbesondere die Digitalisierung erfordern ein grundsätzliches Re-Design der Kostenrechnung. Der Autor gibt in diesem Buch konkrete Unterstützung bei der Neuausrichtung des bewährten Controllinginstruments. Anhand von fundierten Konzepten, Fallstudien und einem detaillierten Einblick in die Praxis erläutert er die unterschiedlichen Facetten und zeigt Ihnen Möglichkeiten, die Kostenrechnung in Ihrem Unternehmen zukunftsfähig auszurichten.

Bestell-Nr.:  E11210 | ISBN: 978-3-648-15525-7 | 1. Auflage 2021 | 300 Seiten | Preis: 69,95 EUR