Kaum Familienpflegezeit – auch ein Compliance-Problem?

Da war doch mal was. Ein neues Arbeitszeitmodell für Arbeitnehmer, die nahe Angehörige pflegen, die Ehepartner, Vater oder Mutter in den letzten Tagen und Wochen ihres Lebens begleiten wollen. Eine große Reform, nur von der praktischen Umsetzung hört man nichts.  

Seit 2008 existiert die Familienpflegezeit in einigen Unternehmen. Zum 1.1.2012 wurde sie in Gesetzesform gegossen. Mit der praktischen Umsetzung war es leider nicht so weit her. Die Familienministerin Manuela Schwesig wollte das ändern und hat mit großem Tamtam den Rechtsanspruch von Arbeitnehmern auf die Familienpflegezeit zum gesetzlich 1.1.2015 umgesetzt.

Die Familienpflegezeit sollte damit endgültig aus dem Dornröschenschlaf erwachen. Aber auch nach der Gesetzesreform zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf scheint in der deutschen Rechtswirklichkeit wenig angekommen zu sein.

Das Gesetz gewährt einen Katalog verschiedener Ansprüche

Nach der Gesetzesform haben Arbeitnehmer einen Rechtsanspruch auf Freistellung von ihren Arbeitsschichten, wenn sie nahe Familienangehörige pflegen. Im einzelnen besteht ein Anspruch auf:

  • Eine zehntägige Auszeit im Akutfall. Für den Lohnausfall kommt in diesem Fall die Pflegeversicherung des Pflegebedürftigen auf.
  • Bei dem zu erwartenden Tod eines Angehörigen, besteht ein Anspruch auf Freistellung von drei Monaten zur Begleitung der letzten Lebensphase des nahen Angehörigen.
  • Im Normalpflegefall hat der Arbeitnehmer einen Anspruch, über einen Zeitraum von sechs Monaten von der Arbeit freigestellt zu werden bei einer verringerten Arbeitszeit von mindestens 15 Stunden wöchentlich, § 2 Abs. 1 Satz 2 FPfZG. In diesem Fall hat der Arbeitnehmer einen Anspruch auf ein zinsloses Darlehen der BAFzA (Bundesamt für Familien- und zivile Angelegenheiten) in Höhe der Hälfte des entgangenen Nettogehalts.
  • Unter bestimmten Voraussetzungen können sich Freistellungsansprüche auf insgesamt bis zu 24 Monaten addieren.

Voraussetzung ist stets: Der Arbeitnehmer muss in einem Betrieb mit mehr als 25 Arbeitnehmern beschäftigt sein, § 2 Abs. 1 Satz 4 FPfZG und dem Arbeitgeber den Beginn der Familienpflegezeit i.d.R. spätestens acht Wochen vorher ankündigen, § 2a FPfZG.

Familienpflegezeit kommt in der Wirklichkeit immer noch nicht an

Die fehlende praktische Wirkung zeigt sich am besten an Zahlen: Im Bundeshaushalt 2015 war ein Betrag von 1,3 Millionen Euro für die Umsetzung der Reform, insbesondere im Hinblick auf die zu vergebenden zinslosen Darlehen bereitgestellt. Eine kleine Anfrage der Bundestag Fraktion der Grünen hat ergeben, dass im ersten Halbjahr 2015 nur ein Betrag in Höhe von ca. 146.000 Euro vergeben und zusätzlich ca. 135.000 Euro bewilligt wurden.

Diese vergleichweise niedrige Summe wird als Beleg dafür gewertet, dass die Umsetzung der Familienpflegezeit in der Praxis nicht in dem erwünschten Maße funktioniert.

Familienpflegezeit wird in vielen Unternehmen nicht gern gesehen

 Die Gründe für die fehlende Umsetzung dürften vielfältig sein. Zum Teil wird darauf verwiesen, dass die Familienpflegezeit in den Unternehmen wenig akzeptiert und nicht gern gesehen wird.

  • Angeblich schrecken Arbeitnehmer vor der Inanspruchnahme zurück, weil sie negative Auswirkungen auf ihr weiteres Verbleiben im Betrieb, insbesondere in Form von ausbleibenden Beförderungen befürchten.
  • Soweit dies zutreffen sollte, wäre dies als Mangel der Compliance der Unternehmen zu bewerten. T
  • atsächlich wird die Familienpflegezeit in den Compliance-Regeln vieler Unternehmen stiefmütterlich behandelt. 

Telekom als Vorreiter

Als Vorreiter bei der Familienpflegezeit hat sich die Telekom positioniert. Bereits in den Jahren bis 2012 wurde die Möglichkeit der Familienpflegezeit durch den damaligen Personalvorstand Thomas Sattelberger mächtig vorangetrieben.

  • Die Mitarbeiter des Unternehmens wurden ausführlich über die Möglichkeiten der Inanspruchnahme der Familienpflegezeit informiert.
  • Sattelberger sah es als wenig förderlich für die Arbeitsmoral der Mitarbeiter an, wenn diese - was in der Praxis nicht selten ist - neben ihrer Arbeitszeit eine nahen Familienangehörigen intensiv pflegen und hierdurch keinerlei Raum mehr für Freizeit bleibt.
  • Die Inanspruchnahme von Familienpflegezeit betrachtete der damalige Personalvorstand ein geeignetes Mittel der Mitarbeitermotivation und auch der Vermeidung von Kranken- und Fehlzeiten überforderter Mitarbeiter.

Die Präsenzkultur hat ausgedient

Nach Sattelberger hatte die Präsenzkultur der ständigen Erreichbarkeit und Verfügbarkeit ausgedient. Er predigte eine Kultur der gegenseitigen Verantwortlichkeit und einer daraus erwachsenden besseren Leistungsbereitschaft sämtlicher Beteiligten. Sattelberger weitete in diesem Zusammenhang die Arbeitszeitflexibilität deutlich aus, unter anderem durch

  • eine ausführliche Beratung der Mitarbeiter über die Möglichkeiten der Familienpflegezeit,
  • durch Schaffung erweiterter Optionen für Heimarbeit,
  • erweiterte Möglichkeiten der Teilzeitarbeit sowie
  • die Schaffung neuer Freiräume für die Gewährung von Auszeiten (Sabbaticals).

In vielen Unternehmen besteht noch Nachholbedarf

Vor diesem Hintergrund würde es auch anderen Unternehmen gut anstehen, ihre Mitarbeiter über die Möglichkeiten der Familienpflegezeit besser zu informieren.

  • Das Informationsdefizit bei viele Arbeitnehmer ist hier noch groß und dürfte ein wesentlicher Grund für die mangelnde Inanspruchnahme sein.
  • Allerdings ist nicht zu verkennen, dass insbesondere bei kleineren Unternehmen, die wenig mehr als 15 Mitarbeiter beschäftigen, die Bereitschaft zu einer großzügigen Gewährung von Familienpflegezeit eher niedrig sein dürfte.

Die mangelnde Inanspruchnahme der Familienpflegezeit dürfte aber auch nicht nur auf Mängel in der Compliance in den Unternehmen zurückzuführen sein.

Die Inanspruchnahme der Familienpflegezeit ist auch nach der neuen Gesetzeslage immer noch mit erheblichen finanziellen Einbußen für die Betroffenen verbunden, die diese häufig nicht tragen können. Die mangelnde Inanspruchnahme besteht also nicht nur um ein Compliance-Problem, sondern auch ein Strukturproblem der gesetzlichen Konstruktion.


Vgl. auch:

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