Biodiversitätszertifikate: Wichtige Fragen und Hintergründe

In Amerika und Australien sind Biodiversitätszertifikate vergleichsweise verbreitet. In Deutschland beginnt dieser Handel gerade erst. Anbieter verkaufen zertifizierte Produkte, denen selbst erstellte Metriken zugrunde liegen. Warum es noch keine regulierten oder kontrollierten Alternativen gibt und was die Wissenschaft sagt.

Die Ziele sind ehrgeizig, doch der „Omnibus“ fährt zumindest formalverbal an der EU-Biodiversitätsstrategie vorbei. Aktuell gilt uneingeschränkt: Der Verlust biologischer Vielfalt soll bis 2030 gestoppt werden und die europäischen Ökosysteme müssen ab diesem Zeitpunkt auf den Weg der Erholung gebracht werden. Unter anderem sollen dazu bis 2030 mindestens drei Milliarden zusätzliche Bäume gepflanzt werden. Es ist folgerichtig, dass so eine Einzelmaßnahme explizit neben dem Ausbau von Schutzgebieten genannt wird, steht sie doch fast immer im Zentrum der Überlegungen zum Schutz der Biodiversität und der Unterlegung mit käuflichen Zertifikaten und Credits. 

Nicht zufällig, sondern genau auf Grundlage der Biodiversitätsstrategie gründeten Florian Geiser und David Schmider 2023 die Hula Technologies GmbH im Dunstkreis der Münchener Startup-Szene. Mit einem Überwachungstool, das Satelliteneinblicke, IoT-Sensoren und KI kombiniert, versprechen sie eine 360-Grad-Sicht auf die Natur und wollen damit die Grundlage für überprüfbare Zertifikate schaffen.

Freiwillig oder zur Kompensation?

Damit setzen die Unternehmer dort an, wo derzeit eine eklatante Leerstelle bei Biodiversitätszertifikaten klafft. Ähnlich wie CO₂-Zertifikate sollen sie finanzielle Anreize für Naturschutzprojekte schaffen. Sie basieren auf dem Prinzip, dass Unternehmen, die Ökosysteme etwa durch Bauprojekte oder Landwirtschaft beeinträchtigen, in Schutz- oder Wiederherstellungsmaßnahmen investieren. Dazu kauft ein Unternehmen biodiversity credits, die Naturschutzprojekte finanzieren, beispielsweise den Schutz von Feuchtgebieten oder eben die Wiederherstellung von Wäldern.

Auf dem Markt gibt es momentan zwei Hauptformen: Entweder müssen Firmen im Rahmen von Kompensationszertifikaten für ihre Eingriffe in die Natur zahlen oder sie investieren in freiwillige Zertifikate, etwa um ihre Nachhaltigkeitsbilanz zu verbessern oder ESG-Vorgaben zu erfüllen. Wesentlich ist, dass eine unabhängige Organisation den Erfolg der Maßnahmen überprüft und sicherstellt, dass die Zertifikate tatsächlich positive Effekte haben (können). Die EU plant zwar einheitliche Standards für Biodiversitätszertifikate im Rahmen der Taxonomie-Verordnung, noch gibt es diese aber nicht.

Mikrophone im Wald: Vögel und Biodiversität

Hier kommt Hula ins Spiel: Für ein Pilotprojekt, das über die Firma Planted vermarktet wurde, hat das Unternehmen eine Messmethodik für die Entwicklung der Biodiversität entwickelt und diese vor Ort in einem Buchenwaldstück im Sauerland geliefert. „Beim Wolfenstein-Projekt wurde von unserem Kunden Planted notariell für 25 Jahre eine bestimmte Nutzung beziehungsweise Nicht-Nutzung festgelegt", erklärt Niko Pallas, Business and Operations bei Hula. „Unser Part war nicht nur, die passende Metrik zu liefern, sondern auch die Sensoren vor Ort anzubringen", so Pallas. 

Hula: Mikrophone im Wald

Zwei Mikrophone sollen in den kommenden Jahren immer wieder Audiosnippets von der Geräuschkulisse im Waldstück aufzeichnen, eine KI die hörbaren Vogelarten auslesen und die Ergebnisse transparent und für alle einsehbar im Netz darstellen. „Wir haben uns deshalb auf Vögel beschränkt, weil wir glauben, dass ihr Vorkommen Rückschlüsse auf das gesamte Ökosystem und die dort vorhandene Biodiversität zulässt", erklärt Pallas weiter. 

Der Index, auf den sich das dahinter liegende System bezieht, sei keineswegs aus der Luft gegriffen, sondern stütze sich auf Fachpublikationen. Und ganz wichtig: Hula verkauft keine eigenen Zertifikate, sondern liefert die Credits für andere. Endkunden des Wolfenstein-Projekts seien derzeit übrigens Unternehmen, die aus Marketinggründen investierten.

Art, Genetik, Ökosystem: Die Berechnung der Biodiversität

Der Biodiversitäts-Forscher Prof. Dr. Joachim Matthias Glaubrecht, wissenschaftlicher Leiter des „Evolutioneum“ und der Abteilung Biodiversität der Tiere an der Universität Hamburg und zudem zuständig für das Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels (LIB) am Museum der Natur Hamburg, stellt an derartige Konstruktionen einige grundsätzlichere Fragen. „Biology is a dirty science", sagt Glaubrecht, „und zwar nicht in dem Sinne, dass wir dauernd in der Erde herumwühlen würden, sondern aufgrund dessen, dass es keine einfachen Formeln gibt." Das werde bereits hier deutlich: Es ist nämlich gar nicht so banal zu klären, was überhaupt eine Art ist. 

Biodiversität wirkt für den Wissenschaftler in drei Dimensionen: Art, Genetik und Ökosysteme. Das klingt noch vergleichsweise beherrschbar und beschreibbar – doch im Detail ist es das keineswegs. Dass die Standardisierung alles andere als einfach ist, beweist auch ein Projekt, das aktuell an der Universität Oxford läuft: Dort arbeiten Forschende mittels einer Datenbank mit 573 Metriken, Indikatoren, Indizes und Ebenen, die sich auf Aspekte der genetischen Vielfalt, Arten und Ökosysteme beziehen. 

Aus dieser gigantischen Fülle kristallisieren die Forschenden eine kleine Anzahl von Indikatoren heraus, die sie für die „Entscheidungsfindung von Regierungen und Unternehmen als besonders geeignet ansehen", wie es auf der Projektseite heißt. Auch wie es weitergehen könnte oder müsste, beschreibt das Projekt: Steigerung der Bedeutung nationaler Metriken, Gewährleistung einer breiteren Akzeptanz von Unternehmensmetriken, Vereinbarung eines Mindestsatzes von Metriken für Regierungen und Unternehmen, Automatisierung der Metrikberechnung durch den Einsatz von Technologie und nachhaltige Finanzierung der Metrikproduktion.

Ist die Reportingpflicht zu Biodiversität problematisch?

„35 Dollar in ein Aufforstungsprojekt zu investieren und dann breit darüber zu berichten – das kann daher allenfalls der Anfang sein", sagt Glaubrecht. Die Entwicklung hin zu Biodiversitätszertifikaten sieht er dennoch positiv, nicht zuletzt deshalb, weil dadurch Mittel für ein Feld generiert werden, die die öffentliche Hand bislang nicht bereitgestellt hat. Der Ärger ist ihm deutlich anzumerken, wenn er über die Milliarden spricht, die bereits in „Mond- und Marsabenteuer" geflossen seien und weiterhin flössen, obwohl so viele Probleme auf der Erde sichtbar werden. „Meine Hoffnung liegt dennoch derzeit eher auf Unternehmen, denn auf Regierungen."

Die Pflicht zum Reporting im Hinblick auf Biodiversität hält er aber aus zwei Gründen für allgemein problematisch. „Sie können nicht die Firmen verpflichten, das zu machen, was die Staaten seit Jahrzehnten nicht schaffen", so Glaubrecht, „außerdem verändert der Mensch nicht erst seit 50 oder 500 Jahren die Erdoberfläche, sondern seit 5.000. Was ist also der Ursprungszustand, von dem aus sich beschreiben lässt, wie ein Ökosystem verändert wurde? Durch welche wirtschaftliche Tätigkeit? Von wem? Ab wann? Und was ist auf dieser Grundlage überhaupt ein Zielzustand?"

Vier-Augen-Prinzip und detaillierte Infos

Die CSOs stehen laut Glaubrecht mehrheitlich vor der Frage: „Machen wir das jetzt mal ehrlich oder machen wir das möglichst einfach?" Während letzteres schnell dem mittelalterlichen Ablasshandel ähnele, gäbe es für die Biodiversity Currency keine einfachen Lösungen. „Wer solche verkauft, ist unseriös", so die simpel klingende Kategorisierung Glaubrechts. „Der Markt ist derzeit völlig unreguliert, ohne Leitplanken, so dass klar ist, dass wieder Missbrauch entstehen wird, wie wir es ja bei den Carbonzertifikaten anfangs auch gesehen haben", so Glaubrecht.

Unternehmen, die ernsthaft in das Thema Biodiversität einsteigen wollen, empfiehlt er zunächst mit einer fundierten Analyse zu starten. Am Anfang stehe die Frage: „Wollen wir ernsthaft etwas machen und nicht nur, weil wir etwas erklären müssen?" Bei der Auswahl eines Produkts gelte das Vier-Augen-Prinzip, auf das auch Pallas hinweist: Kein Creditverkäufer darf sich selbst zertifiziert haben, das Audit muss unabhängig vom Verkäufer sein. 

Prof. Dr. Glaubrecht

Der zweite wichtige Punkt seien detaillierte Informationen zu den jeweiligen Projekten. Welche Flächen wurden erworben? Was war zuvor auf diesen? Wie wird tatsächlich aufgeforstet? Pappeln etwa wären kontraproduktiv, da diese dem Ökosystem zu viel Wasser entziehen. „Wenn Ihnen Ihr Anbieter auf die Frage, was eine Art überhaupt ist, keine Antwort geben kann, sollten Sie skeptisch sein", so Glaubrecht. Möglicherweise lässt sich eine Fläche nicht nur auf Fotos betrachten, sondern auch besichtigen.

Biodiversität nicht zwingend lokal

Biodiversitätsprojekte müssen jedoch nicht immer zwangsläufig lokal sein, wenngleich das stets als wichtigste Differenzierung im Vergleich zu den Carboncredits angeführt wird. Natürlich ist Biodiversität für sich immer nur lokal vorhanden, aber es sei laut Glaubrecht sinnvoll möglich, nach der Fällung eines Fichtenwaldes in Finnland, im Amazonasgebiet zu investieren, da man dort aufgrund der viel größeren Artenvielfalt auch einen viel größeren Nutzen erwarten könnte.

Auch eine Blühwiese anzulegen, ist nicht immer ein nachhaltiger Weg zu mehr Diversität. „Das ist nur dann sinnvoll, wenn Sie diese für einen ziemlich langen Zeitraum auch so belassen und nicht nach zwei Jahren wieder unterpflügen, wenn sie alles angelockt haben und die Engerlinge im Boden liegen", so Glaubrecht. Das sei dann regelrechte Fallenstellerei und reduziere am Ende die Biodiversität auf dieser Fläche. Vor allem müsse immer klar sein – und das betont unternehmensseitig besonders Niko Pallas von Hula: Alle zertifizierten Produkte müssen dauerhaft, messbar und zusätzlich zum Status Quo wirken.


Schlagworte zum Thema:  Biodiversität , Umweltschutz , Unternehmen
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