Gendergerechte Arbeitswelt

Frauen und gender-unterrepräsentierte Gruppen werden in Unternehmen – aller Aktionstage zum Trotz – noch immer benachteiligt. Das ist auch ein Handlungsfeld für Nachhaltigkeitsverantwortliche. In diesem Artikel zeigt Rea Eldem, was eine gendergerechte Arbeitskultur ausmacht und wieso wir alle davon profitieren können.

Im März gibt es ganz schön viele Aktionstage für nur einem Monat: der internationale Frauentag, Equal Pay Day, Trans* Day of Visibility und und und. Mit ihnen gab es viel Aufmerksamkeit auf „Genderthemen“ und auf Missstände, die unverhältnismäßig oft Frauen und gender-unterrepräsentierte Gruppen betreffen. Beispiele für die Benachteiligung von Frauen und gender-unterrepräsentierte Gruppen lassen sich viele finden, egal ob man den Blick in Richtung Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft richtet.

Gleichberechtigung allein führt nicht zu Gleichstellung

In all diesen Sphären haben Frauen zwar formal die gleichen Möglichkeiten, können also rechtlich und damit theoretisch dieselben Positionen bekleiden, wie Männer. Faktisch allerdings ist die Geschlechterverteilung in unterschiedlichen Positionen nicht gleich und somit die Verteilung der Macht, die damit einhergeht, nicht gerecht. Dieser Unterschied zwischen Gleichberechtigung (formale Rechte) und Gleichstellung (gleiche Stellung) ist hilfreich für eine nuancierte Analyse der Situation und für Ansatzpunkte, sie zu verändern. 

Während wir heute, dank jahrhundertelanger politischer Kämpfe, auf ein System blicken, das Frauen bei der Erwerbsarbeit zumindest formal die gleichen Rechte wie Männern einräumt, sind wir von Gleichstellung weit entfernt. So weit entfernt, dass einige argumentieren würden, Frauen wollen diese gar nicht. Sie führen die hartnäckige Unterrepräsentation von Frauen in Machtpositionen auf natürliche Gegebenheiten zurück. Das Streben nach Gleichstellung, sei entsprechend dieser Logik, obsolet – oder gar ein zwanghafter Prozess, der versuche, Menschen neue Rollen aufzuzwingen. Das ginge auf Kosten der Freiheit, sich so zu entfalten und so zu leben, wie man wolle, so die Befürchtung.

Das Gegenteil ist der Fall: Das Streben nach Gleichstellung, als Vision, als Utopie, ist das Streben nach mehr Freiheit, für alle. Dies entsteht nicht automatisch, sondern bedarf einer Veränderung des Status Quo. Dabei geht es in erster Linie darum, allen zu ermöglichen, ihr Potenzial voll auszuschöpfen – und zwar nicht nur theoretisch, sondern auch tatsächlich. Diese Vision ermutigt uns, ungemütliche Fragen zu stellen und eine Analyse der Organisationskultur zu wagen. Wer die eigene Unternehmenskultur einer solchen Analyse unterzieht, versucht Ängste und Befürchtungen zu verstehen und Erfahrungen nachzuvollziehen, die führen dazu, dass Menschen in dem Rahmenwerk, das wir Arbeitswelt nennen, Chef:innen werden – oder nicht.

Mehr über Diversity und Nachhaltigkeit als HR-Job erfahren Sie in unserem Podcast:

Alle müssen in die Verantwortung gehen, nicht nur Betroffene

Dieser Ansatz lenkt den Blick weg vom Individuum, von der Frau, hin zu den Strukturen. Und nimmt damit alle in die Verantwortung. Das ist wichtig, denn nur so kann das Thema Gendergerechtigkeit als Organisationsentwicklungsthema gerahmt werden – im Gegensatz zum „Frauenthema“. Lange wurde dies versäumt und es gab keine wirtschaftliche Debatte über sozio-kulturelle Faktoren, die Karrierewege von Frauen beeinflussen. Wir erleben in unseren, auf Freiwilligkeit beruhenden, Workshops und Vorträgen leider selten Männer als Teilnehmer. Das spiegelt eine Haltung wider, in der viele vor allem Frauen im Zugzwang sehen: Sie sollen etwas an ihrer Situation oder gar an sich selbst ändern, um besser ins System zu passen. Dabei ist es das System, das anzupassen ist.

Frauen fühlen sich betroffen und gleichsam verantwortlich dafür, Veränderung herbeizuführen. Das ist ein frustrierendes Unterfangen, denn um eine Arbeitskultur zu verändern, bedarf es unbedingt alle und nicht nur diejenigen, die sich nicht „betroffen“ fühlen. Wir leben in einer Gesellschaft, die historisch so gewachsen ist, dass Macht von Männern geprägt, kontrolliert und repräsentiert wird - und das spiegelt sich in der Ausgestaltung unserer sozialen Beziehungen, Werte, Normen und Verhaltensmuster wider.

Eine gendergerechte Arbeitskultur entsteht in einer Arbeitswelt, die die Bedürfnisse von Frauen und gender-marginalisierten Gruppen mitdenkt

Für diese Entwicklung können Männer heutzutage wenig. Allerdings profitieren sie in der Sphäre Arbeit davon, wenn auch ohne dass sie sich das ausgesucht haben. An anderen Stellen wiederum entstehen auch für sie Erwartungen, die ihre Freiheit einschränken und sich negativ auswirken. Das Ziel von Menschen wie mir und meiner Arbeit ist es, Teams dabei zu unterstützen darüber zu reflektieren, was das im Arbeitskontext bedeutet. Und somit dazu beizutragen, eine Arbeitskultur zu bauen, die für alle funktionieren kann. Das nennen wir gendergerechte Arbeitskultur.

In einer solchen Kultur geht es darum, die Bedürfnisse jener zu verstehen, die lange nicht mitgedacht wurden, um möglichen Stellschrauben im Unternehmen zu drehen, um sich diesen besser anzupassen. Das erfordert Arbeit und Geduld. Es bedarf einer umfassenden Analyse des Status Quo, ein Anerkennen möglicher Missstände, Defizite oder Potenzialfelder.

Der Weg hin zu Gendergerechtigkeit beginnt damit, Ungerechtigkeit anzuerkennen

Im Kontrast dazu wirken punktuelle Maßnahmen wie eine reizvolle Alternative. Wer allerdings einfach so drauf losprescht, läuft Gefahr, an den Problemen vorbeizugestalten oder sie gar zu verschieben. Vielmehr ist der Dreh- und Angelpunkt einer gendergerechten Kultur auch die Anerkennung dessen, dass Personen nicht einfach in einer Rolle „landen“.

Eine gendergerechte Arbeitskultur sieht in Gendergerechtigkeit eine Chance, sich als Organisation, als Team und als Individuum so neuzugestalten, dass Hürden pro-aktiv abgebaut werden. Das Wissen aus der Forschung wird herbeigezogen und ernst genommen, etwa die Tendenz, dass Frauen in Meetings mehr unterbrochen oder bei gleicher Leistung als weniger kompetent empfunden werden. Damit wird Gendergerechtigkeit, entlang anderer „Diversity-Themen“ weniger eine abzuarbeitende To-Do Liste, die der Personalabteilung überreicht wird - und mehr zu einer Frage der Arbeitspraxis, die alle gemeinsam tagtäglich mitgestalten. Nichtsdestotrotz können - und sollten - Nachhaltigkeitsverantwortliche Gendergerechtigkeit im Sinne der sozialen Nachhaltigkeit im Unternehmen fördern.

Gendergerechtigkeit als strategische Priorität für nachhaltigen Erfolg

Die Etablierung einer solchen Arbeitspraxis ist eine Frage der Haltung. Diese Haltung ist von Neugierde geprägt. Die Neugierde, das eigene Unternehmen durch eine neue Brille zu durchleuchten. Jede Person kann hier ihren:seinen Beitrag leisten und sich selbst, im Team und in der Abteilung fragen: Wie ist unser Modus operandi, aus einer Gender-Perspektive? Wer ist in diesem Raum, wer nicht? Wer kommt zum Zug, wer nicht? Und: warum, warum, warum?

Darüber hinaus bedarf es einer Strategie, sowie Tools, die Menschen dabei unterstützen, diese reflexive Haltung im Alltag in konkrete Handlungen zu manifestieren. Das Management, aber auch Nachhaltigkeitsverantwortliche und andere Changemaker:innen haben die Verantwortung, hier klare Vorgaben zu setzen. Sie müssen festlegen, wo die Organisation hinwill. Wenn dieses Ziel klar abgesteckt ist und Verantwortlichkeiten verteilt sind, können Maßnahmen, verabschiedet werden, die einen Bewusstseinswandel unterstützen und Mitarbeiter:innen Zugänge verschaffen.

Es gilt niedrigschwellige Angebote zu Gendergerechtigkeit am Arbeitsplatz bereit zu stellen. Diese dürfen auch unangenehme Themen wie Sexismus nicht ausklammern, deren Auswirkungen in jedem Arbeitskontext eine Rolle spielen. Auch unterschwellige und sehr subtile Diskriminierungserfahrungen führen zu Unsicherheiten und beeinflussen die Unternehmenskultur negativ.

Manager:innen müssen Zeit einräumen und Hilfsmittel bereitstellen

Glücklicherweise haben New-Work-Ansätze in der jungen Vergangenheit vielerorts Auseinandersetzung mit der eigenen Team- und Organisationskultur normalisiert. Methoden wie Team-Reflexionen, Check-Ins und Retros helfen dabei, über Bedürfnisse im Team zu sprechen. Sie sollten regelmäßig durchgeführt werden um eine neue Ebene der Arbeit, jenseits des inhaltlichen, zu eröffnen. Auch strukturell verankerte Feedback-Sessions normalisieren einen konstruktiven Austausch darüber, was besser laufen könnte.

Auf dieser Ebene wird klar: Die derzeitige Teamkultur, die Art, wie wir arbeiten, funktioniert nicht für alle gleich gut. Jedenfalls nicht immer. Trennlinien sind längst nicht nur Gender, auch andere Diversitätsdimensionen spielen hier mit rein. Introvertierte Personen fühlen sich gegebenenfalls in einem Team unwohl, in dem alle extrovertiert sind und die implizite Regel „man muss sich halt durchsetzen“ herrscht. Und Eltern kommen in Stress, wenn die Mehrheit im Team Termine nach 17.00 Uhr bevorzugen. Eine gendergerechte Kultur fördert einen achtsamen Umgang und normalisiert den Austausch über Bedürfnisse, ohne die Verantwortung, diesen zu initiieren bei denjenigen zu suchen, deren Leidensdruck am höchsten ist. Das kommt nicht nur Frauen zugute, sondern allen.