Dreimonatige Sperrfrist und Fiktionswirkung bei EU-Ausländern

Ein Staatsangehöriger eines anderen EU-Mitglieds oder eines Staates, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, der im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt begründet, hat für die ersten drei Monate ab Begründung des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts grundsätzlich keinen Anspruch auf Kindergeld.

Dies regelt § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG. Dies gilt nach Satz 2 dieser Vorschrift nicht, wenn er nachweist, dass er inländische Einkünfte im Sinne des § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 EStG mit Ausnahme von Einkünften nach § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG erzielt.

Beispiel: Vater A wohnt und arbeitet nichtselbstständig schon seit 2019 in Deutschland. Seine Ehefrau B (Hausfrau) wohnte bisher mit dem 3 Jahre alten Sohn in Polen und hat Ihren Wohnsitz erst seit September 2020 bei ihrem Mann in Deutschland. B beantragt ab September 2020 Kindergeld. A erklärte sich mit der Auszahlung an B einverstanden. Die Familienkasse möchte aber erst ab Dezember 2020 festsetzen.

Wohnsitzfunktion nach der BFH-Rechtsprechung

Für Kinder i. S. des § 63 EStG hat Anspruch auf Kindergeld, wer im Inland einen Wohnsitz oder einen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (§ 62 Abs. 1 EStG). Der Anspruch auf Kindergeld besteht auch dann, wenn das Kind seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union hat (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 3 EStG). Hier sind die Anspruchsvoraussetzungen vor September 2020 ausschließlich bei A erfüllt, weil B in Polen lebte und in Deutschland weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt hatte.

Nach einer Entscheidung des BFH (Urteil v. 4.2.2016, III R 17/13, Anschluss an EuGH) ist B dennoch vorrangig anspruchsberechtigt. Hierfür sorgt Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der ab dem 1.5.2010 geltenden VO Nr. 987/2009, wonach die Situation der gesamten Familie in der Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle Beteiligten Personen unter die Rechtsordnung des Mitgliedsstaates fallen und dort wohnen (Wohnsitzfunktion). Zu den "beteiligten Personen" gehören die Familienangehörigen, das sind neben den Eltern alle Personen, die nach nationalem Recht berechtigt sind, Anspruch auf Familienleistungen zu erheben.

B hatte zwar vor September 2020 keinen Wohnsitz im Inland. Ein solcher war aber unionsrechtlich nach Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i. V. m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 zu fingieren. Nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 ist für den Kindesvater als polnischer Staatsgenhörigen der persönliche Anwendungsbereich eröffnet. Der sachliche Anwendungsbereich ist nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet. Der Kindesvater unterlag nach Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 aufgrund der Tätigkeit im Inland den deutschen Rechtsvorschriften. Nach Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Aufgrund der Wohnsitzfiktion gilt B somit schon seit 2019 als in Deutschland lebend.

Wie ist § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG auszulegen?

In Bezug auf diese Rechtsprechung geht das FG Münster davon aus (Urteil v. 10.12.2020, 8 K 2975/20 Kg), dass § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG so auszulegen ist, dass die Vorschrift einem Anspruch auf Kindergeld jedenfalls dann nicht entgegensteht, wenn bereits vor der Begründung eines (tatsächlichen) Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts im Inland ein Anspruch auf (deutsches) Kindergeld bestand.

Der Wortlaut der Vorschrift sei mit Blick auf die hier vorliegende Konstellation zwar nicht eindeutig; nach systematischer Auslegung sei aber davon auszugehen, dass sie nicht unter § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG fällt. Die Vorschrift sei eine Einschränkung zu § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG, wonach kindergeldberechtigt ist, wer im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. § 62 Abs. 1 EStG erfasse aber nicht diejenigen Kindergeldberechtigten, deren Inlandswohnsitz nach Art. 67 Satz 1 VO Nr. 883/2004 i. V. m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 VO Nr. 987/2009 fingiert wird. Dies spricht nach Auffassung des FG dafür, dass auch § 62 Abs. 1a EStG als Einschränkung zu § 62 Abs. 1 EStG diesbezüglich keine Regelung enthält. Es entspreche auch nicht dem Sinn und Zweck der Vorschrift, den Kindergeldanspruch für solche Zugezogenen auszuschließen, die ohnehin schon als fiktiv Inlandsansässige einen Kindergeldanspruch hatten.

Kein Revisionsverfahren

Die Revision wurde zwar zugelassen, aber . soweit ersichtlich - nicht eingelegt. In vergleichbaren Fällen kann daher auf die rechtskräftige Entscheidung des FG Münster verwiesen werden.  


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