Vorrangiger Kindergeldanspruch eines Elternteils im EU-Ausland

Der Kindergeldanspruch des in Deutschland wohnhaften Elternteils für sein in Spanien im Haushalt des anderen Elternteils lebendes Kind wird durch den vorrangigen Kindergeldanspruch des in Spanien lebenden Elternteils verdrängt.

Hintergrund

Der Vater (V) lebt in Deutschland und ist hier nichtselbständig tätig. Seine beiden Kinder leben bei ihrer Mutter (M) in Spanien. M ist in Spanien erwerbstätig. Ob sie dort einen Kindergeldanspruch geltend gemacht hat, steht nicht fest. Die Familienkasse lehnte den Antrag des V auf Differenzkindergeld ab, da M wegen der Haushaltsaufnahme der Kinder ein vorrangiger Kindergeldanspruch zustehe. Das FG gab der hiergegen gerichteten Klage des V mit der Begründung statt, der durch die Haushaltsaufnahme begründete Vorrang betreffe nur inländische Kindergeldansprüche.

Auf die von der Familienkasse erhobene Revision setzte der BFH das Revisionsverfahren bis zur Entscheidung über das Vorabentscheidungsersuchen des BFH an den EuGH in einem Parallelfall aus (Vorlagebeschluss v. 8.5.2014, III R 17/13, BStBl 2015 II S. 329). Einschlägig ist die unionsrechtliche Vereinheitlichung der nationalen Regelungen zur sozialen Sicherheit (Art. 60 der VO Nr. 987/2009; Geltung ab Mai 2010). Der EuGH entschied, die Wohnsitzfiktion könne dazu führen, dass der nach nationalem Recht gegebene Kindergeldanspruch auch einer in einem anderen EU-Mitgliedstaat wohnenden Person zustehen kann. Unerheblich ist, ob diese Person einen Antrag auf Familienleistungen gestellt hat (EuGH, Urteil v. 22.10.2015, C-378/14 (Trapkowski), BFH/NV 2015 S. 1789).

Entscheidung

Nach Ergehen des EuGH-Urteils konnte der BFH über die Revision entscheiden. Entsprechend der Vorgaben des EuGH widerspricht der BFH dem FG. Das FG-Urteil wurde aufgehoben und die Klage abgewiesen. V ist zwar nach nationalem Recht (§ 62 ff. EStG) anspruchsberechtigt. M steht jedoch wegen der Haushaltsaufnahme (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG) ein vorrangiger Kindergeldanspruch zu.

  • Nach Unionsrecht ist die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen (Wohnsitzfiktion; Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009).
  • Zu den "beteiligten Personen" zählen die "Familienangehörigen", also - ungeachtet des Getrenntlebens - auch M als Ehefrau. Aufgrund der Wohnsitzfiktion gilt M als in Deutschland lebend.
  • Damit steht M der Kindergeldanspruch zu, da nach deutschem Recht die Haushaltsaufnahme über den Vorrang entscheidet (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG). M und V unterhielten keinen gemeinsamen Haushalt. Ein solcher kann sich auch nicht aus der Fiktionswirkung ergeben.
  • Unerheblich ist, ob M selbst einen Kindergeldantrag in Deutschland gestellt hat. Nach der Entscheidung des EuGH führt eine unterbliebene Antragstellung des im Ausland lebenden Anspruchsberechtigten nicht dazu, dass die Anspruchsberechtigung wieder auf den im Inland lebenden Elternteil zurückfällt. Ein von diesem gestellter Antrag kann jedoch als zugunsten des im EU-Ausland lebenden Berechtigten gestellt angesehen werden.

Hinweis

Der BFH setzt damit im Anschluss an das EUGH-Urteil "Trapkowski" seine Rechtsprechung fort, die er in zwei Parallelfällen eingeleitet hat (BFH, Urteile v. 4.2.2016, III R 17/13, BStBl 2016 II S. 612 und v. 10.3.2016, III R 62/12, BStBl 2016 II S. 616). Die Wohnsitzfiktion führt zur vorrangigen Anspruchsberechtigung des im EU-Ausland lebenden Angehörigen (Elternteil, Großmutter), in dessen Haushalt das Kind lebt. Abweichend hiervon hatten die FG bisher überwiegend vertreten, die Fiktionswirkung könne nicht so weit gehen, demjenigen Elternteil das Kindergeld zu zahlen, der nach den nationalen Vorschriften berechtigt sei, auch wenn er nicht den deutschen Rechtsvorschriften unterliege.

BFH, Urteil v. 28.4.2016, III R 68/13, veröffentlicht am 17.8.2016

Alle am 17.8.2016 veröffentlichten Entscheidungen des BFH

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