EuGH-Vorlage zu etwaiger Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit
Hintergrund: Gesetzliche Regelungen
- § 43 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Satz 3 EStG i. V. m. § 31 Abs. 1 Satz 1 KStG sehen vor, dass bei Dividenden i. S. des § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG die Körperschaftsteuer durch den Abzug vom Kapitalertrag (Kapitalertragsteuer) erhoben wird. Nach § 43 Abs. 1 Satz 3 EStG ist der Steuereinbehalt ungeachtet der 95 % Steuerbefreiung für Dividenden gemäß § 8b Abs. 1 KStG von der Bruttodividende vorzunehmen. Maßgeblicher Zeitpunkt für den Einbehalt der Steuer ist nach § 44 Abs. 1 Satz 1 bis 3 EStG jeweils der Zuflusszeitpunkt der Kapitalerträge mit Fassung des zugrunde liegenden Gewinnverteilungsbeschlusses. Die Höhe der Kapitalertragsteuer richtet sich für die Dividenden einheitlich nach § 43a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG und beträgt 25 % des jeweiligen Dividendenbetrags.
- Nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 KStG wird die Körperschaftsteuerschuld für Einkünfte einer beschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Gesellschaft aus inländischen Dividenden im Sinne des § 49 Abs. 1 Nr. 5 Buchst. a Doppelbuchst. aa i. V. m. § 20 Abs. 1 Nr. 1 EStG durch den Einbehalt der Kapitalertragsteuer abgegolten. Beschränkt steuerpflichtigen Gesellschaften steht – anders als unbeschränkt steuerpflichtigen Kapitalgesellschaften – die Möglichkeit der Veranlagung und Anrechnung der Kapitalertragsteuer auf die deutsche Körperschaftsteuer nach § 36 Abs. 2 Nr. 2 EStG sowie deren Erstattung nach § 36 Abs. 4 EStG i. V. m. § 31 Abs. 1 Satz 1 KStG nicht offen. Eine Kapitalgesellschaft mit Sitz in einem Drittstaat kann auch nicht die Erstattung der deutschen Kapitalertragsteuer nach Maßgabe des Erstattungsverfahrens in § 50d Abs. 1 Satz 2 EStG verlangen, das Gesellschaften offen steht, die in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraums ansässig und zu mindestens 25 % an einer inländischen GmbH beteiligt sind.
- Liegt der in Höhe des anwendbaren DBA zulässige Satz für die Erhebung deutscher Kapitalertragsteuer auf die Dividende unter dem generellen Steuersatz für die einzubehaltende Kapitalertragsteuer (25 %), ist einer Drittstaaten-Kapitalgesellschaft die Differenz auf Antrag im Rahmen des Verfahrens nach § 50d Abs. 1 Satz 2 EStG zu erstatten oder nach vorheriger Erteilung einer Teilfreistellungsbescheinigung die Kapitalertragsteuer von vornherein nur in Höhe des zulässigen DBA-Satzes zu erheben.
Rechtsfragen
Kann sich eine in einem Drittstaat ansässige Kapitalgesellschaft für einen unionsrechtlichen Anspruch auf Erstattung von Kapitalertragsteuer in analoger Anwendung des § 50d Abs. 1 Satz 2 EStG nicht auf eine Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit berufen, wenn ihre Beteiligung an ihrer Tochtergesellschaft ihr einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen der Tochtergesellschaft gewährt? Ist in einem solchen Fall die Niederlassungsfreiheit vorrangig?
Sachverhalt: Japanische Muttergesellschaft verlangt Erstattung von Kapitalertragsteuer
- Die Klägerin, eine japanische Kapitalgesellschaft, bezog in den Streitjahren 2009 bis 2011 Dividenden von einer deutschen Kapitalgesellschaft, deren alleinige Anteilseignerin sie war. Entsprechend den Vorgaben des Doppelbesteuerungsabkommens (Art. 10 Abs. 2 DBA Japan 1966 – DBA) wurde von den Dividenden jeweils 15 % Kapitalertragsteuer einbehalten. Dieser Steuerabzug hatte abgeltende Wirkung.
- Aufgrund einer Änderung des japanischen Rechts wurde der Klägerin ab dem 1.4.2009 eine Steuerbefreiung i. H. v. 95 % des Dividendenbetrags gewährt. Die bis dahin nach Art. 23 Abs. 2 DBA mögliche vollständige Anrechnung der deutschen Kapitalertragsteuer auf die japanische Körperschaftsteuer ging damit weitgehend ins Leere.
- Da es bei der Körperschaftsteuerveranlagung deutscher Mutterkapitalgesellschaften, die Dividenden von deutschen Tochterkapitalgesellschaften beziehen, zur Anrechnung und ggf. Erstattung der Kapitalertragsteuer kommt, sieht sich die Klägerin durch den abgeltenden Kapitalertragsteuerabzug in ihrer Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verletzt. Die einbehaltene Kapitalertragsteuer sei ihr antragsgemäß zu erstatten.
- Den Antrag lehnte das FA durch Bescheid vom 7.2.2018 ab. Eine Erstattung nach § 43b EStG oder § 32 Abs. 5 KStG in der in den Jahren 2009 bis 2011 geltenden Fassung scheide aufgrund der Ansässigkeit der Klägerin in einem Drittstaat aus. Ein Verstoß gegen höherrangiges EU-Recht liege nicht vor. Das dagegen gerichtete Einspruchsverfahren blieb erfolglos.
FG bestätigt Auffassung des FA
Das FG hat entschieden, dass die Ablehnung des beantragten Erlasses von Freistellungsbescheiden und der Erstattung der einbehaltenen Kapitalertragsteuer durch den Bescheid vom 7.2.2018 und die nachfolgende Einspruchsentscheidung rechtmäßig sind und die Klägerin nicht in ihren Rechten verletzen. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Erstattung der Kapitalertragsteuer zu.
Entscheidung: Mehrere Rechtsfragen unionsrechtlich zweifelhaft
Der BFH bestätigt zunächst, dass die in Höhe von 15 % auf die Bruttodividende erhobene Kapitalertragsteuer der nach nationalem Recht und Art. 10 Abs. 2 DBA geschuldeten Körperschaftsteuerschuld der Klägerin entspricht. Sie hat keinen Anspruch auf Erteilung eines Freistellungsbescheids zur Erstattung der Kapitalertragsteuer.
Der Senat hätte das klageabweisende Urteil des FG zu bestätigen.
Der Senat kann über die Revision allerdings nicht abschließend entscheiden. Es bestehen Zweifel, ob die abgeltende (definitive) Erhebung der Kapitalertragsteuer auf die Dividenden der Streitjahre in Höhe von jeweils 15 % mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
Dem EuGH zur Entscheidung vorgelegte unionsrechtliche Fragen
- Die erste Vorlagefrage des Senats zielt darauf ab, ob die Kapitalverkehrsfreiheit nach Art. 63 AEUV als Prüfungsmaßstab im Streitfall überhaupt eröffnet ist. Zweifelhaft ist, ob die Kapitalverkehrsfreiheit durch die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV nach den in der Rechtsprechung des EuGH bislang herausgearbeiteten Abgrenzungskriterien verdrängt wird. Auf die Niederlassungsfreiheit kann sich die Klägerin als Drittstaaten-Kapitalgesellschaft nicht stützen.
- Ist eine Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit zu Lasten der Klägerin an-zunehmen, ist der Senat der Auffassung, dass der Einbehalt der abgeltenden (definitiven) deutschen Kapitalertragsteuer mit der Aufteilung der Besteuerungsrechte zwischen Deutschland und Japan nach Maßgabe des Art. 10 Abs. 2 DBA gerechtfertigt ist. Er hat angesichts der bisherigen Rechtsprechung des EuGH zu Dividendenausschüttungen zwischen den Gesellschaften zweier Mitgliedstaaten aber Zweifel, ob diese Beurteilung mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Ferner stellt sich dem Senat die unionsrechtlich zweifelhafte Frage, ob der Einbehalt der abgeltenden (definitiven) deutschen Kapitalertragsteuer dadurch gerechtfertigt sein kann, dass der Klägerin wegen der schon in Anspruch genommenen japanischen Steuerbefreiung keine Doppelbegünstigung der Dividende zu gewähren ist.
- Sollte im Ergebnis eine unzulässige Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit durch die abgeltende Erhebung der deutschen Kapitalertragsteuer anzunehmen sein, stellt sich die Frage der Erstattungsmodalitäten. Aus Sicht des Senats ist Voraussetzung für eine Erstattung, dass die Klägerin den Betrag der in Japan nicht anrechenbaren deutschen Kapitalertragsteuer für die einzelnen Ausschüttungen konkret in Euro berechnet und das BZSt die Richtigkeit der Angaben im Wege des Informationsaustauschs mit den japanischen Steuerbehörden überprüfen kann. Hierin lägen aber höhere Anforderungen als eine gebietsansässige Mutterkapitalgesellschaft bei der Veranlagung zur Körperschaftsteuer zu erfüllen hätte, sodass in den beschriebenen Erstattungsvoraussetzungen eine eigenständige Beschränkung der Kapitalverkehrsfreiheit liegen könnte. Da die Erteilung des Freistellungsbescheids von den maßgeblichen Erstattungsvoraussetzungen und deren Erfüllung abhängt, ist auch diese Rechtsfrage entscheidungserheblich.
Hinweis: Ausblick auf mögliches Szenario
- Der Senat hält es für ermessensgerecht, das Verfahren ohne vorherige Durchführung einer mündlichen Verhandlung auszusetzen und dem EuGH die aufgeworfenen Fragen vorzulegen. Die Vereinbarkeit der nationalen Besteuerungsgrundlagen mit dem Unionsrecht und die Erstattung der Kapitalertragsteuer bilden die zentralen Gegenstände des bisherigen Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens. Zudem regt der BFH an, das Vorabentscheidungsersuchen der Großen Kammer des EuGH zur Entscheidung vorzulegen.
- Sollte der EuGH hinsichtlich aller aufgeworfenen Fragen anders als vom VIII. Senat vorgeschlagen entscheiden, wäre die Kapitalertragsteuer (wohl) ohne weitere Voraussetzung zu erstatten.
- Es würde sich dann – über den Streitfall hinaus – die Frage stellen, ob gegenüber Drittstaatengesellschaften überhaupt noch an einem nach Maßgabe des DBA oder des § 44 Abs. 9 EStG abgeltenden Kapitalertragsteuer-Einbehalt festgehalten werden kann, wenn die Kapitalertragsteuer bei gebietsansässigen veranlagten Mutterkapitalgesellschaften in der Veranlagung auf Grundlage der Freistellung der Freistellung der Dividende nach § 8 Abs. 1 und Abs. 5 KStG angerechnet und ggf. erstattet werden kann.
BFH, Beschluss v. 3.6.2025, VIII R 21/22, veröffentlicht am 7.8.2024
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