Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld II. Unterkunft und Heizung. Mietkautionsdarlehen. Tilgung durch Aufrechnung iHv 10 % des Regelbedarfs. Unzulässigkeit bei unangemessenem Aufrechnungszeitraum (hier: mehr als 20 Monate). verfassungskonforme Auslegung

 

Orientierungssatz

Die Kürzung des Regelbedarfs um 10 % gem § 42a Abs 2 S 1 SGB 2 über einen nicht nur vorübergehenden Zeitraum hinweg setzt den Empfänger eines Mietkautionsdarlehens nach § 22 Abs 6 SGB 2, der weder über Zusatzeinkommen noch zukunftsnahe Erwerbschancen verfügt, einer Situation aus, die das BVerfG bewogen hatte, einen Sonderbedarf als unabdingbare Zusatzleistung zum Regelbedarf vorzusehen (vgl BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09 ua = BVerfGE 125, 175 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12); es ist daher nicht verfassungsgemäß, einen Leistungsempfänger über 20 Monate hinweg auf ein Leistungsniveau zu drücken, das Ansparungen vom oder Ausgleiche im Regelbedarf ausschließt.

 

Tenor

1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 17.8.2011 gegen den Darlehens-Bescheid vom 5.8.2011 wird festgestellt

2. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab September 2011 die Leistungen nach dem SGB II ohne Einbehaltung von Tilgungsbeträgen für die Mietkaution auszuzahlen.

3. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die 1980 geb. Antragstellerin (Ast.) wird nach Auslaufen der Jugendhilfe (§ 19 SGB VIII) mit Maßnahmen nach §§ 67, 68 SGB XII unterstützt. Seit Juni 2011 bezieht sie Alg II. Für eine vom SGB XII-Hilfeträger vermittelte Wohnung war eine Kaution in Höhe von 840 € zu zahlen. Mangels eigener Leistungsfähigkeit gewährte das Jobcenter (der Antragsgegner - Ag.) der Ast. ein Kautionsdarlehen nach § 22 Abs. 6 SGB II, das direkt an den Vermieter überwiesen wurde.

Sowohl mit Darlehensvertrag vom 4.8.2011 als auch Bewilligungsbescheid vom 5.8.2011 verpflichtete der Ag. die Ast., das Darlehen ab September 2011 mit 10% des maßgebenden Regelbedarfs zu tilgen.

Am 17.8.2011 erhob die Ast. Widerspruch gegen den Bescheid vom 5.8.2011, mit dem sie geltend machte, eine Kürzung der laufenden Leistung über 23 Monate hinweg sei nicht rechtens.

Trotz Widerspruch zahlt der Ag. seit September 2011 nur eine um 10% gekürzte Leistung. Er beruft sich auf die getroffene Vereinbarung und den Kautions-Bescheid.

Gegen die Kürzung hat die Ast. am 14.9.2011 beim Sozialgericht Berlin um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Der Widerspruch gegen den Kautions-Bescheid habe aufschiebende Wirkung, das Alg II müsse daher ungekürzt ausgezahlt werden. Der Darlehensvertrag sei wegen Umgehung von § 42a Abs. 2 Satz 2 SGB II nichtig. Zumindest könne die darin erklärte Zustimmung zur Aufrechnung nach § 46 SGB I widerrufen werden, was konkludent mit dem Widerspruch gegen den Darlehensbescheid geschehen sei.

Der Ag. hat den Vorschlag des Gerichts, anstelle des Kautionsdarlehens eine Kautions-bürgschaft zu stellen, falls der Vermieter dem zustimmt, abgelehnt. Die Tilgung des Darlehens mit 10% des Regelbedarfs folge aus § 42a SGB II. Verfassungsrechtliche Bedenken bestünden hiergegen nicht.

II.

Einstweiliger Rechtsschutz gegen die im Kautionsbescheid vom 5.8.2011 erklärte Aufrechnung ist eigentlich schon mit dem Widerspruch gegeben. Denn die Aufrechnung ist nach § 42a Abs. 2 Satz 2 SGB II ein Verwaltungsakt, der nicht der Regelung des § 39 SGB II unterfällt, d. h. der Widerspruch hat aufschiebende Wirkung.

Da aber nicht klar ist, ob der Ag. die Leistung seit September 2011 wegen Missachtung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs kürzt oder sich dabei auf den Darlehensvertrag vom 4.8.2011 stützt, war entsprechend § 86b Abs. 1 SGG vorsorglich durch Beschluss festzustellen, dass der Widerspruch aufschiebende Wirkung hat.

Die Aufrechnung kann auch nicht auf den Darlehensvertrag vom 4.8.2011 gestützt werden. Denn sofern man dem Vertrag überhaupt eine eigenständige Bedeutung neben dem Kautionsbescheid beimisst, wird man die Tilgungsvereinbarung angesichts der seit 1.4.2011 geltenden Regelung des § 42a SGB II zwar nicht als unwirksam ansehen können, die Ast. hat sich jedoch kraft Widerruf gemäß § 46 SGB I von dieser Regelung gelöst. Sie hat damit einen Anordnungsanspruch gemäß § 86b Abs. 2 SGG auf ungekürztes Alg II glaubhaft gemacht.

Die Ast. war zu einem Widerruf berechtigt, weil ihr bei Würdigung der Gesamtumstände ein Darlehen als Zuschuss oder auf sonstige, den laufenden Regelbedarf unberührt lassende Weise hätte gewährt werden müssen. § 22 Abs. 6 SGB II (“soll als Darlehen erbracht werden„) lässt eine Abweichung vom Regelfall zu, die hier verfassungsrechtlich geboten ist (s. dazu auch Hölzer, info also 2011, S. 163). Denn nach den zum Vergabezeitpunkt des Darlehens überschaubaren Umständen war nicht erkennbar, dass die Ast. in einem angemessenen Zeitraum die Möglichkeit der Darlehensrückzahlung ohne Gefährdung ihres Existenzminimums haben wird. Seitdem haben sich keine Änderungen für diese Beurteilung ergeben.

Vor Inkrafttreten der ...

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