Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Schiedsspruch der Schiedsstelle nach § 130b SGB 5. Nutzenbewertung von Arzneimitteln für seltene Leiden. keine Bestimmung einer zweckmäßigen Vergleichstherapie (zVT). Quantifizierung des Zusatznutzens anhand der vom pharmazeutischen Unternehmer vorgelegten Unterlagen. Beurteilungsspielraum der Schiedsstelle
Leitsatz (amtlich)
1. Ist eine zVT aus rechtlichen Gründen - Arzneimittel für seltene Leiden - nicht zu bestimmen, ist im Nutzenbewertungsverfahren auf der Grundlage der vom pharmazeutischen Unternehmer vorgelegten Unterlagen das Ausmaß des Zusatznutzens zu quantifizieren (Weiterführung zu BSG vom 22.2.2023 - B 3 KR 14/21 R = SozR 4-2500 § 35a Nr 8).
2. Die Vertragsgestaltungsfreiheit, die der gerichtlichen Überprüfung Grenzen setzt, ist für die Schiedsstelle nicht geringer als diejenige der Vertragspartner einer im Wege freier Verhandlung erzielten Vereinbarung. Der der Schiedsstelle eingeräumte Beurteilungsspielraum ist umso größer, je geringer die durch gesetzliche und untergesetzliche Bestimmungen vorgegebenen Kriterien für die Preisbildung sind und je vager die Bestimmungen zum Zusatznutzen sind.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen einen Schiedsspruch der Beklagten, der gemeinsamen Schiedsstelle nach § 130b Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V), und den diesem zugrundeliegenden Nutzenbewertungsbeschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA), des Beigeladenen zu 2.
Bei der Klägerin handelt es sich um ein Tochterunternehmen des US-amerikanischen Unternehmens I Inc.. Sie brachte als pharmazeutische Unternehmerin erstmalig am 1. Dezember 2020 das Arzneimittel Arikayce® liposomal (Wirkstoff: Amikacin liposomal) in Deutschland in den Verkehr. Arikayce® liposomal verfügt seit dem 27. Oktober 2020 über eine europaweite arzneimittelrechtliche Zulassung der European Medicines Agency (EMA) als Arzneimittel zur Behandlung eines seltenen Leidens (sog. Orphan Drug) zur „Behandlung von Lungeninfektionen, verursacht durch zum Mycobakterium-avium-Komplex (MAC) gehörende nicht-tuberkulöse Mykobakterien (NTM), bei Erwachsenen mit begrenzten Behandlungsoptionen, die keine zystische Fibrose haben“. Bei Arikayce® liposomal handelt es sich um das erste und bisher einzige von der Klägerin zur Zulassung gebrachte Arzneimittel. In den U.S.A. ist Arikayce® (amikacin liposome inhalation suspension) schon am 28. September 2018 von der Food and Drug Administration (FDA) zugelassen worden.
Bereits im Jahr 2004 war der Wirkstoff Amikacin als Infusionslösung zur intravenösen Anwendung für die Behandlung schwerwiegender Infektionen u.a. der Atemwege mit Amikacin empfindlichen Gram-negativen Erregern (einschließlich Pseudomonaden, E.coli, indol-negativer und indol-positiver Proteus spp., Klebsiellen, Enterobacter, Serratia, Salmonellen und Shigellen) zugelassen worden (vgl. Fachinformation zu Amikacin Fresenius®). Ein im Jahr 2016 bei der EMA eingeleitetes Zulassungsverfahren für Arikayce® liposomal endete im Juni 2016 durch Rücknahme des Zulassungsantrags. Ebenfalls im Jahr 2016 genehmigte das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ein Härtefallprogramm für Arikayce® liposomal nach der Arzneimittel-Härtefall-Verordnung (AHV), das in der Folge mehrfach verlängert wurde. Darüber hinaus kam es seit September 2018 bis zur Zulassung von Arikayce® liposomal zu Einzelimporten nach § 73 Abs. 3 des Arzneimittelgesetzes (AMG) aus den USA.
In der liposomalen Darreichungsform ist Arikayce® liposomal zur Inhalation mittels eines Verneblers bestimmt. In einer Packung befinden sich 28 Durchstechflaschen mit je 590 mg der liposomalen Formulierung. Die empfohlene Dosis beträgt eine Durchstechflasche einmal täglich. Die Behandlungsdauer beträgt laut Fachinformation maximal 18 Monate. Das Arzneimittel soll zusammen mit weiteren Antibiotika angewendet werden, die bei Lungeninfektionen durch zum MAC gehörende Erreger wirksam sind (sog. „Add on-Therapie“). Die Behandlung der pulmonalen MAC-Infektion erfolgt mittels einer antibiotischen Kombinationstherapie (multi-drug regimen, MDR) aus drei Wirkstoffen. Hierfür stehen folgende Antibiotika zur Verfügung, die als Dreier-Kombination nach folgendem Schema angewendet werden:
1. Azithromycin oder Clarithromycin
2. in Kombination mit Ethambutol sowie
3. in Kombination mit Rifabutin oder Rifampicin.
Diese Antibiotika - und weitere - werden gemäß der Leitlinie der Fachgesellschaften ATS/IDSA empfohlen. Zusätzlich wird in der neuesten Leitlinie für bestimmte Patientengruppen die Gabe von intravenösem Amikacin oder liposomalem Amikacin (Charles L. Daley et al.:„Treatment of nontuberculous maycobacterial pulmonary disease: an official ATS/ERS/ESCMID/UDSA clinical pratice guideline“, European Respiratory Journal 2020; 56: 2000535; S. 17 f., 24) als weitere Behandlungsoption empfohle...