Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtsbehelf gegen überlange Verfahrensdauer

 

Orientierungssatz

1. Die bloße Untätigkeit des Sozialgerichts in Form der Nichtterminierung eines Rechtsstreites kann nach dem Willen des Gesetzgebers nicht Gegenstand einer Beschwerde sein. Es gibt keine richterrechtlich begründete außerordentliche Untätigkeitsbeschwerde gegen eine überlange Verfahrensdauer.

2. Die rechtliche Ausgestaltung des Rechtsmittels soll dem Bürger die Prüfung ermöglichen, ob und unter welchen Voraussetzungen dieses zulässig ist. Deshalb verstößt es gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit, wenn von der Rechtsprechung außerordentliche Rechtsbehelfe geschaffen würden, um tatsächliche oder vermeintliche Lücken im bisherigen Rechtsschutzsystem zu schließen.

 

Tenor

Die Untätigkeitsbeschwerde des Klägers wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Kläger hat am 05. April 2004 vor dem Sozialgericht (SG) Berlin eine Klage auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung auf Dauer anstatt der gewährten, bis zum 31. Oktober 2004 befristeten Rente wegen voller Erwerbsminderung erhoben. Nach Einsichtnahme in die Verwaltungsakten hat der Kläger die Klage mit Schriftsatz vom 13. August 2004 begründet. Das SG hat sodann vier Befundberichte von behandelnden Ärzten eingeholt. Mit Bescheid vom 01. November 2004 hat die Beklagte dem Kläger im Anschluss an die bis zum 31. Oktober 2004 befristete Rente wegen voller Erwerbsminderung wieder Rente wegen Berufsunfähigkeit gewährt. Das SG hat daraufhin ein orthopädisches Fachgutachten eingeholt, das am 09. Februar 2005 zu den Akten gelangt ist. Gegen das Gutachten hat der Kläger Einwendungen erhoben, auf welche hin der Sachverständige mit Schreiben vom 18. April 2005 (zu den Akten gelangt am 19. April 2005) Stellung bezogen hat. Mit richterlicher Verfügung vom 19. April 2005 ist der Kläger zur Stellungnahme aufgefordert worden, gleichzeitig ist die Akte vom Vorsitzenden als entscheidungsreif eingestuft worden. Eine Sachstandsanfrage des Klägers vom 15. Juni 2006 ist vom SG nicht beantwortet worden.

Mit Schreiben vom 14. März 2008 hat der Kläger eine Untätigkeitsbeschwerde erhoben und beantragt, dem Ausgangsgericht aufzugeben, binnen einer in das Ermessen des angerufenen Gerichts gestellten Frist, die einen Zeitraum von zwei Monaten nicht überschreiten sollte, eine verfahrensleitende und zugleich verfahrensfördernde Entscheidung zu treffen.

Das SG hat daraufhin dem Kläger mit Schreiben vom 11. April 2008 mitgeteilt, dass sich die Sache im “E-Fach„ befinde und eine konkrete Terminierung wegen einer Vielzahl anderer Verfahren derzeit nicht absehbar sei. Gleichzeitig ist der Kläger aufgefordert worden, für den Fall, dass eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes geltend gemacht werde, die seither behandelnden Ärzte zu benennen, um weitere Ermittlungen zu ermöglichen.

Der Kläger hat sich auf die Anfrage des Senats, ob nunmehr die Beschwerde zurückgenommen werde, nicht gemeldet.

II.

Die Untätigkeitsbeschwerde des Klägers war als unzulässig zu verwerfen (§ 202 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫ i. V. m. § 572 Abs. 2 Satz 2 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫).

Nach § 172 Abs. 1 SGG findet die Beschwerde gegen die Entscheidungen der SGe mit Ausnahme der Urteile und gegen Entscheidungen der Vorsitzenden dieser Gerichte an das Landessozialgericht (LSG) statt, soweit nicht in diesem Gesetz etwas anderes bestimmt ist. Eine in diesem Sinne beschwerdefähige Entscheidung des SG liegt bisher nicht vor. Die bloße Untätigkeit des SG in Form der Nichtterminierung eines Rechtsstreits kann nach dem Willen des Gesetzgebers grundsätzlich nicht Gegenstand einer Beschwerde sein (in diesem Sinne: Verwaltungsgerichtshof ≪VGH≫ Mannheim in NVwZ 2004, 1541 ff; LSG Berlin Beschluss vom 27. Januar 2005 - L 9 B 11/05 KR -, zitiert nach juris, m. w. N.).

Darüber hinaus existiert derzeit keine gesetzliche Rechtsgrundlage für die vom Kläger geltend gemachte Untätigkeitsbeschwerde. Unter solchen Umständen sieht es das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) - jedenfalls außerhalb des Bereichs gerichtlicher Untätigkeit bei freiheitsentziehenden Maßnahmen - als fraglich an, ob die gesetzlich nicht geregelte Untätigkeitsbeschwerde dem aus dem Rechtsstaatsgebot abzuleitenden Gebot der Rechtsmittelklarheit genügen kann (vgl.BVerfG 1. Kammer 1. Senat, Beschluss vom 10. Juni 2005 - 1 BvR 2790/04NJW 2005, 2685; generell ablehnend: Beschluss des Plenums des BVerfG vom 30. April 2003, BVerfGE 107, 395, 416 = SozR 4-1100 Art. 103 Nr. 1). Danach müssen die Rechtsbehelfe in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für die Bürger erkennbar sein (Beschluss des Plenums des BVerfG, BVerfGE 107, 395, 416). Das rechtsstaatliche Erfordernis der Messbarkeit und Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns führt zu dem Gebot, dem Rechtsuchenden den Weg zur Überprüfung gerichtlicher Entscheidungen klar vorzuzeichnen (vgl. BVerfGE 49, 148, 1...

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