Leitsatz (amtlich)

Als "Wohnung" iS des RVO § 543a Nr 1, aF ist auch eine außerhalb des Arbeitsamtsbezirks gelegene "ständige Familienwohnung" (RVO § 543 Abs 1 S 2 aF) anzusehen.

 

Normenkette

RVO § 543a Nr. 1 Fassung: 1956-12-23, § 543 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. März 1963 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin verunglückte am 10. März 1959 bei der Fahrt mit ihrem Motorroller auf der Straße von D nach Lage und erlitt durch den Unfall u. a. eine Gehirnerschütterung; sie wurde eine Woche stationär behandelt und blieb bis zum 31. August 1959 arbeitsunfähig. Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob für den Unfall Versicherungsschutz nach §§ 537 a Nr. 3, 543 a Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) idF des Art. X § 4 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) vom 23. Dezember 1956 (BGBl I 1018) bestanden hat.

Die Klägerin ist seit April 1958 verheiratet; ihr Ehemann besuchte damals noch als Vikar das Prediger-Seminar in Hofgeismar, erst nach dem Unfall erhielt er seine erste Pfarrstelle in Großseelheim bei Marburg, wo die Klägerin seither ihren Wohnsitz hat. Bis Oktober 1958 war die Klägerin etwa zwei Jahre lang bei einer Konfektionsfirma in Bünde beschäftigt gewesen, dann bezog sie Arbeitslosengeld vom Arbeitsamt H, Auszahlungsstelle S-Q. Sie hatte in Q ein mit eigenen Möbeln ausgestattetes Zimmer in der Wohnung ihrer dort als Lehrerin tätigen Schwester. Beide Schwestern verbrachten jedes Wochenende bei ihren Eltern in I bei D, wo sie gemeinsam ein Zimmer benutzten; dorthin kam auch der Ehemann der Klägerin etwa alle vier Wochen von Hofgeismar aus. Polizeilich gemeldet war die Klägerin mit dem ersten Wohnsitz in Istrup und mit dem zweiten in Q. Während ihrer Arbeitslosigkeit fuhr die Klägerin schon freitags nach I und kehrte erst am Dienstag wieder zurück nach Q um ihrer Meldepflicht beim Arbeitsamt zu genügen; auch am Unfalltag beabsichtigte sie, sofort nach ihrer Ankunft die die Auszahlungsstelle in S-Q aufzusuchen, wohin sie für 16 Uhr bestellt war.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 12. November 1959 den Entschädigungsanspruch mit der Begründung ab, ein gemäß § 543 a Nr. 1 RVO aF versicherter Unfall liege nicht vor, da die Klägerin den Weg zur Zahlstelle des Arbeitsamts in Stift-Quernheim nicht von ihrer eigenen, 3 km entfernten Wohnung aus, sondern von der 60 km entfernten elterlichen Wohnung aus angetreten habe.

Das Sozialgericht Marburg hat am 17. Januar 1962 die Beklagte verurteilt, den Unfall der Klägerin vom 10. März 1959 als Arbeitsunfall zu entschädigen.

Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 27. März 1963 (Breithaupt 1963, 866) die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Im Unfallzeitpunkt sei die Klägerin gegen Arbeitsunfall versichert gewesen, weil sie sich auf dem Wege zwischen ihrer Wohnung und einer Dienststelle der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung befunden habe, um dort Arbeitslosengeld in Empfang zu nehmen und sich der vorgeschriebenen Meldekontrolle zu unterziehen. Der Begriff "Wohnung" i. S. des § 543 a Nr. 1 sei der gleiche wie in § 543 Abs. 1 RVO aF. Nach allgemeiner Auffassung sei darunter der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse zu verstehen. Durch Einführung eines Versicherungsschutzes für Arbeitslose habe eine entsprechende Sicherung erfolgen sollen, wie sie beim Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses vorliege. Dies bedeute, daß Arbeitslose auf dem Weg von und zu ihrer Wohnung bzw. Familienwohnung, die auch außerhalb ihres früheren Arbeitsbereichs liegen könne, unfallversichert seien, wenn die weiteren Voraussetzungen des § 543 a vorlägen. Man könne nicht mit der Beklagten nur eine im früheren Arbeitsbereich liegende Wohnung als Anfangs- oder Endpunkt des versicherten Weges ansehen. Der Wohnungsbegriff in § 543 a RVO aF sei auch nicht im Hinblick auf § 170 AVAVG anders auszulegen.

Für die Klägerin habe den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse die elterliche Wohnung in Istrup bedeutet, obwohl ihr dort kein eigenes Zimmer zur Verfügung gestanden habe und sie von den Eltern wirtschaftlich unabhängig gewesen sei. Die 60 km von dort nach Quernheim habe sie mit dem Motorroller in etwa 1 1/2 Std. zurücklegen können. In der Zeit vor ihrem Unfall habe sie sogar jeweils fast die halbe Woche bei ihren Eltern verbracht. Hinzu komme, daß sie sich dort auch mit ihrem Ehemann getroffen habe, da noch keine eheliche Wohnung vorhanden gewesen sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 29. April 1963 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 9. und 17. Mai 1963 Revision eingelegt und sie am 17. Mai sowie 22. Juni 1963 wie folgt begründet: Zwischen dem Wohnungsbegriff, wie er sich für § 543 Abs. 1 RVO aF herausgebildet habe und demjenigen in § 543 a Nr. 1 bestehe ein entscheidender Unterschied. In § 543 Abs. 1 Satz 2 sei eine Erweiterung des Versicherungsschutzes für die Wochenend-Heimfahrten zur Familienwohnung eingeführt worden, um dem besonderen Schutzbedürfnis der arbeitstätigen Menschen zu genügen. Ein solches Schutzbedürfnis liege aber bei den nach § 537 a Nr. 3 RVO aF versicherten Arbeitslosen nicht vor. Bei deren Wegen zur Meldestelle handele es sich im Grunde nicht um echte Wege nach und von der Arbeitsstätte, vielmehr ähnelten sie mehr den Betriebswegen im Sinne des § 542 Abs. 1 RVO aF. Ein solcher Betriebsweg aber verlaufe nur zwischen der Alltagswohnung des Arbeitslosen und dem Arbeitsamt, irgendwelche Anreisen entsprechend § 543 Abs. 1 Satz 2 seien hierbei nicht versichert. Hierfür spreche insbesondere, daß nach dem Zweck der Arbeitslosenversicherung der Arbeitslose dem Arbeitseinsatz unmittelbar zur Verfügung stehen und in der Lage sein solle, einer sofortigen Anforderung zur Verfügung zu stehen. Es widerspreche den Zwecken der Meldepflicht, wenn der Arbeitslose an Werktagen nach Hause zur Familie fahren könne, dann zur Meldung beim Arbeitsamt aus großer Entfernung wieder anreise und dabei doch Versicherungsschutz genieße. Auch die neue Fassung des § 539 Abs. 1 Nr. 4 RVO durch das Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz vom 30. April 1963 deute darauf hin, daß der Versicherungsschutz für Arbeitslose mehr unter dem Gesichtspunkt des Dienstweges bestehe; § 550 Satz 2 RVO nF habe für Arbeitslose keine Bedeutung.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin hat keinen Prozeßbevollmächtigten bestellt. Sie hat in dem von ihr selbst unterzeichneten Schreiben vom 20. September 1963 der Anregung der Beklagten, gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, zugestimmt; diese Erklärung ist wirksam (vgl. SozR SGG § 124 Nr. 5). Der Senat konnte demnach im Einverständnis beider Prozeßbeteiligter ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

II

Die zulässige Revision der Beklagten hatte keinen Erfolg.

Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG befand sich die Klägerin im Unfallzeitpunkt auf dem Wege nach Stift-Quernheim, wo sie die Auszahlungsstelle des Arbeitsamts Herford zur Erfüllung ihrer Meldepflicht als Bezieherin von Arbeitslosengeld (§ 179 AVAVG idF der Bekanntmachung vom 3. April 1957, BGBl I 321) aufsuchen wollte. Die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls nach §§ 537 a Nr. 3, 543 a Nr. 1 RVO aF sind also unzweifelhaft gegeben bis auf die zwischen den Beteiligten umstrittene Frage, ob die Klägerin diesen Weg - wie es § 543 a Nr. 1 vorschreibt - von "ihrer Wohnung" aus angetreten hat. Die Beklagte verneint diese Frage und meint hierzu, als Wohnung im Sinne des § 543 a Nr. 1 komme nur die im Arbeitsamtsbezirk gelegene Alltagswohnung des Arbeitslosen in Betracht, nicht hingegen eine weiter entfernte ständige Familienwohnung (§ 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF), in welcher sich der Arbeitslose an den Wochenenden aufhalte; die Klägerin wäre daher beim Aufsuchen der Arbeitsamtszahlstelle nur dann unfallversichert gewesen, wenn sie diesen Weg von der Wohnung ihrer Schwester in Quernheim aus angetreten hätte. Diese Auffassung hat das LSG mit Recht als zu eng und mit dem Sinn des § 543 a RVO aF nicht vereinbar abgelehnt.

§ 543 a RVO aF hat zum Ziel, den Unfallversicherungsschutz für die in § 537 a Nr. 3 RVO aF aufgeführten Personen so abzugrenzen, daß Unfälle der Arbeitslosen in ihrem privaten Lebensbereich nicht zur Entschädigungspflicht führen; Arbeitsunfälle kommen also nur beim Vorliegen der in § 543 a Nr. 1 - 3 im einzelnen normierten Tatbestandsmerkmale in Betracht (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., Anm. 3 zu § 543 a; Bayer. LSG, Amtsblatt Bayer. Arbeitsministerium 1964, Teil B S. 42). Innerhalb des damit abgesteckten Rahmens muß jedoch - wie das LSG zutreffend angenommen hat - der Unfallversicherungsschutz für Arbeitslose grundsätzlich in dem Umfang anerkannt werden, der sich sonst beim Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses ergeben würde. Diese Erwägung verbietet es, dem Begriff der "Wohnung" des Arbeitslosen eine andere versicherungsrechtliche Bedeutung beizumessen, als ihm bei den in § 543 Abs. 1 RVO aF geregelten Unfällen von Beschäftigten auf den Wegen nach und von der Arbeitsstätte zukommt. Der von der Beklagten vertretene Standpunkt läuft darauf hinaus, dem Versicherten, der während seines Beschäftigungsverhältnisses auf den Wegen von und nach der Familienwohnung dem Versicherungsschutz gemäß § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF unterstand, vom Eintritt der Arbeitslosigkeit an diesen Schutz zu unterbinden; die Beklagte möchte dies offenbar damit rechtfertigen, daß sie den arbeitslos gewordenen Versicherten für die Zeit seiner Betreuung durch das Arbeitsamt einer Art von Residenzpflicht am Ort seiner "Alltagswohnung" unterworfen sehen will. Dieser Gedankengang überzeugt aber nicht, denn weder den §§ 537 a, 543 a RVO aF noch den einschlägigen Vorschriften des AVAVG (§§ 76, 98, 170 ff; vgl. auch die zu § 179 AVAVG erlassenen Bestimmungen und Durchführungsanweisungen vom 10. Oktober 1958, BABl 1959, 70) ist zu entnehmen, daß der Unfallversicherungsschutz während der Arbeitslosigkeit eine solche Einschränkung der Freizügigkeit der Arbeitslosen zur Grundlage hat. Vielmehr muß es versicherungsrechtlich auch dem Arbeitslosen freistehen, seine außerhalb des Orts der bisherigen Arbeitsstätte gelegene ständige Familienwohnung, in der sich auch während der Arbeitslosigkeit der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse befindet, aufzusuchen, sofern er dabei nicht seiner Pflicht zur regelmäßigen oder - auf Vorladung - besonderen Meldung beim Arbeitsamt zuwiderhandelt. Weder der vom LSG festgestellte Sachverhalt noch das Revisionsvorbringen ergeben irgendwelche Anhaltspunkte dafür, daß die Wochenendaufenthalte der Klägerin in ihrer elterlichen Wohnung im allgemeinen - und insbesondere derjenige unmittelbar vor der unfallbringenden Fahrt - mit der ordnungsgemäßen Erfüllung ihrer Meldepflicht nicht vereinbar gewesen sein könnten.

Hiernach ist unter der Wohnung im Sinne des § 543 a Nr. 1 RVO aF auch eine außerhalb des Arbeitsamtsbezirks gelegene ständige Familienwohnung anzusehen. Begibt sich der Arbeitslose von dieser Wohnung aus auf den Weg zum Sitz des für ihn zuständigen Arbeitsamts (bzw. der für die Meldung zuständigen Stelle), um dort sogleich der Meldepflicht zu genügen, so ist er auf diesem Weg unfallversichert (ebenso Draeger/Buchwitz/Schönefelder, Komm. zum AVAVG, S. 1122 Anm. 4 zu § 543 a RVO aF, Bayer LSG aaO). Zu einer anderen Beurteilung zwingt auch nicht die Neuregelung des Unfallversicherungsschutzes für Arbeitslose in den von der Revision angeführten Vorschriften der §§ 539 Abs. 1 Nr. 4, 550 RVO nF.

Das LSG hat angenommen, daß für die Klägerin die elterliche Wohnung in Istrup auch noch zur Zeit des Unfalls den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse bedeutete, so daß sie als ständige Familienwohnung im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF anzusehen gewesen sei. Die vom LSG hierfür im einzelnen angeführten Umstände sind geeignet, diese Ansicht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl. insbesondere BSG 5, 165, SozR RVO § 543 aF Nrn. 17, 24, 38, 48) zu rechtfertigen. Entgegenstehende Gesichtspunkte sind auch von der Revision nicht geltend gemacht worden.

Die Revision ist somit unbegründet und muß daher zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Die vom Senat für erforderlich gehaltene Neufassung des Rubrums ergibt sich aus §§ 626 Abs. 3, 892 Abs. 4 RVO aF bzw. 654 Nr. 1, 766 Abs. 1 RVO nF.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380071

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