Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisung auf in der Arbeitswelt nur vereinzelt vorkommende Verweisungstätigkeiten
Orientierungssatz
Es bedarf bei Vollzeittätigkeiten grundsätzlich nicht der Prüfung, ob für sie in ausreichendem Umfang Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, sofern sie in Tarifverträgen erfaßt sind. Etwas anderes gilt jedoch ua dann, wenn die Verweisungstätigkeit trotz ihrer tariflichen Erfassung aufgrund ihrer besonderen Art in der Arbeitswelt als Eingangsstelle für Berufsfremde nur vereinzelt vorkommt (vgl BSG vom 1981-10-15 5b/5 RJ 116/80 bzw 1981-03-19 4 RJ 19/80 = SozR 2200 § 1246 Nr 82 bzw § 1247 Nr 33). Das trifft auf die Tätigkeiten sowohl des qualifizierten Pförtners (vgl BSG vom 1981-11-26 4 RJ 79/80 = SozR 2200 § 1241d Nr 5) als auch des Galerie-, Museums- oder Schloßaufsehers mit Inkassobefugnis zu (vgl BSG vom 1982-09-08 5b RJ 16/81 = SozR 2200 § 1246 Nr 101).
Normenkette
RVO § 1246 Abs 2 S 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 26.08.1980; Aktenzeichen L 5 J 285/78) |
SG Itzehoe (Entscheidung vom 15.08.1978; Aktenzeichen S 4 J 370/77) |
Tatbestand
Streitig ist ein Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU).
Die Revisionsklägerin ist die Witwe des am 29. November 1981 während dieses Verfahrens verstorbenen Klägers Ernst M. Dieser, gelernter Maurer, war in seinem Beruf bis Juli 1977 beschäftigt und versichert. Seinen Antrag von September 1977 auf Rente wegen BU bzw. wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) lehnte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) nach ärztlicher Untersuchung im streitigen Bescheid vom 18. November 1977 mit der Begründung ab, M sei bei Wirbelsäulen- und Kreislaufbeschwerden noch nicht berufsunfähig; er könne noch vollschichtig leichtere Arbeiten verrichten.
Während das Sozialgericht (SG) M Versichertenrente zugesprochen hat, hat das Landessozialgericht (LSG) unter Aufhebung des Ersturteils die Klage abgewiesen. Im angefochtenen Urteil des LSG vom 26. August 1980 heißt es, nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auf medizinischem Gebiet könne M vollschichtig noch leichte, im Sitzen auch mittelschwere Arbeiten verrichten; stärkeren Belastungen insbesondere durch Heben und Tragen sei er nicht gewachsen. M könne also die körperlich leichten Tätigkeiten eines gehobenen Pförtners im öffentlichen Dienst und eines Museumswärters mit Inkassobefugnis ausüben. Ein Facharbeiter sei geistig in der Lage, diese - den Anlernberufen zuzurechnende - Tätigkeiten auszuführen; eine kurze Einarbeitung genüge. M sei demnach nicht berufsunfähig.
Gegen dieses Urteil hat der Senat die Revision zugelassen (Beschluß vom 18. Februar 1981).
Mit seiner Revision hat M gerügt: Er könne nicht auf die vom LSG angeführten Tätigkeiten verwiesen werden, weil deren Ausübung nach dem zuständigen Tarifvertrag eine erfolgreich abgeschlossene Ausbildung voraussetze; diese habe er nicht durchlaufen. Im übrigen seien diese Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt überhaupt nicht erreichbar; es handele sich um Aufstiegsstellen innerhalb des öffentlichen Dienstes.
Nach dem Tod M's ist dessen Witwe, Ruth M, in das Verfahren eingetreten (Schriftsatz vom 15. Februar 1982).
Die Revisionsklägerin beantragt, unter Aufhebung des LSG-Urteils vom 26. August 1980 die Berufung der Beklagten vom 19. September 1978 gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 18. August 1978 zurückzuweisen sowie der Beklagten die außergerichtlichen Kosten aller Rechtszüge entsprechend § 193 SGG aufzuerlegen; hilfsweise, die Sache unter Aufhebung des Berufungsurteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Schleswig-Holsteinische LSG zurückzuverweisen und insoweit die Kostenentscheidung aus § 193 SGG dem Endurteil vorzubehalten.
Die Beklagte beantragt, die Revision der Revisionsklägerin gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 26. August 1980 zurückzuweisen.
Sie führt zuletzt aus, das ihr vom erkennenden Senat zugesandte Urteil des 5b-Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 8. September 1982 fordere die Feststellung des Vorhandenseins einer hinreichenden Zahl von Arbeitsplätzen für die Tätigkeit des Schloß- und Galerieaufsehers mit Inkassovollmacht sowie des gehobenen Pförtners. Im Hinblick darauf könne sie einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und einer Zurückverweisung an das LSG nicht widersprechen. Eine Sachaufklärung sei trotz des Todes des Versicherten möglich. Da bei dem Versicherten keine wesentlichen gesundheitsbedingten Leistungseinschränkungen vorgelegen hätten, müßten noch weitere Verweisungsmöglichkeiten wie zB auf die eines Hausmeisters geprüft werden.
Beide Beteiligte habe erklärt, daß sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist zulässig. Insbesondere bestehen keine Bedenken, daß die Ehefrau des ursprünglichen Klägers nach dessen Tod für die Zeit bis zu dessen Eintritt als Rentenbezugsberechtigte iS von § 56 Abs 1 Nr 1 des Ersten Buchs des Sozialgesetzbuches (SGB 1) in den Rechtsstreit eingetreten ist (§ 202 SGG iVm § 246 der Zivilprozeßordnung -ZPO-).
Die Revision ist mit ihrem Hilfsantrag auf Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.
Rente wegen BU erhält nach § 1246 Abs 1 RVO derjenige Versicherte, der berufsunfähig ist, wenn die Wartezeit erfüllt ist. Berufsunfähig ist ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken ist (§ 1246 Abs 2 Satz 1 RVO). Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten zu beurteilen ist, umfaßt alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufes unter besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können (S 2 aaO). Letztere Vorschrift ist im vorliegenden Fall entscheidend; nach den schlüssigen, den Senat nach § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG konnte M in der streitigen Zeit seinen erlernten Beruf als Maurer gesundheitsbedingt nicht mehr ausüben. Nach der gesicherten Rechtsprechung der für die Arbeiterrentenversicherung zuständigen Senate des BSG bestimmt sich der Kreis der Tätigkeiten, auf die der Versicherte zur Abwendung von BU berufsfremd noch verwiesen werden kann, nach der Qualität des "bisherigen Berufs", wobei unter zulässiger Berücksichtigung der von den Sozial- und Tarifpartnern in den Tarifverträgen festgelegten qualitativen Bewertung von Arbeiterberufen ein Facharbeiter zumutbar iS von § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO auf eine Tätigkeit verwiesen werden darf, die zumindest in der Gruppe mit dem Leitberuf des angelernten Arbeiters fällt (vgl statt vieler zB das Urteil des erkennenden Senats in SozR 2200 § 1246 Nr 86 mwN). Zu der Frage der Verweisung eines Facharbeiters auf die körperlich leichten Tätigkeiten eines "gehobenen Pförtners im öffentlichen Dienst" und eines "Museumswärters mit Inkassobefugnis" hat der erkennende Senat erst kürzlich in einem Urteil vom 26. Januar 1983 - 1 RJ 52/81 - Stellung genommen. Danach gehören zwar nach der Lohngruppe (LGr) V des Tarifvertrags über das Lohngruppenverzeichnis (LGrTV) zum Manteltarifvertrag der Arbeiter der Länder (MTL II) vom 19. Juni 1975 (ABl-SH 948) ua Pförtner mit zusätzlichen und schwierigen Aufgaben (schriftliche Arbeiten, Fernsprechdienst, Tätigkeit an verkehrsreichen Eingängen) sowie Galerieaufseher, Museumsaufseher, Schloßaufseher und Schloßführer, zu deren Tätigkeit auch das Erheben von Eintrittsgeld gehört, in die einem Facharbeiter zumutbare Gruppe mit dem Leitberuf eines Angelernten (vgl dazu auch BSG SozR 2200 § 1241 d Nr 5; der erkennende Senat in SozR 2200 § 1246 Nr 86). Auch hat das LSG unangegriffen und daher bindend (§ 163 SGG) festgestellt (Bl 9 des angefochtenen Urteils), daß der Kläger diese Tätigkeiten nach seinem beruflichen Wissen und Können ausführen kann. Ob diese tatsächlichen Feststellungen, denen keine Beweisaufnahme zugrunde liegt, verfahrensfehlerfrei zustandegekommen sind, kann der Senat nicht prüfen; die Revisionsklägerin hat sie nicht iS von § 164 Abs 2 Satz 3 SGG angegriffen, sondern fehlerhafte Sachaufklärung von Amts wegen (§§ 103, 106 Abs 3 und 4 SGG) in bezug auf die Frage gerügt, ob diese Verweisungstätigkeiten der allgemeinen Arbeitsvermittlung überhaupt zur Verfügung stehen.
Dieser letztere Angriff der Revisionsklägerin gegen das angefochtene Urteil ist zwar nicht aus verfahrens-, sondern aus sachlich-rechtlichen Gründen erheblich und erfolgreich: Zwar bedarf es bei Vollzeittätigkeiten grundsätzlich nicht der Prüfung, ob für sie in ausreichendem Umfang Arbeitsplätze zur Verfügung stehen, sofern sie in Tarifverträgen erfaßt sind. Etwas anderes gilt jedoch ua dann, wenn die Verweisungstätigkeit trotz ihrer tariflichen Erfassung aufgrund ihrer besonderen Art in der Arbeitswelt als Eingangsstelle für Berufsfremde nur vereinzelt vorkommt (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 82; § 1247 Nr 33). Das trifft auf die Tätigkeiten sowohl des qualifizierten Pförtners (vgl BSG SozR 2200 § 1241 d Nr 5) als auch des Galerie-, Museums- oder Schloßaufsehers mit Inkassobefugnis zu (vgl hierzu eingehend das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des BSG vom 8. September 1982 - 5b RJ 16/81 -).
Mit dieser höchstrichterlichen Rechtsprechung stimmt das angefochtene Urteil nicht überein. In Übereinstimmung mit dem Vorbringen der Beklagten war daher die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen, damit die Frage eines offenen Arbeitsmarktes auch in tatsächlicher Hinsicht noch abgeklärt werden kann.
Der Kostenausspruch war der Endentscheidung in der Sache vorzubehalten.
Fundstellen