Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 18.05.1972)

 

Tenor

Die Revisionen der beklagten Krankenkasse und der Beigeladenen gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 18. Mai 1972 werden zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Das klagende Land, dessen Behörden nach dem Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (Bundesentschädigungsgesetz -BEG-) für Entschädigungsansprüche der beigeladenen Eheleute zuständig sind (§ 185 Abs. 4 BEG), wendet sich gegen Bescheide der beklagten Krankenkasse, durch die den Beigeladenen Ansprüche auf Krankenversorgung für nicht verfolgungsbedingte Leiden (§§ 141a ff BEG) zuerkannt worden sind.

Die Beigeladenen gehören zu einer besonderen Gruppe von Verfolgten, und zwar zu den Staatenlosen und Flüchtlingen im Sinne der Genfer Konvention (§ 160 ff BEG), denen nach Ansicht des Klägers keine Ansprüche nach §§ 141 a ff BEG zustehen, weil sie die allgemeinen Stichtags- und Wohnsitzvoraussetzungen des BEG nicht erfüllen. Dieser Ansicht hatte sich zunächst auch die Beklagte angeschlossen und Anträge der Beigeladenen auf Ausstellung von Krankenversorgungsscheinen mit Bescheiden vom 20. Mai 1970 abgelehnt. Auf den Widerspruch der Beigeladenen hat sie jedoch festgestellt, daß diese zum krankenversorgungsberechtigten Personenkreis gehören (Widerspruchsbescheide vom 22. Juni 1970).

Die hiergegen erhobenen Klagen des Landes, das der Beklagten die aus der Verwendung von Versorgungsscheinen entstehenden Kosten zu ersetzen hätte (§ 227 b BEG), hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen. Auf die Berufung des Landes hat das Landessozialgericht (LSG) die ursprünglichen Bescheide der Beklagten wiederhergestellt (Urteil vom 18. Mai 1972). Mit den zugelassenen Revision beantragen die Beklagte und die Beigeladenen, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen. Der Kläger beantragt die Zurückweisung der Revisionen.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revisionen der beklagten Krankenkasse und der Beigeladenen sind unbegründet. Das LSG hat den Beigeladenen mit Recht keinen Anspruch auf Krankenversorgung für nicht verfolgungsbedingte Leiden (§§ 141 a ff BEG) zuerkannt.

Daß über den Klaganspruch die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zu entscheiden haben, folgt aus § 227a Abs. 2 Satz 1 BEG; darin ist für Streitigkeiten über die Durchführung der Krankenversorgung nach §§ 141a ff BEG ausdrücklich der Sozialrechtsweg eröffnet worden. Indem das LSG ein “Rechtsschutzbedürfnis” des Klägers für die Erhebung der Klage bejaht hat, hat es ihn zutreffend für befugt gehalten, die – auch ihm zugestellten – Widerspruchsbescheide der Beklagten anzufechten. Nach dem Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann einen Verwaltungsakt anfechten, wer behauptet, durch ihn beschwert zu sein (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG). Eine solche Beschwer kann außer für den Adressaten des Verwaltungsakts, der sie in der Regel nicht besonders zu begründen braucht, auch für einen Dritten bestehen und sich insbesondere daraus ergeben, daß der – nicht oder erfolglos angefochtene – Verwaltungsakt auch ihn in der Sache bindet und dadurch seine Rechte oder Verpflichtungen, d.h. seine Rechtsstellung betrifft.

Nach § 77 SGG ergreift die Bindungswirkung eines Verwaltungsakts “die Beteiligten”. Wer zu ihnen gehört, ist im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt. Für die Parallelvorschrift in § 141 Abs. 1 SGG (“Rechtskräftige Urteile binden die Beteiligten … ”) ist dagegen der Kreis der Beteiligten durch § 69 SGG festgelegt; danach sind Beteiligte am Verfahren der Kläger, der Beklagte und der Beigeladene. Im Gerichtsverfahren erstreckt sich mithin die Bindungswirkung auf alle für formell am Verfahren – durch Erhebung der Klage oder gerichtliche Beiladung – Beteiligten, ohne Rücksicht darauf, ob und in welcher Weise sich das Urteil materiell auf ihre Rechtsstellung auswirkt. Im Hinblick auf die Wesensverwandtschaft, die zwischen der Bindung nach § 141 und der nach § 77 SGG besteht (vgl. BSG 15, 118, 122 oben), liegt es nahe, auch in § 77 SGG den Beteiligungsbegriff in einem rein verfahrensrechlich-formalen Sinne zu verstehen, dh. auf den Kreis derjenigen zu beschränken, die durch eigenes Handeln (Antragstellung) oder von Amts wegen (der Verwaltungsakt wird an sie adressiert oder ihnen bekanntgegeben) am Verwaltungsverfahren beteiligt sind. Die Frage, ob der Beteiligungsbegriff in dem dargelegten Sinn formal aufzufassen ist, braucht hier indessen nicht abschließend entschieden zu werden, da die streitigen Verwaltungsakte auch dem klagenden Land von der Beklagten zugestellt worden sind und das Land dadurch formell am Verwaltungsverfahren beteiligt worden ist.

Unentschieden kann ferner bleiben, ob schon aus der förmlichen Beteiligung am Verfahren ein Recht zur Anfechtung der ergangenen Entscheidung folgt. Auch wenn dies zu verneinen und für die Anfechtungsbefugnis ausserdem zu fordern wäre, daß der Verfahrensbeteiligte durch den bindungsfähigen Inhalt der Entscheidung in seiner Rechtsstellung betroffen wird, hat der Kläger hier ein Anfechtungsrecht gehabt. Wären nämlich die – auch ihm zugestellten – Widerspruchsbescheide der Beklagten bindend geworden, dann hätte auch ihm gegenüber festgestanden, daß die Beigeladenen zu den nach §§ 141a ff BEG krankenversorungsberechtigten Personen gehören, so daß der Kläger der beklagten Krankenkasse für deren Aufwendungen ersatzpflichtig gewesen wäre (§ 227b BEG). Diese Rechtswirkung genügt, um eine Anfechtungsbefugnis des Klägers zu begründen. Daß er nicht unmittelbar an dem zwischen den Beigeladenen und der Beklagten streitig gewesenen Rechtsverhältnis (Krankenversorgungsberechtigung) beteiligt ist, daß vielmehr die Entscheidung über dieses Rechtsverhältnis ihn nur mittelbar, d.h. insofern berührt, als damit über eine Vorfrage für seine Ersatzpflicht gegenüber der Beklagten entschieden ist, ist unerheblich. Einige Formulierungen in dem BSG 15, 118 abgedruckten Urteil des Senats, die für eine engere Auffassung sprechen könnten, erklären sich aus der damaligen Fallgestaltung; damals war nämlich der Rentenversicherungsträger, über dessen Beitragsforderung die Krankenkasse als Einzugsstelle entschieden hatte, in der Tat unmittelbar an dem streitigen Rechtsverhältnis – als Gläubiger der Forderung – beteiligt.

Die Anfechtungsklage hat sich auch allein gegen die Widerspruchsbescheide der Beklagten, d.h. gegen “zweitinstanzliche” Verwaltungsentscheidungen, richten können. Nur durch sie ist der Kläger hier beschwert worden (vgl. § 79 Abs. 1 Nr. 2 VwGO; BSG 10, 2, 92; Urteil des 6. Senats vom 18. August 1972, 6 RKa 28/71).

Prozessual zulässig war es ferner, daß das LSG nach Aufhebung der Widerspruchsbescheide der Beklagten deren ursprüngliche – ablehnende – Verwaltungsakte “wiederhergestellt” und damit das Verwaltungsverfahren endgültig zum Abschluß gebracht hat. Ein solches Vorgehen ist jedenfalls dann unbedenklich, wenn – wie hier – nach Aufhebung der Widerspruchsentscheidung nur noch eine einzige abschließende Verwaltungsentscheidung in Betracht kommt. Das Gericht greift dann mit seinem Urteil nicht in die Kompetenzen der Verwaltung ein, verletzt insbesondere nicht das Prinzip der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 3 GG). Jedes andere Verfahren würde vielmehr einen unökonomischen, weil zeitraubenden Umweg bedeuten.

Auch in der Sache ist die Entscheidung des LSG im Ergebnis nicht zu beanstanden. Entgegen der Ansicht der beklagten Krankenkasse steht den Beigeladenen kein Anspruch auf Krankenversorgung (§§ 141a ff BEG) zu.

Das BEG begründet – nach den im Ersten Abschnitt enthaltenen allgemeinen Vorschriften – für Verfolgte (§ 1) einen Anspruch auf Entschädigung (§ 3) grundsätzlich nur bei Erfüllung bestimmter Wohnsitz- und Stichtagsvoraussetzungen (§ 4). Daneben haben jedoch, auch wenn diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind, zwei “Besondere Gruppen von Verfolgten” (Vierter Abschnitt des Gesetzes), nämlich Verfolgte aus Vertreibungsgebieten sowie Staatenlose und Flüchtlinge im Sinne der Genfer Konvention, “einen nach Art und Umfang beschränkten Anspruch auf Entschädigung” (§ 149). Während der ersten Gruppe Entschädigung für Schäden an Körper oder Gesundheit, an Freiheit, durch Zahlung von. Sonderabgaben und im beruflichen Fortkommen gewährt wird (§ 150 Abs. 1) – ausgeschlossen bleiben also vor allem Schäden an Eigentum, Vermögen und im wirtschaftlichen Fortkommen (§§ 51, 56, 127 ff) –, kann die zweite Gruppe, zu der die Beigeladenen gehören, nur Entschädigung für Schäden an Körper oder Gesundheit und an Freiheit beanspruchen (§ 160 Abs. 1).

Der hier streitige Anspruch auf Krankenversorgung für nicht verfolgungsbedingte Leiden nach §§ 141a ff BEG (in das BEG eingefügt durch das BEG-Schlußgesetz vom 14.9.1965, BGBl I, 1315), ist weder ein Anspruch auf Entschädigung für Schäden an Körper oder Gesundheit noch, wie nicht näher begründet zu werden braucht, für Schäden an Freiheit.

Der Anspruch auf Entschädigung für Schäden an Körper oder Gesundheit (§ 28 ff BEG) setzt – ebenso wie die anderen in den Titeln 1 bis 7 des Zweiten Abschnitts geregelten Ansprüche – einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Schaden und der Verfolgung voraus (§ 28 Abs. 1 Satz 2). Zum Ausgleich solcher verfolgungsbedingter Körper- oder Gesundheitsschäden sind eine Reihe von Leistungen, in erster Linie Heilverfahren, vorgesehen (§ 29). Nachdem sich jedoch bei Durchführung des Gesetzes gezeigt hatte, daß “für die nach Deutschland zurückgekehrten Emigranten Schwierigkeiten bestehen, für ihre Krankheitskosten Versicherungsleistungen zu erhalten …, insbesondere in den Fällen, in denen die Verfolgten zur Zeit der Schädigung nicht der Sozialversicherung angeschlossen waren und heute wegen vorgerückten Alters von privaten Krankenversicherungen nicht mehr aufgenommen werden”, wurde für sie in Anlehnung an Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes über die Heil- bzw. Krankenbehandlung von Schwerbeschädigten und ihrer Familienangehörigen ein Anspruch auf Krankenversorgung für nicht verfolgungsbedingte Leiden geschaffen (Begründung zum Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des BEG, BT-Drucks. IV/1550, S. 32 zu Nr. 62 Allgemeines).

Dieser Versorgungsanspruch wurde zwar allen Verfolgten, deren Anspruch auf Rente für Schaden an Leben oder für Schaden an Körper oder Gesundheit oder auf Soforthilfe festgestellt worden ist, zuerkannt und insofern an diese Ansprüche “angehängt”, im übrigen aber selbständig – als eine besondere, weil für nicht verfolgungsbedingte Leiden gewährte Art der Entschädigung (im weiteren Sinne) – in einem eigenen (Neunten) Titel des Zweiten Abschnittes geregelt. In die Leistungskataloge für “Besondere Gruppen von Verfolgten” (§§ 149 ff) wurde der Anspruch auf Krankenversorgung nicht aufgenommen. Schon daraus folgt, daß diesen Gruppen, insbesondere der hier in Betracht kommenden Gruppe der Staatenlosen und Flüchtlinge (§ 160), ein Anspruch auf Krankenversorgung für nicht verfolgungsbedingte Leiden nicht zusteht. Diese Gruppen sind vielmehr, wie sich aus der Systematik des Gesetzes und seiner Entstehungsgeschichte ergibt, auch soweit es sich um Schäden an Körper oder Gesundheit handelt, allein auf Entschädigungsansprüche für verfolgungsbedingte Tatbestände beschränkt (ebenso im Ergebnis Blessing-Giessler, BEG-Schlußgesetz, Nachtrag 1969, S. 86, Rand-Nr. 1 zu § 141a; Brunn-Hebenstreit, BEG, Schlußnachtrag 1966 bis 1969, S. 122, Rand-Nr. 1 zu § 141a). Für die von den Revisionsklägern vertretene Auffassung, der Gesetzgeber habe bei Einfügung der §§ 141 ff in das BEG versehentlich unterlassen, ihre Anwendung für die hier in Rede stehenden besonderen Verfolgtengruppen vorzuschreiben, gibt es keine Anhaltspunkte; das Gegenteil ist wahrscheinlich. So ist der Vierte Abschnitt des BEG, der die genannten Gruppen betrifft, durch das BEG-Schlußgesetz in mehrfacher Hinsicht geändert oder ergänzt worden, insbesondere durch Einfügung von neuen Vorschriften für den Fall des Zusammentreffens von Entschädigungsansprüchen (§§ 166 a ff), in denen die (ebenfalls auf dem BEG-Schlußgesetz beruhenden) §§ 141d ff für entsprechend anwendbar erklärt worden sind. Wenn demgegenüber Vorschriften über eine entsprechende Anwendung der §§ 141a ff BEG für die besonderen Verfolgtengruppen nicht getroffen worden sind, so läßt dies nur den Schluß zu, daß der Gesetzgeber eine Anwendung jener Vorschriften insoweit nicht hat vorsehen wollen. Für die Annahme einer anderen Willensrichtung bieten auch die Protokolle des zuständigen Bundestagsausschusses, die der Senat auf Anregung der Beigeladenen herangezogen hat, keine Stütze; die hier streitige Frage ist in den Ausschußberatungen, soweit ersichtlich, nicht behandelt worden.

Da die Entscheidung des LSG sich somit im Ergebnis als richtig erweist, hat der Senat die Revision als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 224

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