Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 20.10.1965)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. Oktober 1965 insoweit aufgehoben, als darin über die von der Klägerin als Arbeitgeberin der beigeladenen Beschäftigten nachgeforderten Beitragsanteile zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung (6.040,04 DM) und die anteiligen Verfahrenskosten entschieden worden ist. Insoweit ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt. Im übrigen wird die Revision der Beklagten als unzulässig verworfen.

Der Klägerin sind von der Beklagten und der beigeladenen Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des 1. und 2. Rechtszuges, von der Beklagten außerdem die halben Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die klagende Firma wendet sich gegen eine Beitragsnachforderung der beklagten Krankenkasse für die beigeladenen, während der streitigen Zeit (1958 bis 1960) bei der Klägerin beschäftigt gewesenen Aushilfsverkäuferinnen.

Die Beklagte fordert für die 23 Beigeladenen Beiträge zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung –nicht zur Angestelltenversicherung– für die Zeit vom 1. Januar 1958 bis 31. Oktober 1960 in Höhe von zusammen 12.080,08 DM nach (Bescheid vom 28. Dezember 1960 in der durch den Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 1961 geänderten Fassung).

Das Sozialgericht (SG) hat die hiergegen erhobene Klage als unbegründet abgewiesen (Urteil vom 24. Juli 1963).

Mit der rechtzeitig eingelegten Berufung hatte die Klägerin zunächst beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 24.7.1963 – S-15/Kr 47/61 (9) – aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 28.12.1960 in der Form des Widerspruchsbescheids vom 25.5.1961 (richtig: 15.5.1961) insoweit aufzuheben, als die Klägerin zu einem über 6.040,04 DM hinausgehenden Betrag herangezogen wurde.

In der gleichzeitigen Berufungsbegründung hatte die Klägerin es für noch vertretbar gehalten, die ohnehin von ihr zu tragenden Arbeitgeberanteile nachzufordern; eine Nachberechnung der Arbeitnehmeranteile, die sie den betreffenden Beschäftigten nicht mehr vom Lohn einbehalten könne, sei dagegen unzulässig.

Nachdem die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) die völlige Aufhebung der Bescheide der Beklagten beantragt hatte, hat das LSG diesem –erweiterten– Berufungsantrag mit Urteil vom gleichen Tage entsprochen. Es hat aufgrund der Beweisaufnahme festgestellt, daß ein Betriebsprüfer der Beklagten am 7. März 1958 die Arbeitsverhältnisse der bei der Klägerin beschäftigten Aushilfskräfte anhand von Fragebogen, die von der Beklagten und der Klägerin entwickelt worden seien, nachgeprüft habe. Seine Entscheidung darüber, ob Versicherungspflicht zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung bestehe, habe der Betriebsprüfer allein davon abhängig gemacht, wie bestimmte Fragen des Fragebogens („Sind Sie beim Arbeitsamt als arbeitsuchend gemeldet?”, „Beziehen Sie Arbeitslosenunterstützung?”, „Haben Sie Arbeitslosenunterstützung vor Aufnahme der jetzigen Beschäftigung bezogen?”) beantwortet worden seien. Bei Verneinung dieser Fragen habe er auch das Bestehen von Versicherungspflicht durch entsprechende Vermerke auf dem Fragebogen verneint. Die Auswertung aller Fragebögen lasse eindeutig erkennen, daß die Beantwortung der übrigen Fragen für die Entscheidung über die Versicherungspflicht nicht maßgebend gewesen sei; unberücksichtigt geblieben sei insbesondere eine etwaige zeitliche Beschränkung der Tätigkeit, die Höhe des Arbeitsverdienstes und dessen wirtschaftliche Bedeutung für die einzelnen Beschäftigten. Im gleichen Sinne hätten sich der Betriebsprüfer und der für die Beitragsabrechnung zuständige Angestellte der Klägerin auch als Zeugen geäußert. Danach stehe fest, daß der Betriebsprüfer dem genannten Angestellten der Klägerin im März 1958 eindeutig erklärt habe, Aushilfskräfte seien in der Kranken- und Arbeitslosenversicherung nur versicherungspflichtig, wenn sie beim Arbeitsamt als arbeitsuchend gemeldet seien. An diese –objektiv unrichtige– Erklärung habe sich die Klägerin in der Folgezeit gehalten.

Die Beklagte verstoße daher gegen Treu und Glauben, wenn sie nunmehr „entgegen einer eindeutigen, in Kenntnis aller Umstände abgegebenen Erklärung eines nicht erkennbar unzuständigen Bediensteten … in Bezug auf die Versicherungspflicht bzw. Versicherungsfreiheit einer bestimmten Person oder eines bestimmten Personenkreises” rückwirkend Beiträge zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung nachfordere. Sie dürfe Beiträge von der Klägerin erst von dem Zeitpunkt ab erheben, von dem an sie die unrichtige frühere Erklärung ihres Betriebsprüfers erstmals richtiggestellt habe, d. h. seit der neuen Betriebsprüfung vom 28. Dezember 1960 (Urteil vom 20. Oktober 1965).

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die –vom LSG nicht zugelassene– Revision eingelegt und gerügt: Das Verfahren des LSG sei fehlerhaft, weil es zu Unrecht auch denjenigen Teil ihrer Bescheide aufgehoben habe, der mit der Berufung nicht mehr angefochten und deshalb infolge Rechtsmittelverzichts bindend geworden sei; die spätere Erweiterung des Berufungsantrags sei unzulässig gewesen. Entgegen der Ansicht des LSG liege in der Beitragsnachforderung auch kein Verstoß gegen Treu und Glauben, weil die Klägerin nicht gutgläubig gewesen sei; Gegenüber anderen Krankenkassen habe sie bei gleichartigen Verhältnissen Versicherungsbeiträge abgeführt, über die wahre Rechtslage sei sie in zahlreichen Streitfällen durch Einzelverwaltungsakte aufgeklärt worden, ihre Bediensteten hätten laufend an Schulungsveranstaltungen teilgenommen. Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Hessischen LSG vom 20. Oktober 1965 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Frankfurt vom 24. Juli 1963 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten als unzulässig zu verwerfen.

Die Klägerin meint, nach der Rechtsprechung der Zivilgerichte sei eine nachträgliche Erweiterung der Berufungsanträge nur dann unzulässig, wenn die Berufung zunächst unbeschränkt eingelegt und später teilweise zurückgenommen worden sei; nur dann werde ein Rechtsmittelverzicht angenommen. Hier liege aber keine teilweise Rücknahme der Berufung vor, diese sei vielmehr von Anfang an beschränkt eingelegt worden und hätte deshalb später noch erweitert werden können. In der Sache habe das LSG mit Recht einen Verstoß gegen Treu und Glauben angenommen, die dagegen erhobenen Einwände der Beklagten seien entweder tatsächlich unrichtig oder unerheblich.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der beklagten Krankenkasse ist statthaft, soweit sie rügt, das LSG habe zu Unrecht auch über denjenigen Teil ihrer Bescheide entschieden, mit dem die auf die Klägerin als Arbeitgeberin entfallenden Beitragsanteile zur Kranken- und Arbeitslosenversicherung nachgefordert worden seien. Insofern leidet das Verfahren des LSG in der Tat an einem wesentlichen Mangel (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Die Klägerin hatte die Beitragsnachforderung der Beklagten, von der nach dem Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 1961 je die Hälfte (6.040,04 DM) auf Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile entfielen, zwar zunächst in vollem Umfange angefochten. Nachdem das SG jedoch die Klage als unbegründet abgewiesen hatte, hat die Klägerin sich in der Berufungsschrift nur noch gegen die Nacherhebung der Arbeitnehmeranteile gewandt, weil sie diese nicht mehr von ihren Beschäftigten einbehalten könne; die Nacherhebung der „von ihr ohnehin zu tragenden Arbeitgeberanteile” hat sie dagegen als „noch vertretbar” bezeichnet und ihren Berufungsantrag entsprechend eingeschränkt.

Ob sie damit einen –auch im sozialgerichtlichen Verfahren zulässigen– (Teil-)Verzicht auf das Rechtsmittel der Berufung erklärt hat (vgl. dazu SozR Nr. 1 zu § 514 der Zivilprozeßordnung), kann dahinstehen. Jedenfalls ist in der Beschränkung des Klagantrags in der Berufungsschrift und den gleichzeitig dazu gemachten erläuternden Ausführungen eine teilweise Rücknahme der Klage zu sehen. Die Erklärungen der Klägerin können und konnten nämlich bei unbefangener Würdigung nur so verstanden werden, daß sie von einer weiteren Verfolgung ihres Klagebegehrens, soweit es die Nachforderung der Arbeitgeberanteile betraf, absehen wollte und bereit war, sich insoweit mit den Bescheiden der Beklagten abzufinden. Damit brachte sie hinreichend deutlich ihren Willen zur teilweisen Rücknahme der Klage zum Ausdruck (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl. § 127 II 1 b, S. 619; Baumbach/Lauterbach, ZPO, 27. Aufl., § 271 Anm. 1 A, 3 A; Peters/Sautter/Wolff. Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 102 SGG Anm. 2).

Die teilweise Rücknahme der Klage erledigte insoweit den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Satz 2 SGG) und schloß eine prozessuale Geltendmachung des erledigten Teils des Klaganspruchs –auch im Wege der Erweiterung des Berufungsantrages– für die Zukunft aus; eine sachliche Prüfung und gerichtliche Entscheidung über diesen Streitteil war nicht mehr zulässig (vgl. SozR SGG § 102 Nr. 9). Ob im übrigen das LSG hier über den erledigten Teil des Streitgegenstandes (Nachforderung der Arbeitgeberanteile) auch deswegen nicht mehr entscheiden durfte, weil im sozialgerichtlichen Verfahren die Rechtskraft eines Urteils durch Einlegung eines Rechtsmittels nur insoweit gehemmt wird, als während der Rechtsmittelfrist eine Änderung des angefochtenen Urteils beantragt wird, kann der Senat offenlassen (für den Zivilprozeß vgl. Rosenberg, aaO, § 132 I 2 a, S. 651).

Der – von der Beklagten rechtzeitig und formrichtig gerügte– Verfahrensmangel des LSG betrifft allerdings nicht das ganze angefochtene Urteil, sondern nur denjenigen Teil, mit dem das LSG über die Rechtmäßigkeit der Nachforderung der Arbeitgeberanteile entschieden hat. Da dieser Teil des Urteils sich auf einen quantitativ trennbaren, eines Teilurteils fähigen Teil des Rechtsstreits bezieht, beschränkt sich die –durch die Verfahrensrüge begründete– Statthaftigkeit der Revision auf eben diesen Urteilsteil (vgl. Beschluß des 4. Senats des Bundessozialgerichts –BSG– vom 9. Januar 1969, 4 RJ 91/68, und die dort genannten Entscheidungen: BSG 7, 35, 39; 8, 228, 231; 10, 264, 266; ferner BSG 10, 103, 107 und BGH in Juristenzeitung 1967, 576). Im übrigen, d. h. soweit das LSG über die Nachforderung der Arbeitnehmeranteile entschieden hat, ist die Revision dagegen nicht statthaft, da das LSG sie nicht zugelassen und die Beklagte insoweit keinen Verfahrensmangel gerügt hat. Die von ihr erhobenen Einwände gegen die Annahme des LSG, die Beklagte habe mit der Beitragsnachforderung gegen Treu und Glauben verstoßen, betreffen nicht das Verfahren des Berufungsgerichts, sondern die Anwendung des sachlichen Rechts.

Soweit hiernach die Revision der Beklagten statthaft ist, kann der Senat selbst abschließend entscheiden. Wie bereits ausgeführt, ist die Rechtmäßigkeit der von der Beklagten erhobenen Beitragsnachforderung nicht mehr gerichtlich überprüfbar, soweit die Klägerin ihre Klage zurückgenommen hat, d. h. hinsichtlich der „von ihr ohnehin zu tragenden Arbeitgeberanteile” (in Höhe von 6.040,04 DM). Insoweit hat der Senat die Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache festgestellt (§ 102 Satz 2 SGG); damit ist insoweit auch das Urteil des SG gegenstandslos geworden (vgl. Peters/Sautter/Wolff, aaO, § 102 SOG Anm. 4 a). Im übrigen d. h. hinsichtlich der nachgeforderten Arbeitnehmeranteile (in Höhe von ebenfalls 6.040,04 DM), ist die Revision der Beklagten dagegen als unzulässig verworfen worden (§ 169 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Unterschriften

Dr. Langkeit, Dr. Krebs, Spielmeyer

 

Fundstellen

Haufe-Index 927537

MDR 1969, 516

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