Leitsatz (amtlich)
Der gegen das Urteil eines bayerischen Oberversicherungsamtes eingelegte Rekurs wird, wenn er nach dem bis zum Inkrafttreten des SGG (1954-01-01) geltenden Verfahrensrecht ausgeschlossen war, nach dem Übergang der Sache auf das LSG, gemäß SGG § 215 Abs 3 auch dann nicht zulässig, wenn er als Berufung neuen Rechts nach den SGG §§ 143 - 150 zulässig wäre.
Normenkette
SGG § 215 Abs. 3 Fassung: 1953-09-03, § 143 Fassung: 1953-09-03, § 144 Fassung: 1953-09-03, § 145 Fassung: 1953-09-03, § 146 Fassung: 1953-09-03, § 147 Fassung: 1953-09-03, § 148 Fassung: 1953-09-03, § 149 Fassung: 1953-09-03, § 150 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 22. März 1954 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten des Verfahrens sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Klägerin, die am 6. Januar 1922 geboren und kinderlos ist, hat aus Anlaß des Todes ihres Ehemannes, der im November 1944 bei Kampfhandlungen in Frankreich gefallen ist, die Gewährung von Witwenrente nach dem Bayer. Gesetz über Leistungen der Körperbeschädigte (KBLG) beantragt. Das Versorgungsamt ... hat nach ärztlicher Untersuchung der Klägerin durch Bescheid vom 7. August 1951 den Antrag abgelehnt, weil die Klägerin nicht erwerbsunfähig i. S. des Art. 7 KBLG sei. Durch Bescheid vom gleichen Tage hat das Versorgungsamt ... auf Grund des § 40 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) in der damals geltenden Fassung der Klägerin zwar eine Grundrente von 20,- DM monatlich bewilligt, aber zugleich das Ruhen der Rente nach § 65 Abs. 2 a.F. BVG ausgesprochen. Die Berufung der Klägerin gegen beide Bescheide ist vom Oberversicherungsamt (OVA.) ... durch Urteil vom 6. Februar 1952 zurückgewiesen worden, da die Klägerin die Voraussetzung für die Gewährung der Witwenrente - in ihrem Fall Einbuße der Erwerbsfähigkeit um mindestens 50 v.H. - nicht erfülle.
Das Bayerische Landessozialgericht (LSGer.) hat durch Urteil vom 22. März 1954 den am 15. März 1952 beim Bayerischen Landesversicherungsamt (LVAmt) eingelegten und nach § 215 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf das Landessozialgericht als Berufung übergegangenen Rekurs der Klägerin als unzulässig verworfen. Die Entscheidung beruht auf der Erwägung, daß der Rekurs der Klägerin nach dem bis zum Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für das Spruchverfahren in der Kriegsopferversorgung (KOV.) geltenden § 1700 Nr. 13 RVO ausgeschlossen war und daß das unzulässige Rechtsmittel nicht zu einer zulässigen Berufung werden könne, selbst wenn "unter Berücksichtigung des § 148 Nr. 3 SGG die Berufung nach neuem Recht zulässig wäre". Das nach mündlicher Verhandlung erlassene Urteil des Oberversicherungsamtes (OVA.) sei mit der Verkündung rechtskräftig geworden (§ 1700 Nr. 13 RVO a.F.). Infolgedessen habe am 1. Januar 1954 auf das Landessozialgericht kein Verfahren übergehen können, das einen prozessualen Anspruch betraf.
Gegen dieses am 20. Mai 1954 zugestellte Urteil, in welchem die Revision nicht zugelassen wurde, hat die Klägerin durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten am 2. Juni 1954 Revision eingelegt mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und dem Beklagten die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Die Revision wird in der am 18. Juni 1954 eingegangenen Revisionsbegründung darauf gestützt, daß nach der Rechtsprechung anderer Senate des Bayerischen LSGer. die Berufung gegen das Urteil des OVA. ... als zulässig hätte angesehen werden müssen. In der mündlichen Verhandlung ergänzte die Klägerin ihren Antrag dahin, den Beklagten zu verurteilen, ihr ab Antragsmonat Witwenrente zu gewähren; hilfsweise beantragte sie, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Bayer. LSGer. zurückzuverweisen.
Der Beklagte hat beantragt, die Revision der Klägerin als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, als unbegründet zurückzuweisen. Auf den Schriftsatz des Landesversorgungsamts Bayern vom 14. Januar 1955 wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, aber aus anderen Gründen nicht statthaft.
Für die Entscheidung des LSGer. war die Frage wesentlich, ob ein vor dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (1. Januar 1954) gegen das Urteil eines bayer. OVA. eingelegtes Rechtsmittel, das nach altem Verfahrensrecht unzulässig war, dann zulässig geworden ist, wenn die Sache nach § 215 Abs. 3 SGG auf das Landessozialgericht übergegangen ist und das Rechtsmittel als Berufung neuen Rechts zulässig wäre. Diese Rechtsfrage hat unzweifelhaft grundsätzliche Bedeutung, worauf der Beklagte mit Recht hingewiesen hat, und hätte dem LSGer. Anlaß geben müssen, die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr.1 SGG zuzulassen. Der Revisionskläger hat aber nicht diesen Mangel gerügt, sondern als einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG die Tatsache geltend gemacht, daß das LSGer. infolge unrichtiger Gesetzesauslegung die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen hat, ohne eine Sachentscheidung zu treffen. Die Statthaftigkeit der Revision hängt daher davon ab, ob das LSGer. mit Unrecht die Berufung als unzulässig angesehen hat. Dies war zu verneinen.
Die Entscheidung des LSGer. fußt im wesentlichen auf der Annahme, daß § 705 ZPO grundsätzlich im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anwendbar sei, daß aber diese Vorschrift sich nur auf solche Urteile beziehe, die mit einem Rechtsmittel angefochten werden können. Wenn gegen ein unanfechtbares Urteil ein Rechtsmittel eingelegt werde, so könne das Rechtsmittelgericht nur feststellen, daß durch die unzulässige Rechtsmitteleinlegung der Eintritt der Rechtskraft nicht gehemmt worden sei. Mit dieser Auffassung setzt sich das LSGer. in Widerspruch zu der grundsätzlichen Entscheidung des Reichsversicherungsamts (RVA.) Nr. 3275 (AN. d. RVA. 1927 Seite 421 - EuM. Bd. 21 S. 219), in der ausgesprochen ist, daß die formelle Rechtskraft der Urteile der Oberversicherungsämter auch in den Fällen des § 1700 RVO vor Ablauf der Rekursfrist nicht eintritt und daß der Eintritt der Rechtskraft durch die rechtzeitige Einlegung des Rekurses gehemmt wird. Das RVA. begründet seine Auffassung vor allem damit, daß die Grundgedanken des § 705 ZPO zur Ergänzung des versicherungsrechtlichen Verfahrens sich eignen und daß die Entscheidung der Frage, ob ein Rechtsmittel im Einzelfall zulässig ist, häufig keineswegs einfach sei.
Der Senat hat keinen Anlaß gefunden, von der Rechtsauffassung des RVA. abzuweichen, zumal da der Bundesgerichtshof an der bisherigen Auslegung des § 705 ZPO, auf die sich die Entscheidung des RVA. beruft, festhielt (BGHZ 4 S. 294) und da § 202 SGG die entsprechende Anwendung der ZPO im Falle des Bedürfnisses zur Ausfüllung einer Gesetzeslücke vorschreibt, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen. Die vom 3. Senat des Bayer. LSGer. in seiner Entscheidung vom 20. Mai 1954 (Amtsblatt des Bayer. Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge 1954 Teil B S. 129) gegen die entsprechende Anwendbarkeit des § 705 ZPO erhobenen Bedenken erschienen dem Senat nicht überzeugend, jedoch brauchte diese Frage hier nicht entschieden zu werden. Dem LSGer. war im Ergebnis seiner Beurteilung beizupflichten.
Der Senat ist im Anschluß an die Begründung der obenerwähnten Entscheidung des RVA. davon ausgegangen, daß die Rechtskraft des Urteils des OVA. solange nicht feststand, bis über das hiergegen eingelegte Rechtsmittel entschieden war. Die vorliegende Streitsache ist daher trotz Einlegung eines unzulässigen Rekurses am 1.1.1954 bei dem Bayer. LVAmt rechtshängig gewesen und auf Grund des § 215 Abs. 3 SGG auf das Bayer. LSGer. übergegangen.
Die Anfechtbarkeit einer nach altem Verfahrensrecht erlassenen Entscheidung muß, da sie mit ihr untrennbar verbunden ist, zunächst nach altem Verfahrensrecht beurteilt werden, sofern nicht das neue Verfahrensrecht ausdrücklich mit rückwirkender Kraft etwas anderes bestimmt. Das Sozialgerichtsgesetz enthält eine solche Ausnahmevorschrift nicht. § 215 Abs. 3 SGG bestimmt nur, daß die beim Bayer. LVAmt rechtshängigen Sachen am 1. Januar 1954 auf das inzwischen errichtete Bayer. LSGer. übergegangen sind, aber nichts darüber - etwa nach dem Vorbild des § 214 SGG - wie die übergegangenen Sachen zu behandeln sind. Aus dem Schweigen des Gesetzes ist daher der Schluß zu ziehen (ebenso LSGer. Baden-Württemberg vom 2.6.1954: Breith. 1954, S. 1089), daß die noch unerledigten Rekurse grundsätzlich als Berufungen neuen Rechts (§§ 143 - 159 SGG) zu behandeln sind; denn das Landessozialgericht nimmt im Gesamtaufbau der Sozialgerichtsbarkeit die Stellung eines Berufungsgerichts im Urteilsverfahren ein (§ 29 SGG). Damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, ob das bisher unzulässige Rechtsmittel als Berufung deshalb zulässig wird, weil ein Berufungsausschließungsgrund nach neuem Recht (§§ 144 - 150 SGG) nicht vorliegt.
Die Unanfechtbarkeit einer Entscheidung nach altem Recht wird nicht dadurch beseitigt, daß vom 1. Januar 1954 an der weitere Gang eines schwebenden Verfahrens nach den neuen Vorschriften über die Berufung sich richtet. Das Nichtvorhandensein einer Vorschrift, die dem § 143 SGG für alle am 1. Januar 1954 rechtshängigen Sachen rückwirkende Kraft beilegt, ist nicht etwa eine von der Rechtsprechung auszufüllende Lücke des Gesetzes, sondern steht durchaus im Einklang mit dem Zweck des Sozialgerichtsgesetzes, soweit er aus der Übergangsregelung erkennbar ist. Der Versuch, zur Lösung der aus dem Dritten Teil des Sozialgerichtsgesetzes sich ergebenden Zweifelsfragen die Rechtsprechung der Zivilgerichte heranzuziehen, die zu der umfangreichen Novellengesetzgebung zur Zivilprozeßordnung seit 1898 vorliegt, scheitert daran, daß die Übergangsvorschriften dieser Novellen nach ihrem positiven Inhalt untereinander und von denen des Sozialgerichtsgesetzes sehr verschieden sind. Die grundlegenden Rechtssätze für die Überleitung der schon vor dem 1. Januar 1954 rechtshängig gewordenen und unerledigten Sachen auf die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit können nur dem Sozialgerichtsgesetz selbst entnommen werden.
Das Sozialgerichtsgesetz hat sowohl das gerichtliche Verfahren als auch die Gerichtsverfassung in Angelegenheiten der Sozialgerichtsbarkeit von Grund aus neu geordnet und bedeutet mehr als eine bloße Novelle zu dem bisherigen Verfahrensrecht. Es will die neuen Einrichtungen und Rechtsschutzmöglichkeiten zum Teil auch noch älteren Verfahren zugute kommen lassen, aber eben doch nur in engen Grenzen, wie durch § 214 besonders deutlich wird. Die für Altfälle vorgesehene Regelung strebt an, sämtlichen Berechtigten des Bundesgebiets eine annähernd gleiche Rechtsstellung zu geben, aber auch die neuen Gerichte nicht von vornherein mit der Aufarbeitung von Rückständen unverhältnismäßig zu belasten. Den Prozeßbeteiligten sollten deshalb grundsätzlich nicht weitergehende prozessuale Rechte eingeräumt werden, als ihnen zugestanden hätten, wenn die im alten Recht vorgesehenen Gerichte höherer Ordnung die Sache hätten entscheiden können (im wesentlichen ebenso der 6. Senat des Bayer. LSGer. vom 24.2.1954, Amtsbl. des Bayer. Staatsministeriums für Arbeit und soziale Fürsorge 1954, Teil B S. 111 = Breith. 1954 S. 447; Rohwer-Kahlmann, "Der Betriebs-Berater" 1954 S. 721 und 723, und "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1955 S. 193 ff., Fußnote 5 - zum Teil gegen Lütje, ebenda S. 135 ff; zu vergleichen auch die Begründung zu § 214 SGG = § 153 des Entwurfs einer Sozialgerichtsordnung, Drucksache Nr. 4357 des Deutschen Bundestags, 1. Wahlperiode 1949). Es wäre nicht gerechtfertigt diejenigen Rechtsmittelkläger, auf deren Rechtsmittel im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung oder der Einlegung des Rechtsmittels das nämliche Recht anzuwenden war, deshalb ungleich zu behandeln, weil das Rechtsmittelgericht früher oder später, d.h. vor oder nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes, dazu kam, den Rechtsstreit zu entscheiden. Eine unbillige Ungleichheit müßte auch darin gefunden werden, wenn im Lande Bayern und im früheren Lande Württemberg-Baden ein unzulässiges Rechtsmittel nach dem Übergang einer rechtshängigen Sache auf das LSGer. in ein zulässiges Rechtsmittel sich verwandeln könnte, während in den übrigen Bundesländern nach § 214 Abs.4 SGG ein Rechtsmittel gegen eine ältere Entscheidung nachträglich nur dann vor den Landessozialgerichten verfolgt werden kann, wenn das Rechtsmittel nach altem Recht zulässig war (h.M.).
Der Senat ist daher zu dem Ergebnis gelangt, daß zwar das Verfahren, in welchem über eine nach § 215 Abs. 3 SGG übergegangene Sache zu entscheiden ist, nach den neuen Vorschriften des SGG zu Ende zu führen ist, daß aber durch diese Vorschriften die Unzulässigkeit des Rechtsmittels im Zeitpunkt seiner Einlegung nicht beseitigt wird. Das LSGer. hat hiernach die Berufung der Klägerin mit Recht verworfen.
Da der von der Klägerin gerügte Mangel des Verfahrens (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG) nicht vorliegt, war die Revision in Übereinstimmung mit dem Urteil des BSGer. vom 14.7.1955 - 8 RV 177/54 - als unzulässig zu verwerfen.
Die Entscheidung im Kostenpunkt beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen