Leitsatz (amtlich)

Die Regelung des § 138 Abs 1 Nr 2 AFG über die Berücksichtigung des Einkommens des von dem Arbeitslosen nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung bei der Arbeitslosenhilfe ist auch vor Inkrafttreten des § 137 Abs 2a AFG (1.1.1986) auf Partner eheähnlicher Gemeinschaften anzuwenden (Anschluß an BSG vom 24.3.1988 - 7 RAr 81/86).

 

Normenkette

AFG § 138 Abs 1 Nr 2, § 137 Abs 2a Fassung: 1985-12-20, § 139 S 1, § 139 S 2

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 12.02.1987; Aktenzeichen L 10 Ar 50/86)

SG Aurich (Entscheidung vom 13.12.1985; Aktenzeichen S 5 Ar 121/85)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob bei der Bedürftigkeitsprüfung nach § 138 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) das Einkommen der mit dem Arbeitslosen in eheähnlicher Gemeinschaft lebenden Person ebenso zu berücksichtigen ist, wie das Einkommen eines von dem Arbeitslosen nicht getrennt lebenden Ehegatten.

Die im Jahr 1958 geborene, ledige Klägerin hat zwei 1981 und 1985 geborene Kinder. Vater des zweiten Kindes ist Herr H., der vom Arbeitsamt E. Arbeitslosenhilfe (Alhi) bezieht.

Die Klägerin erhielt ebenfalls vom Arbeitsamt E.    Alhi, die zuletzt - vor dem hier streitigen Zeitraum - mit Bescheid vom 20. Dezember 1984 ab 1. Januar 1985 bewilligt wurde. Im Januar 1985 zog Herr H. in das Haus der Klägerin ein. Nachdem er in einem Fragebogen zur Alhi am 25. April 1985 die Klägerin als Partnerin in einer eheähnlichen Gemeinschaft angegeben hatte, rechnete das Arbeitsamt mit Bescheiden vom 6. und 7. Mai 1985 einen Betrag von 160,20 DM wöchentlich an, den Herr H. zum Lebensunterhalt der Klägerin beitragen könnte, und setzte die Alhi der Klägerin von 195,00 auf 34,80 DM wöchentlich herab. Der Widerspruch der Klägerin blieb erfolglos. Ab 6. Juli 1985 bezog sie Mutterschaftsgeld.

Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) Aurich am 13. Dezember 1985 den Bescheid vom 7. Mai 1985 und den Widerspruchsbescheid aufgehoben, die Beklagte verurteilt, der Klägerin Alhi ab 23. April 1985 in Höhe von 195,00 DM zu bewilligen, und die Berufung zugelassen. Die Beklagte hat Berufung eingelegt und mit Änderungsbescheiden vom 23. Dezember 1985 und 11. Februar 1986 für die Zeit vom 23. April bis 5. Juli 1985 den Anrechnungsbetrag auf 120,20 DM wöchentlich herabgesetzt. Das LSG hat die Berufung mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß auch der Bescheid vom 6. Mai 1985 abgeändert wurde, die Bescheide vom 23. Dezember 1985 und 11. Februar 1986 aufgehoben und die Revision zugelassen. Es hat ausgeführt, die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Sozialgesetzbuch -Verwaltungsverfahren- (SGB 10) für eine Aufhebung des letzten Bewilligungsbescheides hätten nicht vorgelegen. Durch den Einzug des H. in das Haus der Klägerin sei zwar eine Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten. Diese sei aber nicht wesentlich. Selbst wenn die Klägerin in einer eheähnlichen Gemeinschaft mit H. gelebt habe, stehe ihr die volle Alhi zu. Eine sinngemäße Anwendung des § 138 Abs 1 Nr 2 AFG aF verbiete sich, weil die Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft gegeneinander keinen Unterhaltsanspruch hätten. Auch der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in BVerfGE 67, 186 = SozR 4100 § 139 Nr 1 bilde für die streitige Anrechnung keine Rechtsgrundlage. Schließlich müsse dem H. für 1985 ein Eigenbedarf von 1.470,-- DM monatlich zugestanden werden.

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 48 SGB 10, 138 AFG und 31 Abs 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG). Der Gesetzgeber habe die Partner eheähnlicher Gemeinschaften nicht gegenüber Ehegatten privilegieren wollen. Die analoge Anwendung des § 138 AFG auf Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft sei auch durch den vom LSG zitierten Beschluß des BVerfG gerechtfertigt, der nach § 31 BVerfGG verbindlich sei.

Das Arbeitsamt E.    hat mit Bescheid vom 9. Juli 1987 der Klägerin für die Zeit vom 23. April bis 10. Mai 1985 die Alhi in unverminderter Höhe bewilligt.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen hinsichtlich der Zeit vom 11. Mai bis 5. Juli 1985 aufzuheben und insoweit die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen und den Bescheid des Arbeitsamtes E.    vom 9. Juli 1987 aufzuheben.

Die Beteiligten sind auf das Urteil des 7. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24. März 1988 - 7 RAr 81/86 - hingewiesen worden. Hierzu hat die Klägerin ausgeführt, der im Urteil des 7. Senats für geboten erachteten verfassungskonformen Auslegung von § 138 AFG stehe entgegen, daß das BVerfG erklärt habe, Wortlaut und Sinn des § 138 Abs 1 AFG ließen eine verfassungskonforme Auslegung nicht zu.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist im Sinn der Zurückverweisung begründet. Die von den Vorinstanzen ausgesprochene Verurteilung der Beklagten zur Zahlung der ungekürzten Alhi kann nicht mit der Begründung aufrechterhalten werden, das Einkommen der mit dem Arbeitslosen in eheähnlicher Gemeinschaft lebenden Person dürfe nicht bei der Bedürftigkeitsprüfung berücksichtigt werden. Ob das Urteil des LSG mit einer anderen Begründung Bestand haben kann, hängt von weiteren Ermittlungen und Feststellungen ab.

Die von dem Arbeitsamt vorgenommene Anrechnung stellt sich als teilweise Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 20. Dezember 1984 für die Zukunft dar. Rechtsgrundlage dafür ist § 48 Abs 1 SGB 10. Danach ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt.

Das Arbeitsamt hat als für die Herabsetzung der Alhi entscheidende Umstände angesehen, daß zum einen die Klägerin mit H. in eheähnlicher Gemeinschaft lebe und daß zum anderen das Einkommen ihres Partners in analoger Anwendung des § 138 AFG auf ihre Alhi anzurechnen sei. Ob die erste - eine tatsächliche - Voraussetzung vorgelegen hat, ist vom LSG nicht festgestellt worden, weil es die zweite Voraussetzung aus Rechtsgründen - jedoch zu Unrecht - verneint hat.

Nach § 138 Abs 1 Nr 2 AFG ist im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung das Einkommen des von dem Arbeitslosen nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten als Einkommen des Arbeitslosen zu berücksichtigen. Die Vorschrift ist in verfassungskonformer Auslegung dahin zu ergänzen, daß ihr Regelungsgehalt sich auch schon vor dem Inkrafttreten des § 137 Abs 2a AFG (1. Januar 1986) auf Partner eheähnlicher Gemeinschaften erstreckte. Das hat der 7. Senat des BSG in dem zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteil vom 24. März 1988 - 7 RAr 81/86 - entschieden. Dem eingehend begründeten Urteil schließt sich der erkennende Senat nach eigener Prüfung an.

Entgegen der Auffassung der Klägerin steht der von ihr zitierte Satz aus den Gründen des Beschlusses des BVerfG einer verfassungskonformen Ergänzung des § 138 Abs 1 Nr 2 AFG für die Zeit vor dem 1. Januar 1986 nicht entgegen. Der Satz lautet: "Wortlaut und Sinn des § 138 Abs 1 AFG lassen es auch nicht zu, die verfassungsrechtlich gebotene Gleichstellung durch eine verfassungskonforme Auslegung dieser Norm herbeizuführen". Daran schließt das BVerfG die folgenden Sätze: "§ 139 Satz 1 und 2 AFG sind daher mit dem GG unvereinbar; sie sind nach § 82 Abs 1 iVm § 78 BVerfGG für nichtig zu erklären. Dies hat zur Folge, daß die Berücksichtigung von Einkünften eines Arbeitslosen sowohl bei nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten als auch bei unverheiratet zusammenlebenden Personen im Rahmen der Bedürftigkeitsprüfung in gleicher Weise nach § 138 Abs 1 AFG zu erfolgen hat, solange der Gesetzgeber nicht eine andere Lösung findet". Mit dem rückwirkenden Wegfall des § 139 Satz 1 und 2 AFG entfiel die darin enthaltene Diskriminierung der Ehe gegenüber eheähnlichen Lebensgemeinschaften, die bis dahin durch die Möglichkeiten der Einkommensanrechnung nach § 138 Abs 1 AFG nicht ausgeglichen werden konnte, und es trat die vom BVerfG beschriebene Folge gleichmäßiger Berücksichtigung von Einkünften des Arbeitslosen sowohl im Falle der nicht dauernd getrennt lebenden Ehegatten als auch im Falle unverheiratet zusammenlebenden Personen ein.

Das LSG hat nicht festgestellt, ob die Klägerin mit H. in eheähnlicher Gemeinschaft zusammengelebt hat. Das ist nachzuholen. Eine eheähnliche Gemeinschaft ist gegeben, wenn zwei miteinander nicht verheiratete Personen, zwischen denen die Ehe rechtlich möglich wäre, wie ein nicht getrennt lebendes Ehepaar in gemeinsamer Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft leben, also einen gemeinsamen Haushalt so führen, wie es für zusammenlebende Ehegatten typisch ist. Dieser Definition im bereits genannten Urteil des 7. Senats schließt sich der erkennende Senat ebenfalls an.

Zur Feststellung, ob dies auf die Klägerin und ihren Partner in der zu beurteilenden Zeit zutraf, war die Sache an das LSG zurückzuverweisen, das in seiner neuen Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben wird.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1664552

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