Leitsatz (amtlich)

Bei einer Neufeststellung gemäß BVG § 62 kommt es nicht auf die Änderung derjenigen Verhältnisse an, die zur Zeit des vorangegangenen - etwa ohne ärztliche Untersuchung erlassenen (BVG § 86 Abs 3) - Bescheides vorgelegen haben, sonder auf diejenigen, die für die Feststellung im vorangegangenen Bescheid maßgebend gewesen sind.

 

Leitsatz (redaktionell)

Bei der Feststellung, ob und wieweit in den Folgen von Gesundheitsstörungen (objektiv) eine Änderung iS des BVG § 62 Abs 1 eingetreten ist, muß in der Regel vergleichsweise von denjenigen Verhältnissen ausgegangen werden, die bei der zugrunde liegenden ärztlichen Begutachtung bestanden haben. Das trifft auch zu, wenn der Umanerkennungsbescheid nach dem BVG ohne vorangehende ärztliche Untersuchung erlassen worden ist; hier sind ggf diejenigen Befunde zum Vergleich heranzuziehen, die unter der Herrschaft früherer versorgungsrechtlicher Vorschriften (gleichgültig ob früheres Reichs- oder Zonenrecht) erhoben worden sind.

Der im Umanerkennungsbescheid nach dem BVG erklärte Verzicht auf eine ärztliche Nachuntersuchung von Amts wegen schließt nur eine Feststellung nach BVG § 86 Abs 3 aF aber nicht nach BVG § 62 Abs 1 aus.

Ein unzutreffend auf BVG § 86 Abs 3 aF gestützter Neufeststellungsbescheid kann nachträglich auf BVG § 62 Abs 1 gestützt werden

 

Normenkette

BVG § 62 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, § 86 Abs. 3 Fassung: 1956-06-06

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 10. März 1960 aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 8. Februar 1957 zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Dem Kläger wurde durch Bescheid vom 21. Mai 1943 wegen kombinierten Kniebinnenschadens und geringer Narbenverletzungen am linken Oberschenkel Versehrtengeld nach Stufe I bewilligt und auf Grund einer am 27. April 1944 vorgenommenen Untersuchung mit Bescheid vom 16. Mai 1944 vom 1. Februar 1944 an nach Stufe II. Auf Grund des Bescheides vom 4. August 1950 erhielt er vom 1. Juli 1949 an - ohne ärztliche Nachuntersuchung - Leistungen nach dem Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v.H. Durch Bescheid vom 7. Januar 1952 stellte das Versorgungsamt (VersorgA) - ebenfalls ohne ärztliche Nachuntersuchung - unter Übernahme der nach dem KBLG anerkannten Schädigungsfolgen und des bisherigen Grades der MdE vom 1. Oktober 1950 an die Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) fest. Der Bescheid enthielt den Vermerk "Eine Nachuntersuchung von Amts wegen ist nicht mehr beabsichtigt". Jedoch wurde der Kläger aus Anlaß eines am 9. März 1953 gestellten Antrages auf Erhöhung der Rente am 20. Januar 1954 vom Versorgungskrankenhaus T. nachuntersucht, wobei der Facharzt für Chirurgie und Orthopädie Dr. H fand, daß seit dem letzten, fast 10 Jahre zurückliegenden Gutachten eine Besserung eingetreten ist. Seinen Erhebungen nach bestanden noch folgende Körperschäden: Seiten- und Kreuzbandschwäche des linken Knies leichten Grades, Verschmälerung des linken Knies nach operativer Meniscusentfernung , posttraumatische Knie-Arthrose links, leichte Einschränkung der Knie-Beugefähigkeit und Muskelschwund am linken Oberschenkel; die MdE wurde von ihm statt mit 50 v.H. nur noch mit höchstens 40 v.H. bewertet. Dementsprechend stellte das VersorgA mit dem auf § 86 Abs. 3 BVG gestützten Bescheid vom 22. Februar 1954 die Schädigungsfolgen und den Grad der MdE neu fest. Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen.

In der Klage auf Zahlung einer Rente nach einer MdE um 50 v.H. machte der Kläger geltend, er habe besonders unter den Schwellungen am linken Bein zu leiden und sei außerdem in seinem Beruf als Maurer besonders betroffen. Das Sozialgericht (SG) hörte auf Anregung des Klägers Prof. Dr. K, der ausführte, daß seit dem 1944 erhobenen Befund in verschiedenen Punkten eine Besserung eingetreten sei. Die MdE sei geringer zu bewerten und habe wahrscheinlich schon seit dem 1. März 1953, auf jeden Fall aber seit dem 31. März 1954 nur 40 v.H. betragen, wie der Vergleich mit dem Gutachten vom 20. Januar 1954 ergebe. In einem weiteren Gutachten vom 25. Oktober 1955 nahm Prof. Dr. K zu dem von dem Kläger vorgelegten Röntgenbefundbericht des Dr. R Stellung und meinte, dieser ergebe keine unterschiedliche Beurteilung der beiderseitigen Befunde und biete keinen Anlaß zu einer Ergänzung seines Gutachtens. Das SG Reutlingen wies die Klage mit Urteil vom 8. Februar 1957 ab.

Auf die Berufung des Klägers hob das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG und den Neufeststellungsbescheid vom 22. Februar 1954 auf. Das LSG führte aus, auf § 86 Abs. 3 BVG könne die Neufeststellung der Rente nicht gestützt werden, nachdem der Beklagte in dem Umanerkennungsbescheid erklärt habe, daß eine Nachuntersuchung von Amts wegen nicht mehr beabsichtigt ist. Diese Erklärung bedeute den Verzicht auf das Recht der Neufeststellung nach § 86 Abs. 3 BVG, auch wenn der Antrag auf Neufeststellung vom Kläger ausgegangen sei. Der Verzicht auf die Anwendung des § 86 Abs. 3 BVG hindere die Verwaltung aber nicht, die Rente nach § 62 BVG neu festzustellen. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien jedoch nicht erfüllt. Der Vergleich der 1944 und 1954 erhobenen Befunde ergebe zwar eine Besserung im Gesundheitszustand des Klägers, es könne aber nicht festgestellt werden, ob diese Besserung schon zur Zeit des Bescheides nach dem KBLG (4. August 1950) und des Umanerkennungsbescheides (7. Januar 1952) bestanden habe, die beide ohne ärztliche Nachuntersuchung ergangen seien. Da außer dem Gutachten vom 27. April 1944 keine Unterlagen vorhanden seien, sei eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen, die für die Feststellung der Rente in dem Umanerkennungsbescheid maßgebend gewesen sind, nicht nachzuweisen. Die Revision wurde zugelassen.

Der Beklagte hat gegen das am 25. Mai 1960 zugestellte Urteil des LSG am 18. Juni 1960 Revision eingelegt. Er beantragt,

das Urteil des LSG vom 10. März 1960 aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.

In der Revisionsbegründung, die innerhalb der verlängerten Begründungsfrist am 22. August 1960 eingegangen ist, rügt der Beklagte die unrichtige Anwendung des § 62 Abs. 1 BVG. Er führt aus, das LSG habe übersehen, daß diese Vorschrift die Änderung der vorausgegangenen Feststellung der Versorgungsbezüge nach dem BVG betrifft. Sei eine Feststellung nach § 86 Abs. 1 BVG vorausgegangen, so könnten für diese Feststellung nur die Verhältnisse maßgebend gewesen sein, die dem nach früheren versorgungsrechtlichen Bestimmungen erlassenen Bescheid zugrunde gelegen haben, auf dem der ohne ärztliche Nachuntersuchung erlassene Umanerkennungsbescheid beruht. Daß aber in jenen Verhältnissen eine wesentliche Besserung eingetreten sei, habe das LSG selbst festgestellt. Bei richtiger Anwendung des § 62 Abs. 1 BVG hätte daher die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückgewiesen werden müssen. Die entsprechende Rechtsauffassung habe im übrigen das Bundessozialgericht in BSG 11, 236 vertreten.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen;

hilfsweise,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Er macht dazu in der mündlichen Verhandlung geltend, hinsichtlich der besonderen beruflichen Betroffenheit fehle es an ausreichenden Erörterungen des LSG.

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Beklagten ist statthaft nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und zulässig (§§ 164, 166 SGG). Sie ist auch begründet.

Angefochten ist der Bescheid vom 22. Februar 1954, mit dem der Beklagte die Versorgungsbezüge des Klägers neu festgestellt hat. Der Bescheid ist auf § 86 Abs. 3 BVG gestützt. Mit Recht hat das LSG eine Neufeststellung nach dieser Vorschrift nicht für möglich gehalten, weil sich die Verwaltung mit der Erklärung in dem Umanerkennungsbescheid, daß eine Nachuntersuchung nicht mehr beabsichtigt ist, dieses Rechts begeben hatte und der Antrag des Klägers auf Erhöhung seiner Rente keinen Verzicht auf die Rechte enthält, die durch die Erklärung des Beklagten in dem Umanerkennungsbescheid entstanden sind (vgl. BSG 6, 175 und 11, 237). Insoweit hat der Beklagte das Urteil auch nicht angefochten.

Mit Recht rügt der Beklagte dagegen, daß das LSG die Voraussetzungen der Neufeststellung auch nach § 62 BVG nicht für erfüllt erachtet habe. Der in dem Umanerkennungsbescheid erklärte Verzicht auf eine ärztliche Nachuntersuchung schließt nur die Möglichkeit einer Neufeststellung nach § 86 Abs. 3 BVG, aber nicht nach § 62 BVG aus. Zwar wird dadurch, daß der angefochtene Bescheid statt auf § 86 Abs. 3 nunmehr auf § 62 BVG gestützt wird, diesem eine andere rechtliche Begründung nachgeschoben. Ein derartiges Nachschieben ist aber dann zulässig, wenn - wie im vorliegenden Fall - der angefochtene Bescheid in seinem Wesen nicht verändert und die Rechtsverteidigung des Betroffenen nicht beeinträchtigt wird (vgl. BSG 3, 209, 216; 7, 8, 12; 11, 237, 239). Der Bescheid vom 22. Februar 1954 ist in seinem Wesen nicht dadurch geändert worden, daß er nunmehr auf § 62 BVG gestützt wird. Er ist ein Neufeststellungsbescheid geblieben, mit welchem die ausgesprochene Rechtsfolge den bestehenden tatsächlichen Verhältnissen angepaßt und die Rente mit Wirkung für die Zukunft herabgesetzt worden ist. Die Rechtsverteidigung des Klägers ist auch nicht dadurch erschwert worden, daß nunmehr - entgegen dem früher angezogenen § 86 Abs. 3 BVG - auch noch eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten sein muß, um den vom Beklagten erlassenen Neufeststellungsbescheid als rechtmäßig gemäß § 62 BVG ansehen zu können.

Die Voraussetzungen einer Neufeststellung nach § 62 Abs. 1 BVG sind bei dem angefochtenen Bescheid erfüllt. Nach den von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG hat die Nachuntersuchung in der chirurgischen Abteilung des Versorgungskrankenhauses Tübingen am 20. Januar 1954 insofern eine wesentliche Besserung der Schädigungsfolgen ergeben, als die Beugefähigkeit des linken Kniegelenks, die nach dem letzten versorgungsärztlichen Gutachten vom 27. April 1944 nur 30 Grad betragen hat, auf 100 Grad zugenommen hat und der Muskelschwund am linken Oberschenkel von 6,7 cm im Jahre 1944 auf 3 cm zurückgegangen ist. Das LSG hat aber gemeint, eine Neufeststellung nach § 62 BVG hätte nicht erfolgen können, weil nicht festzustellen gewesen wäre, ob diese Besserung schon zur Zeit des Bescheides nach dem KBLG vom 4. August 1950 und nach dem BVG vom 7. Januar 1952 bestanden hat. Diese Feststellung war nicht notwendig. Das LSG ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß zur Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Neufeststellungsbescheides dieser grundsätzlich in eine Beziehung zum vorangegangenen Bescheid zu setzen ist, weil eine Neufeststellung nur dann möglich ist, wenn der vorangegangene Bescheid insofern unrichtig geworden ist, als er den bestehenden Verhältnissen nicht mehr entspricht. Das LSG hat jedoch den Wortlaut des § 62 BVG zu wenig beachtet. Diese Vorschrift besagt nicht, wie das LSG anzunehmen scheint, daß eine Neufeststellung dann zu erfolgen hat, wenn in den Verhältnissen eine Änderung eingetreten ist, "die zur Zeit der früheren Feststellung" bestanden - d.h. in Wirklichkeit (objektiv) bestanden (BSG 7, 12) -, sondern § 62 BVG besagt unmißverständlich seinem Wortlaut nach, daß dann eine Neufeststellung zu erfolgen hat, wenn in den Verhältnissen eine Änderung eingetreten ist, "die (objektiv) für die (frühere) Feststellung maßgebend gewesen sind". Damit sind in zeitlicher Beziehung die früheren Verhältnisse, die sich geändert haben müssen, näher bestimmt; diese Regelung berührt aber nicht die vom 11. Senat im Urteil vom 12. Februar 1958 (BSG 7, 8) entschiedene Frage, ob als frühere Verhältnisse diejenigen anzusehen sind, die objektiv vorhanden waren, oder diejenigen, von denen subjektiv die Behörde ausgegangen ist. Diese Verhältnisse aber, die für die frühere Feststellung maßgebend gewesen sind, brauchen nicht diejenigen zu sein, die "zur Zeit" des Erlasses des vorangegangenen Bescheides tatsächlich bestanden haben. Für einen Bescheid werden, soweit es sich um die Folgen von Gesundheitsstörungen handelt, in der Regel diejenigen Verhältnisse maßgebend sein, die bei der zugrunde liegenden ärztlichen Begutachtung bestanden. Im vorliegenden Fall sind nun zu dem vorangegangenen Bescheid vom 7. Januar 1952 wie auch zu dessen Vorgänger, dem Bescheid vom 4. August 1950, keine ärztlichen Befunde erhoben oder Untersuchungen angestellt worden. Für diese beiden Bescheide waren vielmehr die dem Bescheid vom 16. Mai 1944 zugrunde liegenden Verhältnisse - das waren die bei der ärztlichen Untersuchung am 27. April 1944 vorliegenden - maßgebend. Es kam also für die Rechtmäßigkeit des Neufeststellungsbescheides vom 22. Februar 1954 gemäß § 62 BVG auf die Feststellung an, ob seit dem April 1944 - die damaligen Verhältnisse wurden dem vorangegangenen Bescheid vom 7. Januar 1952 zugrunde gelegt - eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten ist. In dieser Beziehung aber hat das LSG die erforderliche Feststellung getroffen.

Da die für die Neufeststellung gemäß § 62 Abs. 2 BVG vorgeschriebene Frist von 2 Jahren eingehalten ist - der Umanerkennungsbescheid vom 7. Januar 1952 war am 9. Januar 1952 an den Kläger abgesandt worden -, ist der Neufeststellungsbescheid vom 22. Februar 1954 rechtmäßig.

Das LSG hat somit den § 62 Abs. 1 BVG nicht richtig angewendet. Das angefochtene Urteil, das auf der fehlerhaften Anwendung dieser Vorschrift beruht, mußte daher aufgehoben werden. Der Senat konnte in der Sache selbst entscheiden. Zwar hat der Kläger vorgetragen, daß bei der Bewertung der Höhe der MdE der § 30 Abs. 1 BVG (Berücksichtigung der besonderen Berufsbetroffenheit) vom LSG nicht geprüft worden sei und aus diesem Grunde die Sache allenfalls an das LSG zurückverwiesen werden könne. Der Kläger übersieht dabei aber, daß sowohl die Verwaltung im Widerspruchsbescheid vom 1. Juni 1954 als auch das SG im Urteil die MdE des Klägers unter Berücksichtigung seines Berufs mit 40 v.H. bewertet haben. Diese Feststellung hat auch das LSG seiner Entscheidung zugrunde gelegt, wenn es dies auch nicht ausdrücklich ausgesprochen hat. Anders wäre die Urteilsbegründung nicht verständlich. Das LSG hätte nämlich sonst nicht vorbehaltlos von einer Besserung sprechen können und hätte die gesamte Urteilsbegründung gespart, wenn es der Auffassung gewesen wäre, der angefochtene Bescheid vom 22. Februar 1954 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Juni 1954, in dem die MdE unter Berücksichtigung des Berufs des Klägers auf 40 v.H. festgesetzt worden war, sei schon deshalb rechtswidrig und aufzuheben, weil diese Festsetzung der MdE fälschlich getroffen sei. Da substantiierte Angriffe gegen diese Feststellung nicht vorgebracht sind, bestand für den Senat kein Anlaß, von einer Entscheidung in der Sache Abstand zu nehmen und die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

Es war daher die Berufung des Klägers gegen das im Ergebnis zutreffende Urteil des SG vom 8. Februar 1957 zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2379785

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