Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtsverfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Übergehen eines Antrags auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung bei einem mittellosen und nicht rechtskundig vertretenen Beteiligten
Orientierungssatz
1. Das völlige Übergehen des Antrags auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung stellt bei einem mittellosen und nicht rechtskundig vertretenen Kläger eine Versagung rechtlichen Gehörs dar.
2. Die ablehnende Entscheidung über Prozesskostenhilfe (PKH) zeitgleich mit der Entscheidung in der Hauptsache kann die in Art 3 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG gewährleistete Rechtsschutzgleichheit und den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzen (vgl BVerfG vom 26.6.2003 - 1 BvR 1152/02 = SozR 4-1500 § 73a Nr 1 sowie BSG vom 4.12.2007 - B 2 U 165/06 B = SozR 4-1500 § 62 Nr 9).
3. Es verstößt zudem gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn ein Beteiligter durch willkürliche Ablehnung von PKH daran gehindert wird, sich während des Berufungsverfahrens einschließlich mündlicher Verhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen (vgl BVerwG vom 9.6.2008 - 5 B 204/07 ua = juris RdNr 4).
4. Ein solcher Verstoß ist aber auch dann anzunehmen, wenn PKH zwar bewilligt wird, dies jedoch erst nach Ende der mündlichen Verhandlung und Verkündung des Urteils geschieht. Auch in diesem Fall wird der Antragsteller daran gehindert, sich während des Verfahrens und in der mündlichen Verhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen.
Normenkette
SGG §§ 62, 116 S. 2, § 124 Abs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3, Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 28. Februar 2020 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. In dem der Beschwerde zugrunde liegenden Rechtsstreit macht der Kläger einen Anspruch auf Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung geltend.
Die Beklagte lehnte einen hierauf gerichteten Antrag des Klägers ab. Seine Klage hat das SG abgewiesen. Hiergegen hat der damals unvertretene Kläger mit Schreiben vom 5.1.2017 Berufung eingelegt und zugleich Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt. Hierzu hat er ausgeführt, es gehe mittlerweile um sein Leben, er sei "Hartz IV Empfänger" und könne diesen Umfang an Akten nicht mehr selbst bewältigen. Das LSG hat Beweis erhoben durch die Einholung medizinischer Sachverständigengutachten auf psychiatrischem, internistischem und orthopädischem Fachgebiet (Beweisanordnung vom 8.12.2017). Die Sachverständigen kamen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass der Kläger zumindest noch leichte körperliche Tätigkeiten unter Berücksichtigung bestimmter qualitativer Einschränkungen für täglich sechs Stunden verrichten könne. Die Gehfähigkeit des Klägers sei nicht eingeschränkt. Eine Anfrage des LSG, ob er seine Berufung zurücknehme, hat der Kläger mit Schreiben vom 31.10.2019 zurückgewiesen. Zugleich hat er sein Unverständnis darüber geäußert, dass die Sachverständigen zu der Einschätzung gelangt seien, er könne noch eine Wegstrecke von 500 m in 20 Minuten zurücklegen.
Das LSG hat Termin zur mündlichen Verhandlung auf den 28.2.2020 bestimmt und das persönliche Erscheinen des Klägers angeordnet. Daraufhin hat der Kläger mit Schreiben vom 6.2.2020 für sich und eine Begleitperson die Kostenübernahme für ein Taxi zur Wahrnehmung des Termins beantragt. Hierzu hat er auf die bereits zuvor erfolgte Übernahme der Taxikosten für die Fahrt zu den Begutachtungsterminen sowie darauf hingewiesen, dass keine Anbindung seiner Wohnlage an den öffentlichen Nahverkehr bestehe. Zudem hat er ua auf eine Hilfsmittelverschreibung seiner Hausärzte verwiesen, wonach ihm ein E-Scooter durch seine Krankenkasse genehmigt werden sollte, sowie auf einen Bericht dieser Ärzte vom 11.11.2019, in dem eine wesentliche Bewegungseinschränkung des Klägers bei zunehmender Dyspnoe und Schmerzen der Beine, einen chronisch progredienten Verlauf der Beschwerden und eine zuletzt deutlich fortschreitende Gehstreckeneinschränkung sowie allgemein deutlich eingeschränkte Mobilität bescheinigt worden ist. Ohne auf diesen Antrag einzugehen, hat das LSG die Anordnung des persönlichen Erscheinens mit dem Kläger postalisch bekanntgegebener Verfügung vom 14.2.2020 aufgehoben. Nach mündlicher Verhandlung, die in Abwesenheit des Klägers durchgeführt worden ist, hat das LSG die Berufung mit Urteil vom 28.2.2020 zurückgewiesen. Die Revision hat es nicht zugelassen. Mit Beschluss vom 9.4.2020, der dem Kläger mit dem Urteil zugestellt worden ist, hat es diesem "für das Berufungsverfahren Prozesskostenhilfe in vollem Umfang bewilligt".
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht der Kläger Verfahrensmängel geltend. Er rügt die Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör, weil das LSG die Anordnung des persönlichen Erscheinens aufgehoben habe, ohne seinen Antrag auf Übernahme von Taxikosten zu bescheiden. Seinen Anspruch auf rechtliches Gehör sei auch deshalb verletzt, weil ihm PKH nicht bereits vor der mündlichen Verhandlung, sondern erst mit Beschluss vom 9.4.2020 gewährt worden sei.
II. 1. Die Beschwerde ist zulässig. Insbesondere ist dem Kläger in die versäumten Fristen zur Einlegung und Begründung der Beschwerde Wiedereinsetzung zu gewähren, nachdem ihm durch Beschluss des Senats vom 12.1.2021, zugestellt am 3.2.2021, PKH unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten gewährt worden ist. Die Fristen zur Nachholung der genannten Prozesshandlungen sind gewahrt. Zudem genügt die Beschwerdebegründung den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG an die Bezeichnung eines Verfahrensmangels.
2. Die Beschwerde ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.
a) Ein Verfahrensmangel liegt hier vor, denn das Berufungsurteil des LSG ist unter Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG, Art 47 Abs 2 Satz 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention ≪EMRK≫) ergangen. Das LSG hat es versäumt, vorab über den Antrag auf "Kostenübernahme für Taxi", den der Kläger rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung vom 28.2.2020 gestellt hat, zu entscheiden.
Das völlige Übergehen des Antrags auf Bewilligung eines Reisekostenvorschusses zur Teilnahme an der mündlichen Verhandlung stellt bei einem - wie vorliegend - mittellosen und seinerzeit nicht rechtskundig vertretenen Kläger eine Versagung rechtlichen Gehörs dar. Nach § 124 Abs 1 SGG entscheidet das Gericht - soweit nichts anderes bestimmt ist - aufgrund mündlicher Verhandlung. Der Mündlichkeitsgrundsatz gewährt den Beteiligten grundsätzlich das Recht, zur mündlichen Verhandlung zu erscheinen und mit ihren Ausführungen gehört zu werden. Diese dient dem Zweck, dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und mit ihnen den Streitstoff erschöpfend zu erörtern (vgl zum Ganzen BSG Beschluss vom 11.2.2015 - B 13 R 329/13 B - juris RdNr 11; BSG Beschluss vom 19.12.2017 - B 1 KR 38/17 B - juris RdNr 6, jeweils mwN; zuletzt BSG Beschluss vom 4.3.2021 - B 4 AS 312/20 B - juris RdNr 6).
Vorliegend hat der Kläger deutlich erkennen lassen, dass er an der mündlichen Verhandlung teilnehmen möchte und ausdrücklich Taxikosten beantragt, da keine öffentliche Nahverkehrsanbindung bestehe. Bereits mit seinem PKH-Antrag hat er nachgewiesen, nicht über ausreichende eigene Mittel zu verfügen, um eine Teilnahme sicherzustellen (vgl zu den Darlegungsanforderungen in diesem Punkt BSG Beschluss vom 29.1.2019 - B 5 R 286/18 B - juris RdNr 11 f). Hierüber hätte das LSG nach Maßgabe der Allgemeinen Verfügung (AV) des Ministeriums für Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen vom 26.5.2006 idF vom 30.12.2013 über Gewährung von Reiseentschädigungen (JMBl NRW 2014, 14; vgl auch die Verwaltungsvorschrift über die Gewährung von Reiseentschädigungen an mittellose Personen und Vorschusszahlungen etc - VwV Reiseentschädigung - idF vom 20.1.2014, BAnz AT 29.1.2014 B1, sowie bereits die bundeseinheitlichen Vorschriften über die Bewilligung von Reiseentschädigungen an mittellose Personen und Vorschußzahlungen an Zeugen und Sachverständige vom 12.9.1958, Nds Rpfl 1958, 223; abgedruckt auch bei Lauterbach/Hartmann, Kostengesetze, 17. Aufl 1973, ZuSEntschG Anh, S 582) entscheiden müssen.
Diese AV sieht vor, dass mittellosen Beteiligten auf Antrag Mittel für die Reise zum Ort einer Verhandlung gewährt werden können. Die Entscheidung richtet sich danach, ob die Teilnahme des Beteiligten an der mündlichen Verhandlung notwendig ist. Dazu hat das Gericht den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs und gegebenenfalls das Fragerecht des Beteiligen in der Beweisaufnahme (§ 116 Satz 2 SGG) einerseits und die Möglichkeit der Vertretung durch einen ortsansässigen oder ortsnahen Rechtsanwalt - eventuell unter Bewilligung von PKH - andererseits gegeneinander abzuwägen. Die Entscheidung kann unter Umständen auch dann zugunsten des Beteiligten zu treffen sein, wenn das Gericht aus seiner Sicht deren persönliches Erscheinen nicht für geboten erachtet. Dabei sind auch die Bedeutung der Sache und das mutmaßliche Verhalten eines nicht mittellosen, auf verständige Wahrnehmung seiner Rechte bedachten Beteiligten zu berücksichtigen (BGH Beschluss vom 19.3.1975 - IV ARZ (VZ) 29/74 - BHGZ 64, 139 = NJW 1975, 1124 - juris RdNr 8; BVerwG Beschluss vom 28.2.2017 - 6 C 28.16 - NJW 2017, 1497 - juris RdNr 3).
Die Entscheidung des LSG kann auch auf diesem Verfahrensfehler beruhen. Grundsätzlich bedarf es keines vertieften Vortrags zum "Beruhen" der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Beschwerdeführer behauptet, um sein Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein; wegen der besonderen Wertigkeit der mündlichen Verhandlung als Kernstück des sozialgerichtlichen Verfahrens genügt es, dass eine andere Entscheidung nicht auszuschließen ist, wenn der Betroffene Gelegenheit gehabt hätte, in der mündlichen Verhandlung vorzutragen (vgl nur BSG Beschluss vom 19.12.2017 - B 1 KR 38/17 B - juris RdNr 8 mwN; BSG Beschluss vom 4.3.2021 - B 4 AS 312/20 B - juris RdNr 6). Vorliegend ist jedenfalls nicht auszuschließen, dass das LSG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, wenn der Kläger Gelegenheit gehabt hätte, sich in einer mündlichen Verhandlung zu den rechtlichen und tatsächlichen Aspekten des Rechtsstreits, insbesondere der sinngemäß geltend gemachten und seitens der Hausärzte bescheinigten weiteren Verschlechterung seiner Mobilität, zu äußern.
b) Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob auch der weitere vom Kläger gerügte Verfahrensmangel in jeder Hinsicht dargelegt ist. Allerdings liegt es nahe, dass das LSG den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) auch dadurch verletzt hat, dass es über den Antrag des Klägers auf PKH nicht zeitnah entschieden hat.
Es ist allgemein anerkannt, dass die ablehnende Entscheidung über PKH zeitgleich mit der Entscheidung in der Hauptsache die in Art 3 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG gewährleistete Rechtsschutzgleichheit und den Anspruch auf rechtliches Gehör verletzen kann (BVerfG Kammerbeschluss vom 26.6.2003 - 1 BvR 1152/02 - SozR 4-1500 § 73a Nr 1; BSG Beschluss vom 4.12.2007 - B 2 U 165/06 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 9; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 73a RdNr 11 mwN). Es verstößt zudem gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG), wenn ein Beteiligter durch willkürliche Ablehnung von PKH daran gehindert wird, sich während des Berufungsverfahrens einschließlich mündlicher Verhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen (vgl BVerwG Beschluss vom 9.6.2008 - 5 B 204.07 - juris RdNr 4; Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Aufl 2010, RdNr 654). Ein solcher Verstoß ist aber auch dann anzunehmen, wenn PKH zwar bewilligt wird, dies jedoch wie vorliegend erst nach Ende der mündlichen Verhandlung und Verkündung des Urteils geschieht. Auch in diesem Fall wird der Antragsteller daran gehindert, sich während des Verfahrens und in der mündlichen Verhandlung durch einen Rechtsanwalt vertreten zu lassen.
c) Liegen - wie unter a) dargestellt - die Voraussetzungen eines Verfahrensmangels, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG), vor, kann das BSG auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen (§ 160a Abs 5 SGG). Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.
Fundstellen
Dokument-Index HI14685328 |