Schneller als Richtgeschwindigkeit: Keine automatische Mitschuld

Wer auf der Autobahn mit einer 20 % über der Richtgeschwindigkeit liegenden Geschwindigkeit Fahrzeuge überholt, trägt nicht automatisch eine Mitschuld, wenn ein rechts fahrendes Fahrzeug plötzlich vor ihm auf die Überholspur ausschert und es hierdurch zu einem Auffahrunfall kommt.

Diese Entscheidung des LG Rottweil ist für Verkehrsrechtler äußerst interessant, war es doch bisher Usus, dem Fahrzeugführer, der auf einer BAB die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h überschritten hat, grundsätzlich eine Mitschuld an einem Unfallereignis zuzuweisen, zumindest in Höhe der Betriebsgefahr des Fahrzeugs (25 bis 30%). Im entschiedenen Fall hatte der Fahrer eines Pkws mit einer 20 % über der Richtgeschwindigkeit liegenden Geschwindigkeit eine Reihe von auf der rechten Fahrspur befindlichen Fahrzeugen, vornehmlich LKW, überholt. Einer der Lkw zog unvermittelt vor das überholende Fahrzeug auf die linke Fahrspur. Trotz sofortiger Bremsung konnte der Fahrer einen Auffahrunfall nicht mehr verhindern. Die Fahrerin des Lkw hatte zugegeben, das überholende Fahrzeug nicht gesehen und deshalb „geschnitten“ zu haben.

Haftpflichtversicherung moniert Überschreiten der Richtgeschwindigkeit

Die Haftpflichtversicherung des Lkw wollte angesichts dieser Situation keinen vollen Schadensersatz leisten und berief sich auf ein Mitverschulden des überholenden Fahrzeugs. Ein Mitverschulden sei deshalb gegeben, weil der PKW die Richtgeschwindigkeit auf Autobahnen von 130 km/h um ca. 20 % überschritten habe.

Gesteigerte Sorgfaltspflichten beim Fahrstreifenwechsel

Das LG betonte in der Berufungsentscheidung die besonderen Sorgfaltspflichten des § 5 Abs. 4 Satz 1 StVO, die dem Fahrer eines aus seinem Fahrstreifen ausscherenden Fahrzeugs eine gesteigerte Sorgfaltspflicht auferlegt. Ein Ausscheren ist nach dieser Vorschrift nur erlaubt, wenn eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs ausgeschlossen ist. Diese Vorschrift habe die Fahrerin des LKW nicht beachtet, denn wenn eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs auszuschließen gewesen wäre, hätte es zu dem Unfall nicht kommen können – so das LG. Ähnliches gelte für die in § 7 Abs. 5 StVO statuierte Sorgfaltspflicht, die dem Fahrer eines Fahrzeugs beim Wechsel des Fahrstreifens eine gesteigerte Sorgfaltspflicht auferlege.

Lkw hatte zu wenig Überholpotenzial

Darüber hinaus hatte die Fahrerin des LKW nach Auffassung des LG das Gebot verletzt, andere Fahrzeuge nur dann zu überholen, wenn die Geschwindigkeit des überholenden Fahrzeugs spürbar höher als die des überholten Fahrzeugs ist, § 5 Abs. 2 Satz 2 StVO.

Überschreiten der Richtgeschwindigkeit führt regelmäßig zur Mithaftung

Aber auch dem Fahrer des überholenden Fahrzeugs ist nach Auffassung des LG ein Vorwurf zu machen, denn auch eine Überschreitung der Richtgeschwindigkeit sei nur zulässig, wenn dies zu keiner Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer führt. Wenn es bei Überschreiten der Richtgeschwindigkeit zu einem Auffahrunfall komme, so sei in der Regel eine Mithaftung des Auffahrenden zumindest in Höhe der Betriebsgefahr anzunehmen.

Gesamtbetrachtung der Verschuldensanteile erforderlich

Nach Auffassung des LG waren allerdings in der Gesamtwertung des vorliegenden Geschehensablaufs

  • die multiplen Regelverstöße des ausscherenden LKW gegen § 5 Abs. 4 Satz 1 StVO, § 5 Abs. 2 Satz 2 StVO und § 7 Abs. 5 StVO,
  • die höhere Betriebsgefahr des insgesamt schwerfälligeren LKW,
  • sowie die mit maximal 20 % eher geringe Überschreitung der Richtgeschwindigkeit
  • sowie das Fehlen weiterer dem PKW-Fahrer zurechenbarer, gefahrerhöhender Umstände

zu berücksichtigen.

Fazit: Alleinverschulden der Lkw-Fahrerin

Nach einer Abwägung der Einzelumstände kam das LG zu dem Ergebnis, dass die Betriebsgefahr des PKW vollständig hinter der durch den Lkw verursachten Gefahrenlage zurücktreten könne. Nach Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verantwortungsbeiträge sei daher von einem alleinigen Verschulden des ausscherenden LKW auszugehen. Die Klage der Haftpflichtversicherung des Lkw auf Zahlung eines Teilschadens wies das LG daher ab.

(LG Rottweil, Urteil v. 19.08.2016, 1 S 57/16)




Hintergrund:

Es ist seit vielen Jahren gängige Rechtsprechung, dass sich nur derjenige wie ein "Idealfahrer" verhält, der die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h nicht überschreitet. Kommt es zu einem Unfall bei gleichzeitigem Überschreitung dieser Geschwindigkeit, kann nur dann einer Mithaftung entgangen werden, wenn der Nachweis gelingt, dass der Unfall auch bei einer Geschwindigkeit von 130 km/h geschehen oder es dann zumindest nicht zu weniger schweren Folgen gekommen wäre. Dies kann nur durch die Einholung eines unfallanalytischen Sachverständigengutachtens geklärt werden.

Aus: Deutsches Anwalt Office Premium

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