Neues Wahlrecht schon wieder verfassungswidrig

Erst 2008 hat das Bundesverfassungsgericht das Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Ungleichbehandlung der Parteien durch Überhangmandate. 2011 hat die Koalition des Wahlgesetz geändert, um den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden. Der große Wurf war es wieder nicht.

Wer alles unter einen Hut bringen will, muss scheitern. Dass Deutsche Wahlrecht sollte besonders gerecht werden. Die Vorteile von Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht sollten vereint und durch Beimischung des Föderalismusprinzips zur Vollendung gebracht werden. Hierzu erhielt der Wähler eine Erststimme, um dem Mehrheitswahlrecht Geltung zu verschaffen, eine Zweitstimme, um das Mehrheitsprinzip durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu korrigieren. Ferner wurden die Sitze im Bundestag nach dem Länderproporz aufgeteilt, so dass die Länder untereinander entsprechend der Zahl ihrer Wähler im Bundestag vertreten sind. Die Mischung funktioniert bisher nicht.

Systemfehler

Bereits 2008 hat das Bundesverfassungsgericht das damalige Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt, weil es teilweise widersinnige Effekte wie das negative Stimmgewicht und eine der Zahl der Wählerstimmen nicht entsprechende Sitzverteilung im Parlament bewirkte. Mit der Reform des Wahlrechts im Jahre 2011 wollte die amtierende Koalition die seitens des Verfassungsgerichts gerügten Systemfehler beheben.

Hierauf erhob sich, weil die Neufassung auch mehr oder weniger zufällig den Interessen der größeren Koalitionspartei entgegenkam, ein empörter Aufschrei der anderen im Bundestag vertretenen Parteien.

Gegenwind von allen Seiten mobilisiert

214 Abgeordnete haben hiergegen beim Bundesverfassungsgericht eine Antrag auf Normenkontrolle eingereicht, 3063 Beschwerdeführer haben Verfassungsbeschwerde eingelegt, die Partei Bündnis 90/Die Grünen schließlich haben ein Organstreitverfahren angestrengt - mit Erfolg. Die Verfassungsrichter haben dem Gesetzgeber das Scheitern auf ganzer Linie bescheinigt.

Mehr Stimmen können zu Mandatsverlust führen

Besonders überraschend ist, dass nach § 6 BWG ein Zuwachs an Stimmen für eine Partei zu einem Verlust vom Parlamentssitzen führen kann (= negatives Stimmgewicht). Dies hängt damit zusammen, dass die auf ein Bundesland entfallende Sitzzahl im Bundestag nicht an eine von vorneherein feststehende Größe, sondern an die Höhe der Wahlbeteiligung anknüpft. Erhöht sich für die Partei X die Zahl der Stimmen in einer Weise, die nicht ausreichend ist, dieser Partei einen weiteren Sitz zu verschaffen, so kann diese Erhöhung im gesamten Wahlkontext aber

dennoch geeignet sein, diesem Bundesland insgesamt einen weiteren Sitz zu verschaffen. Dieser fällt dann der Partei Y zu. Somit verschafft die erhöhte Wählerzahl der Partei X paradoxer Weise der Partei Y einen zusätzlichen Sitz: Stimmabgabe und Stimmerfolg fallen auseinander.

§ 6 BWG in mehrfacher Hinsicht verfassungswidrig

  • Nach Auffassung des BVerfG verletzt das negative Stimmgewicht die Wahlgleichheit, die Chancengleichheit der Parteien und  den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl.
  • Die nach § 6 Abs 2 a BWG vorgesehene Möglichkeit der Vergabe von Zusatzmandaten verstößt in ähnlicher Weise gegen die Grundsätze der Verfassung. Durch diese Zusatzmandate sollen sog. „Rundungsverluste“ ausgeglichen werden.
  • „Reststimmen“ die innerhalb der Länderkontingente nicht mehr berücksichtigt wurden, sollen so auf Bundesebene noch einer Verwertung zugeführt werden. Ein bestimmter Reststimmenanteil bleibt aber auch hier unberücksichtigt, so dass eine Ungleichbehandlung der Wählerstimmen unvermeidlich ist.

Überhangmandate führen das Verhältnismäßigkeitswahlrecht ad absurdum

§ 6 Abs. 5 BWG regelt die Vergabe von Überhangmandaten. Die ausgleichslose Zulassung einer großen Zahl von Überhangmandaten führt nach Auffassung er Verfassungsrichter zu einer Aushebelung des Verhältnismäßigkeitprinzips. Nach dem Beitritt der östlichen Bundesländer ist die Gefahr einer Ausuferung der Überhangmandate drastisch gestiegen. Den Verfassungsrichtern ist nach dem wenig überzeugenden Eingrenzungsversuch des Gesetzgebers nun endgültig er Kragen geplatzt. Sie haben daher die zulässige Höchstgrenze für ausgleichslose Überhangmandate selbst auf etwa 15 festgelegt. 

BVerfG, Urteile v. 25.07.2012, 2 BvF 3/11, 2 BvR 2670/11 u 2 BvE 9/11.


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