AOW-Psychologen-Tagung: Wissenschaft trifft Praxis

Wenn Unternehmen und Hochschulen kooperieren, dann entsteht meist eine Win-Win-Situation, das zeigt auch die AOW-Tagung in Braunschweig: Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologen können Personalpraktiker im Bereich der Mensch-Maschine-Interaktion unterstützen.

Die Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologen (AOW) zeigen sich als positiv denkende Fachleute. Die „Veränderungskompetenz stärken“ wollen sie auf ihrer Jahrestagung an der Technischen Universität Braunschweig, wenn sie „Neue Formen der Arbeit in der digitalisierten Welt“ reflektieren. Professorin Simone Kauffeld, die mit ihrem Lehrstuhl für Arbeits-, Organisations- und Sozialpsychologie am Institut für Psychologie der TU Braunschweig den dicksten Brocken stemmt, damit die AOW-Tagung rund läuft, rät Unternehmen, Digitalisierung als Chance zu sehen und Widerstände zu überwinden.

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„In jedem Mitarbeiter, der sich aktiv gegen den Wandel sträubt, steckt Energie“, so Professorin Kauffeld: „Durch die richtige Motivation kann man diese umwandeln“. Nicht zuletzt mit den Erkenntnissen der AOW-Fachgruppe in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie, wie die mehrtägige Veranstaltung in Braunschweig zeigt. Dort sind am „Wissenschaft trifft Praxis“-Tag 650 Teilnehmer unterwegs, darunter 120 Praktiker. Und der Begriff unterwegs ist durchaus wörtlich zu nehmen. Bei 400 Terms an drei Tagen finden auch schon mal zehn Themen gleichzeitig statt. Entscheidung wird also zum wichtigsten Wort.

Wissenschaft trifft Praxis: Wie Unternehmen mit Hochschulen zusammenarbeiten

Zwischen dem Tentomax, dem Zirkuszelt auf dem Unigelände, und den diversen großen Hörsälen und kleinen Seminarräumen treffen sich die Teilnehmer auch auf den Fluren – und führen so manch spannendes Fachgespräch. Zum Beispiel über Dürkopp Adler in Bielefeld. Die weltweit 1.800 Mitarbeiter stellen Spezialnähmaschinen und Nähanlagen für die Bekleidungs-, Polster- und Automobilindustrie her. Personalentwickler Markus Leitloff beschreibt das Installieren von Mitarbeitergesprächen und die Erweiterung der internationalen Kommunikation durch Checklisten und Selbstlernelemente. Führungskräfteworkshops und Mitarbeiterklausuren brachten das E-Learning in der Personalentwicklung voran. Von Beginn an wurden Universitäten einbezogen. Durch den Austauschkreis Ostwestfalen-Lippe kannte Leitloff die Professoren für IT und Wirtschaft aus Bielefeld und Paderborn persönlich, was die Zusammenarbeit mit den Promovenden und Masterstudierenden erleichterte. „Die Uni kriegt die Daten und wir die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse“, beschreibt Markus Leitloff die Win-Win-Situation. Potenzialanalyse, Rekrutierung von Auszubildenden, die Digitalisierung der HR-Prozesse weist auf die mögliche Themenvielfalt.

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Forschung zu Mensch-Maschine-Interaktion

Carsten C. Schermuly, Wirtschaftspsychologie-Professer an der SHR Hochschule Berlin, berichtet, dass er seine Forschung zum Empowerment von Mitarbeitern an der BP Raffinerie in Lingen betreiben konnte. Der enge Zusammenhang zur Arbeitszufriedenheit ist ein Ergebnis, die Relevanz persönlicher Eigenschaften ein anderes. Beides wird auf den Erfolg von New Work in den einzelnen Unternehmen entscheidenden Einfluss haben. Doch noch sind es zu wenige Firmen, die systematisch die Bedingungen der Mensch-Maschine-Interaktion erforschen lassen und sich für ihre Digitalisierungsprozesse Unterstützung an den Universitäten suchen.  

Wissenschaftliche Evaluation der Personalarbeit bei Infineon  

Ein energischer Verfechter der Zusammenarbeit zwischen Personalpraktikern und Wissenschaftlern ist Thomas Marquardt. Deshalb gründete der Global Head of Human Resources der Infineon Technologies AG schon 2004 den Goinger Kreis mit. Und deshalb kommt er zur AOW-Tagung nach Braunschweig. Dort und in seiner täglichen Arbeit setzt sich der Personalmanager dafür ein, „verschiedene Facetten der Digitalisierung für den HR-Bereich abzubilden, ohne Hype-Themen hinterher zu laufen und so die eigene Innovationskraft aufs Spiel zu setzen“.

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Praktisch beginnt das bei dem Halbleiterhersteller in Neubiberg bei München mit regelmäßigen Erhebungen etwa zur Zufriedenheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die maßgeblich durch externe Personalwissenschaftler an den internationalen Standorten konzipiert und durchgeführt werden. Die Ergebnisse machen Marquardt Spaß, denn 80 Prozent der weltweiten Beschäftigten sehen in Infineon einen „sehr guten Arbeitsplatz“.

Kooperation mit Hochschulen zur Gewinnung von Absolventen

Aber es geht nicht nur um Lobeshymnen, die das Personalmanagement sich gerne bei den Mitarbeiterbefragungen abholt, geprüft wird durch Teams aus externen und internen Experten gründlich, ob die richtigen Tools für eine zukunftsfähige HR verwendet werden. „Die wissenschaftspsychologische Komponente ist eine von mehreren Kriterien, die wir in den Teams versuchen abzubilden“, beschreibt Thomas Marquard den Infineon-Standard. Die Zusammenarbeit mit Hochschulen ist dabei vielschichtig. An erster Stelle steht die Gewinnung erfolgreicher Absolventinnen und Absolventen als Berufseinsteiger. Für eine enge Kontaktpflege an den jeweiligen Standorten haben zahlreiche Ingenieurinnen und Ingenieure des Mikroelektronikunternehmens Lehraufträge an Universitäten im In- und Ausland übernommen. Stiftungsprofessuren oder Forschungslabore an Hochschulen werden finanziell unterstützt, Promotionsthemen angeboten und begleitet, das Singapur-Industriestipendium fördert Talente.

Later Life Index: Forschung zum Umgang mit alternden Belegschaften

Der enge Austausch mit der Wissenschaft für den Bereich Personal ist ein stetiger Prozess. „Infineon ist ein Hochtechnologie-Unternehmen, daher liegt eine enge Verzahnung mit der Wissenschaft – über alle Bereiche hinweg – in unserer DNA“, betont Marquardt. Die Themen für Projekte zur Weiterentwicklung von HR-Prozessen und Tools werden aus wissenschaftlich erstellten Bedarfsanalysen gewonnen. Über eine qualitative Studie berichtet auf der AOW-Tagung Max R. Wilckens, der beim Wirtschaftspsychologen Professor Jürgen Deller an der Leuphana Universität Lüneburg promoviert: Der Later Life Work Index für den erfolgreichen organisationalen Umgang mit alternden Belegschaften wurde bei Infineon angewandt. Praktiker wurden befragt, unter anderem über die fortlaufende Planung mit demografischen betrieblichen Daten, über Qualifizierung und Wertschätzung und über den Übergang in den Ruhestand, der individuell begleitet wird. Wilckens sieht gute Chancen für die Leistungsfähigkeit Älterer, allerdings noch keine trennscharfen Effekte auf der betrieblichen Ebene, weil die persönliche Ebene der Mitarbeiter nicht genügend differenziert wird. „Wir wollten keine Altersstereotype erfassen“, sagt er – und forscht weiter.

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Vereinfachung der Personalprozesse und der Infrastruktur zu flexibleren Organisationseinheiten, Evaluierung der Arbeitsbedingungen und Gestaltung der Arbeitsplätze in der digitalen Welt, Bereitstellung moderner HR-Tools und intuitiver Self-Services sowie einfach zu bedienender Kommunikationskanäle, Beratung der Führungspersonen bei personalbezogenen Entscheidungen und Coaching in der Personalführung: Die Themen bei Infineon bleiben für Personalpraktiker konstant. Und das Unternehmen erfüllt, was der BWL-Professor von der Universität St. Gallen, Stephan Böhm, in der AOW-Diskussion fordert. „Die Firmen müssen uns Wissenschaftler reinlassen.“

BMAS beruft Soziologen und Ökonomen in Beratergremien – aber keine Arbeitspsychologen

Den Wert der Zusammenarbeit mit Hochschulen haben auch die Bundesministerien erkannt. Katrin Cholotta stellt am Wissenschaft-trifft-Praxis-Tag der AOW-Tagung die Ansätze vor, mit denen das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) wissenschaftlich fundierte, praxisnahe Politik vorbereiten will. IAB und BIBB tragen mit ihrer Forschung zu evidenzbasierten Entscheidungen bei. In Projekten von INQA, mit der Nationalen Weiterbildungsstrategie und in der BMAS-Denkfabrik wird die Interaktion zwischen Mensch und Maschine untersucht und gefördert. Unternehmenspraktiker, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter sowie Wissenschaftler bearbeiten die Themen gemeinsam.

Doch die Stellvertretende Leiterin Grundsatzfragen der Arbeitspolitik und der Arbeitskräftesicherung im BMAS muss ausgerechnet vor dem Publikum aus Arbeits-, Organisations- und Wirtschaftspsychologen einräumen, dass das Ministerium bisher Soziologen und Ökonomen in Beratungsgremien berief, Arbeitspsychologen aber fehlen. Thomas Rigotti, Professor an der Universität Mainz und Sprecher der AOW-Fachgruppe, verweist darauf, dass Cholotta in dem Zirkuszelt voller Psychologen den Mangel leicht beheben kann.

Positive Zukunftsstimmung

Gastgeberin Simone Kauffeld lässt sich die positive Zukunftsstimmung jedenfalls nicht nehmen und sagt: „Hoffen wir, dass die Podiumsdiskussion auf der AOW-Tagung ein Auftakt in diese Richtung ist.“ Die Forscherin weiß, wovon sie spricht, denn der erste Schritt ist zumindest in Niedersachsen getan. Kauffeld wurde im Mai 2019 als Mitglied in den dreijährigen Strategiedialog der Automobilwirtschaft berufen. Ministerpräsident und Wirtschaftsminister, der Arbeitgeberverband NiedersachsenMetall und die IG Metall Niedersachsen/Sachsen-Anhalt wollen die Forschungserkenntnisse der Uni Braunschweig für die Innovatorenrunde "Arbeit und Qualifizierung" nutzen.


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Schlagworte zum Thema:  Digitalisierung, Industrie 4.0