Selbstführung

Das steckt hinter "Radical Self-Leadership"


Selbstführung: Das Konzept Radical Self-Leadership

Wer führt, muss sich erst einmal selbst führen können – schließlich ist die Vorbild­funktion wichtig. Aber wie kann das gelingen, wenn die Überforderung sowieso schon droht? Reine Oberflächenkosmetik reicht hier nicht. Mit dem Konzept "Radical Self-Leadership", das sich an agile Arbeitsweisen anlehnt, kann ein Weg aus dem Dilemma herausführen. 

Wenn wir das vorherrschende Gefühl unserer Zeit in einem Wort zusammenfassen müssten, würde es wohl "Überforderung" lauten. Die Verzahnung politischer, wirtschaftlicher, technologischer und gesellschaftlicher Umwälzungen wirkt so intensiv wie noch nie in das individuelle Leben hinein. Viele Menschen geben unumwunden zu: Es zehrt an der Substanz.

Führungskräften wird in diesen Zeiten noch mehr abverlangt als sonst. Sie sind für den Erfolg verantwortlich, doch da wartet noch mehr: Sie sollen menschliches Vorbild sein, sich mit KI auskennen, ständig neue Arbeitsmethoden erlernen und eine Transformation nach der anderen mittragen. Dazu kommen die hohen Ansprüche an sich selbst: fit bleiben, als Partner oder Partnerin brillieren, aktiver Elternteil sein, Freundschaften pflegen, sich laufend weiterbilden und an den Wochenenden die Erlebnisse abarbeiten, die man auf seiner Bucket List haben muss, um mitreden zu können. Ansprüche und verfügbare Zeit stehen im Dauerkonflikt – ein ständiger Balanceakt am Rande des Burnouts. Bringt hier Oberflächenkosmetik wie ein bisschen Zeitmanagement, ein wenig Meditation oder Yoga, um die Lage zu entspannen?

Die Antwort lautet: Nein, den Quick Fix gibt es nicht. Selbsttäuschung funktioniert nur für eine kurze Zeit. Um in diesen wilden Gewässern nicht unterzugehen, ist Selbstführung nötig: der bewusste und zielgerichtete Umgang mit den eigenen Bedürfnissen und Kraftressourcen. Das geht tiefer als jeder Trend zur Selbstoptimierung.

Selbstführung heißt Haltung entwickeln

Das Thema "Selbstführung" ist fester Bestandteil moderner Führungstheorien und ist – vereinfacht gesagt – das Ergebnis von Reflexionsfähigkeit, Selbstverantwortung und Selbstregulierung. Wer Selbstführung aber nur im beruflichen Kontext betrachtet, lässt viel Wirksamkeit liegen, denn: Berufliches und privates Leben lassen sich nicht trennen. Spannungen in dem einen Bereich schlagen sich unweigerlich im anderen nieder. Wenn schon Selbstführung, dann also ganz!

Deshalb bezeichnen wir unsere Sicht auf Selbstführung als "Radical Self-Leadership", womit wir keine extreme Form der Selbstoptimierung meinen. "Radix" ist im ursprünglichen lateinischen Wortsinn die Wurzel, der Ursprung oder die Quelle. Genauso verstehen wir das auch: Selbstführung verhilft zu Ausgeglichenheit, Wachstum und Weiterentwicklung, wenn sie ihre Kraft aus starken, gut genährten Wurzeln ziehen kann. Das heißt, nicht nur Ziele zu verwalten, sondern Haltung zu entwickeln. Klarheit wird wichtiger als Kontrolle und Verantwortung wird nicht getragen, sondern übernommen – für das eigene Denken, Fühlen und Handeln. Das kann sich per se nur auf alle Lebensbereiche beziehen: Haltung zeigt man immer oder gar nicht, verantwortungsvoll agiert man immer oder gar nicht. Und: Selbstführung wird in diesem Sinne zu einem Prozess, der die vielen Veränderungen aufnimmt, die auf einen Menschen einprasseln. Persönliche und berufliche Ziele werden immer wieder im aktuellen Kontext bewertet und gegebenenfalls neu priorisiert.

Selbstführung als Prozess mit vier Schritten

Für diesen Prozess haben wir das "Radar-Modell" entwickelt: Die Abkürzung steht für "radical" und die vier Schritte "Auswählen", "Durchführen", "Anpassen" und "Reflektieren". Ein Schwachpunkt vieler Methoden der Selbstführung ist, dass sie das Leben von einem Tag auf den anderen umkrempeln wollen. Das ist eine Überforderung, und deshalb hält sie kaum jemand durch. Das Radar-Modell hingegen schlägt eine tragfähige Brücke zwischen Ist-Zustand und gewünschter Zukunft. Dazu brauchst es zunächst genau das: eine Standortbestimmung und ein Zukunftsbild. An dieser Stelle beschreiben wir den idealtypischen Ablauf, am Ende des Artikels liefern wir eine – vielleicht realistischere – Jump-Start-Version.

1. Standortbestimmung
Der Prozess startet mit einer Analyse: Wo befinde ich mich in verschiedenen Lebensbereichen gerade? Dieser ehrliche Blick auf das, was ist, legt die Ressourcen, Fähigkeiten und Herausforderungen offen, die Einfluss auf Entscheidungen für die Zukunft haben. Welche Werte und Überzeugungen steuern mich? Was motiviert mich, was raubt Energie? Wer bin ich abseits aller Erwartungen? Wie passen meine Träume mit meinen Kompetenzen und Stärken zusammen? Wesentlich ist, dass du ehrlich zu dir bist und Licht wie Schatten unvoreingenommen anschaust.

2. Zukunftsbild
Das ist eine realistische Vorstellung davon, wo du hinwillst. Was kannst und willst du – angesichts deiner aktuellen Situation – annehmen, was willst du verändern? Welche Werte und Überzeugungen sollen in Zukunft den Ton angeben? Welche Rollen oder Verpflichtungen willst du ablegen? Wie sieht dein ideales Leben in einem, sieben oder zehn Jahren aus? Du legst weniger ein fixes Ziel fest, sondern vielmehr eine Richtlinie. Eine grundlegende Klarheit über deine Wünsche ist dafür notwendig, doch was zu dir passt, wird sich erst zeigen, sobald du dich bewegst. Eine wichtige Eigenschaft des Zukunftsbilds ist daher, dass es sich ändern darf. 

"Anpassung" ist das Stichwort, denn zwischen den Pfeilern Standortbestimmung und Zukunftsbild spannt sich der Radar-Prozess auf: die laufende Wiederholung der Schritte Auswählen, Durchführen, Anpassen und Reflektieren. Du arbeitest dich iterativ an deine großen Ziele heran. Dabei kommt das agile Prinzip der Timebox zum Tragen, das heißt, die vier Schritte werden innerhalb eines bestimmten Zeitraums durchlaufen. Wir bezeichnen das als "Herzschlag" und empfehlen einen Rhythmus von 14 Tagen: Das ist eine überschaubare Zeitspanne, für die sich gut planen lässt. Sie lässt Raum für Reflexion und verleitet nicht dazu, Aufgaben aufzuschieben oder Ziele zu groß zu fassen. Für jeden Herzschlag nimmst du dir Aufgaben vor, verpflichtest dich ihnen und erledigst sie in der entsprechenden Zeiteinheit. Sehen wir uns an, was in den einzelnen Phasen passiert. Für jeden Schritt schlagen wir zwei Tools vor, die bei der Umsetzung helfen ( mehr Tools findest du in unserem Buch).

Das Radar-Modell der Selbstführung

Du hast deinen Standort bestimmt und dein gewünschtes Zukunftsbild für verschiedene Lebensbereiche entworfen. Daraus ergibt sich ein Delta, das sich aus sämtlichen Aufgaben zusammensetzt, die für das Erreichen deines Zukunftsbilds notwendig sind. In jedem Sprint oder Herzschlag setzt du eine bewältigbare Menge dieser Aufgaben um.

Schritt 1: Auswählen
Welche Themen auf dem Weg zu deinem Zukunftsbild sollen in deinem nächsten Herzschlag im Mittelpunkt stehen? Dabei geht es nicht um einen umfassenden Plan oder eine perfekte Strategie, sondern um Klarheit und Fokus: Was ist gerade wirklich wichtig? 

Taskboard und Backlog: Mit dem persönlichen Backlog zerlegst du langfristige Ziele in handhabbare Schritte und bringst sie in eine sinnvolle Reihenfolge. Aus dem Backlog wählst du gezielt zwei bis drei Themen aus, die du im nächsten Herzschlag angehen möchtest (etwa mit Hilfe der Eisenhower-Matrix oder der MoSCoW-Priorisierung). In Kombination mit einem haptischen oder digitalen Taskboard lässt sich der Fortschritt visualisieren, was zusätzlich motiviert. Die einfachste Version ist ein Board mit den Spalten " Zu erledigen", "In Arbeit" und "Erledigt". 

Commitment schaffen: Das Trickreiche an der Selbstführung ist, dass der Druck von außen fehlt. Diesen Druck kannst du "imitieren", indem du die Ziele und Maßnahmen für jeden Herzschlag dokumentierst. Teile die Dokumentation mit jemandem, der dich aufmerksam macht, wenn du den Fokus verlierst. 

Schritt 2: Durchführen
Jetzt wird aus den Ideen und Zielen Realität! Motivation ist für die Umsetzung eine gute Voraussetzung, genauso wichtig ist aber eine Struktur, die dich ins Handeln bringt. In dieser Phase müssen nämlich Störungen und Hindernisse überwunden werden, die dich vom Fortschritt abhalten.

Feste Zeiten einplanen: Die meisten Führungskräfte sind so kalendergetrieben, dass nur stattfindet, was im Kalender steht. Also: Plane für deine Aufgaben Zeitslots ein, verbunden mit einem klaren Ziel (zum Beispiel Pitch-Folie fertigstellen, Angebotsentwurf schreiben). Wieder kommt das Timebox-Prinzip zum Tragen: Nimm dir vor, die Aufgabe innerhalb des Zeitrahmens zu erledigen.

Pomodoro-Technik: Menschen können nicht über Stunden hoch konzentriert arbeiten. Versuch es mal in kleinen Happen: Bei der Pomodoro-Technik drehst du für jeweils 25 Minuten alle Ablenkungsquellen ab und fokussierst dich auf deine Aufgabe. Nach 25 Minuten gibt es fünf Minuten Pause, nach vier Pomodoros 15 Minuten. Dieser Wechsel von Arbeit und Pause hilft dir, produktiv zu bleiben.

Schritt 3: Anpassen
Ein Plan ist gut, ein überprüfter Plan besser. In der Phase "Anpassen" richtest du deinen Blick auf die Ziele, die du für diesen Herzschlag gesetzt hast: Was hast du erreicht? Was brauchst du, um auf Kurs zu bleiben oder eine andere Route einzuschlagen? Es geht nicht darum, Ziele um jeden Preis zu erreichen, sondern um Wirksamkeit und Sinnhaftigkeit.

Zielkontrolle & Wochenreview: Plane am Ende jeder Woche 15 bis 20 Minuten ein, um auf deine Ziele zu schauen: Was hast du erledigt? Was ist offen und warum? Was ist nicht mehr relevant? Dieses Mini-Review hilft dir, deine Umsetzung realistisch einzuschätzen, statt sie bloß durchzuziehen. Die Zielkontrolle kannst (und solltest) du auch ausweiten: Wenn du dir Monats-, Quartals- und Jahresziele gesetzt hast, plane Reviews im entsprechenden Rhythmus ein. Genauso ist es sinnvoll, mindestens einmal pro Jahr das Zukunftsbild zu prüfen: Ist es noch stimmig für dich?

Erfolge feiern und sich belohnen: Wir sind oft so selbstkritisch, dass wir gar nicht wahrnehmen, was wir leisten. Schau dir am Ende des Herzschlags an, was du geschafft hast, und dann: Feiere dich dafür auf die eine oder andere Weise! Belohnung wirkt nicht nur, wenn wir sie von anderen bekommen. Sie sorgt dafür, dass du bei aller Zielorientierung deine Energie und Freude behältst.

Schritt 4: Reflektieren
In der Phase "Anpassen" hast du überprüft, inwieweit du deine Ziele in diesem Herzschlag erreicht hast. Doch wie ist es dir dabei ergangen? Wie hast du deine Haltung in diesem Prozess erlebt? Welche Herangehensweisen waren erfolgreich, welche nicht? Hier passiert ein wichtiger Teil echter Selbstführung: das Lernen durch Reflexion. Das braucht Mut zur Ehrlichkeit, und: Es geht nicht um Bewertung, sondern um Einsicht.

Persönliche Retrospektive: Agile Teams nutzen Retrospektiven, um Verbesserungsmöglichkeiten zu identifizieren und konsequent umzusetzen. Der Erfolg liegt auch hier in der Regelmäßigkeit. Stelle dir am Ende jedes Herzschlags die folgenden drei Fragen: 

  • Was lief gut?
  • Was lief weniger gut?
  • Was will ich beibehalten, ändern oder loslassen?

Formuliere konkrete Maßnahmen, um in Zukunft besser vorzugehen und setze realistische Ziele für den nächsten Herzschlag.

Journaling: Ehrliche Reflexion kann am Anfang ziemlich schwerfallen. Beim Journaling lernst du dich selbst besser kennen und trainierst die Selbstwahrnehmung. Notiere täglich deine Gedanken, Gefühle und Erlebnisse, vor allem aber auch Muster, die dir auffallen. Im Laufe der Zeit wirst du dadurch Verbindungen erkennen, die du im Alltag übersiehst.

Handeln statt Perfektion

Die Erfahrung zeigt: Wichtig ist, schnell ins Tun zu kommen. Natürlich kannst du wochenlang an einer persönlichen Vision feilen oder deine Werte und Überzeugungen analysieren. Wenn du aber ausschließlich das tust, wirst du nie oder schwer in die Umsetzung kommen. Aus unserer Sicht ist beides wichtig: Die Auseinandersetzung mit Gegebenheiten und Zielen, die aber bereits von konkreten Umsetzungsschritten begleitet wird.

Daher lautet unser Tipp: Leg los und steige in die Phasen "Anpassen" und "Reflektieren" ein. Dein Weg der Selbstführung beginnt nicht bei null, sondern in deiner aktuellen Lebenssituation. Dir fallen sicher auf Anhieb ein oder zwei drängende Themen ein, die du lösen willst. Das sind Backlog-Kandidaten für den ersten Herzschlag. Anpassen und Reflektieren bedeutet, inhaltlich auf das zu schauen, was du ändern willst, und zugleich eine emotionale Bestandsaufnahme zu machen: Wie fühle ich mich in meiner aktuellen Situation und wie geht es mir mit den Änderungen, die ich in Angriff nehmen will? Für diesen Zweck ist eine Not-to-do-Liste nützlich: Zu wissen, was du in deinem Leben überhaupt nicht haben, sein oder erreichen willst, ist die beste Grundlage für effektive Selbstführung. Dazu kannst du dir die folgenden Fragen stellen:

  • Welche Aktivitäten kosten mich mehr Energie, als sie mir geben? 
  • Gibt es Verpflichtungen, die ich nur aus Pflichtgefühl übernehme?
  • Welche Gewohnheiten hindern mich daran, meine Ziele zu erreichen?
  • Gibt es Menschen oder Beziehungen, die mir nicht guttun?

So gelangst du schrittweise zu Dingen, die du bewusst nicht mehr tun möchtest, zum Beispiel: "Ich werde keine Treffen mehr mit Menschen vereinbaren, die mich auslaugen." Parallel zu deinen ersten Umsetzungsschritten kannst du unter radicalselfleadership.de/tools das Radar-Canvas herunterladen. Damit kannst du eine grobe Standortbestimmung vornehmen und ein Zukunftsbild skizzieren. In den kommenden Wochen kannst du die Punkte immer weiter verfeinern und dein Backlog entsprechend anpassen. 

Unser abschließender Rat lautet: Habe den Mut, kleine Schritte zu machen. Fokus ist das beste Mittel, um dranzubleiben und so zu dem Gefühl von Wirksamkeit und Selbstbestimmung zu finden, nach dem du dich sehnst.


Dieser Beitrag ist erschienen in neues lernen, Ausgabe 5/2025, das Fachmagazin für Personalentwicklung. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der App Personalmagazin - neues lernen.


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