Fehlerkultur neu denken
Sie haben gerade eine wichtige E-Mail an einen Kunden geschrieben. Doch kurz nach dem Absenden entdecken Sie einen peinlichen Rechtschreibfehler – und das, obwohl Sie die Nachricht extra noch einmal durchgelesen haben. Oder Sie erstellen für ein großes Projekt nach bestem Wissen und Gewissen einen Zeitplan. Doch die tatsächlichen Rahmenbedingungen sorgen für Verzögerung und die versprochenen Ergebnisse können nicht fristgerecht geliefert werden. Der Kunde ist verärgert, und Sie selbst ärgern sich, warum sie nicht besser geplant haben.
Und womöglich kommt Ihnen auch diese Situation bekannt vor: Für einen wichtigen Auftrag kaufen Sie eine große Menge Materialien ein – von einem Spezialhändler, der allerdings nicht offiziell gelistet ist. Sie freuen sich, den Auftrag gesichert zu haben. Doch am nächsten Tag werden Sie für den fehlerhaften Einkaufsprozess gerügt.
Fehlerkultur bedeutet: Fehler ist nicht gleich Fehler
Solche Szenarien zeigen: Im beruflichen Alltag läuft ständig etwas schief. Doch nicht jede Panne wird gleichermaßen als Fehler wahrgenommen. Während wir uns bei einem Tippfehler oder einem verpassten Termin selbstkritisch zeigen, fällt es uns in anderen Fällen schwerer, Kritik zu akzeptieren, etwa wenn wir überzeugt sind, im Sinne des Unternehmens gehandelt zu haben. Es stellt sich die Frage: Wann ist etwas überhaupt ein Fehler – und wer entscheidet das?
Was wir als Fehler bezeichnen, ist immer auch subjektiv geprägt. Wer über Fehler spricht, offenbart immer zugleich auch eigene Deutungen, Erfahrungen und Bewertungen dessen, was er oder sie als Fehler einschätzt. Diese müssen nicht mit der Bewertung des Gegenübers übereinstimmen – Missverständnisse, Schuldzuweisungen oder Abwehrreaktionen sind die Folge. Wer sich kritisiert fühlt, reagiert oft mit Scham oder Rechtfertigung und versucht, ähnliche Situationen künftig zu vermeiden – sei es durch Vertuschung oder übermäßige Absicherung.
Die Relevanz einer gemeinsamen Begrifflichkeit und Sprache zeigt sich insbesondere, wenn man beleuchtet, was der abstrakte Begriff "Fehlerkultur" mitunter in Unternehmen auslöst. Während die Personalabteilung vielleicht eine positive Fehlerkultur etablieren will, um Innovation und Lernen zu fördern, assoziiert die Produktionsleitung mit diesem Begriff eine Aufweichung von Qualitätsstandards. Was in der einen Abteilung als Fortschritt gilt, wird in der anderen als Risiko verstanden. Viele Unternehmen versuchen dieses Spannungsfeld zu umgehen, indem sie nicht mehr von Fehlerkultur und stattdessen von "Lernkultur" oder "Innovationskultur" sprechen – Begriffe, die positiver besetzt sind und so den Umgang mit Fehlern erleichtern sollen. Doch diese Begriffe sind keineswegs beliebig austauschbar. Sie lösen unterschiedliche Assoziationen, Erwartungen und Deutungsmuster aus. Während sowohl Lernkultur als auch Innovationskultur oft mit Entwicklung und Offenheit verknüpft werden, ist die Auseinandersetzung mit konkreten Problemen oder dem Rückblick auf das, was nicht gut lief, meist dem Begriff "Fehlerkultur" zugeordnet. Genau das empfinden viele als unangenehm – nach dem Motto: "Nicht nach hinten schauen, sondern nach vorn." Doch zu einem wirksamen Umgang mit Fehlern gehört mehr als der Blick in die Zukunft. Es braucht auch die Bereitschaft, die strukturellen Ursachen vergangener Fehler zu erkennen, um daraus gezielt Verbesserungen abzuleiten. Und es braucht die bewusste Auseinandersetzung mit der emotionalen Aufladung des Begriffs "Fehler". Offenheit entsteht nicht durch sprachliches Ausweichen – sondern durch ehrliches Hinschauen.
Wird in Organisationen nach einer sprachlich weicheren Alternative für "Fehlerkultur" gesucht, so ist dies selbst oft schon ein Indiz dafür, dass in dem Unternehmen eben noch kein zielführender Umgang mit Fehlern geübt wird.
Fehlerarten differenzieren – für mehr Klarheit im Umgang
Umso wichtiger ist es, sich bewusst mit den eigenen – und den gemeinsamen – Vorstellungen von Fehlern auseinanderzusetzen. Bevor Lösungsansätze gesucht, Maßnahmen definiert oder Konsequenzen gezogen werden, braucht es ein gemeinsames Verständnis und eine gemeinsame Sprache.
Hilfreich ist dabei, nicht pauschal über "Fehler" zu sprechen, sondern zwischen verschiedenen Fehlerarten zu unterscheiden. Ein praxisnahes Modell einer Differenzierung hat Amy Edmondson in ihrer Forschung zur psychologischen Sicherheit erarbeitet. Sie unterscheidet neun Fehlertypen – von bewussten Regelverstößen und Unachtsamkeit über Prozessmängel bis hin zu mutigem Experimentieren, bei dem "Fehler" ausdrücklich erlaubt – ja sogar erwünscht – sind. Eine solche Unterteilung verlässt die starre Unterscheidung zwischen "richtig" und "falsch" oder "Fehler" und "kein Fehler". Sie erkennt vorhandene Potenziale bestimmter Fehler und macht gleichzeitig die risikobehafteten oder schädlichen Faktoren anderer transparent. Eine solche Kategorisierung ermöglicht einen differenzierteren Umgang und macht Fehler besprechbar. Sie stärkt Vertrauen und erhöht Verantwortungsbereitschaft und Lernfähigkeit in Teams und Organisationen.
Dabei darf sie jedoch nicht zu einer vereinfachenden Schablone werden. Denn ebenso wenig, wie alle Fehler gleichzusetzen sind, lassen sich alle Kontexte über einen Kamm scheren. Ein Tippfehler in einer E-Mail hat andere Auswirkungen als ein Behandlungsfehler in der Medizin oder ein sicherheitsrelevanter Fehler im Maschinenbau. Gerade in Berufen mit hoher Verantwortung und potenziell gravierenden Konsequenzen braucht es eine Fehlerkultur, die beides schafft: Sicherheit und Offenheit.
Das bedeutet: Auch dort, wo Fehler "nicht passieren dürfen", ist es essenziell, offen über sie zu sprechen – nicht um Schuld zuzuweisen, sondern um zu lernen und Wiederholungen zu vermeiden. Ein schwerwiegender Fehler ist schlimm genug. Noch schlimmer wäre es, wenn er nicht ernsthaft analysiert und reflektiert wird – und sich deshalb wiederholt.
Fehlerkultur hat auch mit Verantwortung zu tun. Und Verantwortung wird oft negativ verstanden: Wer verantwortlich ist, hat "Schuld" und muss geradestehen. Doch konstruktive Verantwortung bedeutet etwas anderes: die Bereitschaft, sich einer Situation zu stellen, aus ihr zu lernen und es künftig besser zu machen. Diese Haltung erfordert nicht nur Mut, sondern auch strukturelle Klarheit: Nur wer tatsächlichen Einfluss auf Prozesse und Entscheidungen hat, kann echte Verantwortung übernehmen – und daraus sinnvolle Konsequenzen ableiten.
Drei Ebenen einer gelingenden Fehlerkultur
Eine nachhaltig positive Fehlerkultur entsteht aber nicht allein durch eine passende Differenzierung und ein gemeinsames Verständnis zu Fehlern. Sie muss vielmehr aktiv gestaltet und auf verschiedenen Ebenen verankert werden: im Denken und Handeln auf individueller Ebene, im Umgang und Miteinander auf Teamebene und auch in der Kultur sowie den Strukturen und Prozessen der Organisation.
1. Individuelle Ebene – Reflexion und Selbstannahme
Fehler einzugestehen, fällt schwer – nicht nur anderen, sondern auch uns selbst. Ein wichtiger Schritt zu einer positiven Fehlerkultur ist deshalb die individuelle Auseinandersetzung mit der eigenen Fehlerbiografie: Wie wurde mit Fehlern in meiner Erziehung umgegangen? Welche Bilder, Emotionen und Glaubenssätze habe ich verinnerlicht? Nur wer diese Fragen stellt und sich dieser inneren Muster bewusst wird, kann den eigenen Umgang mit Fehlern wirkungsvoll hinterfragen und sich neue Handlungsspielräume erschließen. Auch Sprache spielt gerade auf der individuellen Ebene eine zentrale Rolle: Wie benenne ich eigene Fehler? Wie und mit welchen Worten und Formulierungen reagiere ich auf die von anderen? Anzustreben ist ein wohlwollender und zugleich klarer Umgang – ohne Dramatisierung und ohne Bagatellisierung. Unterstützen können dabei Lerntagebücher und Formate wie kollegiale Beratung oder Supervision.
2. Team- und Abteilungsebene – Räume für Austausch schaffen
Fehler werden häufig zuerst im Team sichtbar und können dort auch gemeinsam besprochen und behoben werden. Doch viele Teams nehmen sich im Arbeitsalltag nicht die Zeit, innezuhalten und Erfahrungen bewusst zu reflektieren. In regelmäßigen Teammeetings steht oft im Vordergrund, welche Aufgaben anstehen und wie Ressourcen verteilt werden. Es bleibt kaum Zeit für einen Rückblick auf das, was gelungen ist, und noch weniger das, was nicht wie geplant funktioniert hat. So bleiben wertvolle Lernchancen ungenutzt. Formate wie Retrospektiven, Fehlerdialoge, das Küren des "Fehlers der Woche" – also eines besonders lehrreichen oder mutigen Fehlers – schaffen konkrete Reflexionsanlässe und helfen dabei, Fehler nicht als Ausnahme sondern als natürlichen Bestandteil des Arbeitsalltags und einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung zu begreifen. Entscheidend für einen offenen Umgang mit Fehlern ist das Gefühl psychologischer Sicherheit: Teammitglieder müssen darauf vertrauen können, dass sie Fehler ansprechen dürfen, ohne sich dabei bloßgestellt, verurteilt oder persönlich abgewertet zu fühlen. Nur wenn ein Fehler nicht den Wert einer Person in Frage stellt, entsteht die Bereitschaft, offen darüber zu sprechen und gemeinsam daraus zu lernen.
3. Organisationale Ebene – Strukturen und Vorbilder
Eine gelebte Fehlerkultur braucht mehr als Ansätze auf individueller und Teamebene – sie muss auch strukturell und kulturell in der Organisation verankert sein. Wird zum Beispiel offen über gescheiterte Projekte gesprochen? Gibt es Raum, um mutige Entscheidungen zu würdigen – selbst wenn sie nicht zum gewünschten Ergebnis geführt haben? Werden Lernerfahrungen öffentlich geteilt? Welche Fehler werden möglichst leise weggesteckt? Solche kulturellen Marker zeigen, wie ernst es einer Organisation mit ihrer Fehlerkultur wirklich ist.
Führungskräften kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu. Sie prägen eine positive Fehlerkultur, indem sie Verantwortung für den Umgang mit Fehlern übernehmen, Impulse setzen und selbst vorleben, was sie sich von den Mitarbeitenden wünschen. Dabei zählt nicht nur, was gesagt wird – sondern vor allem, wie es gelebt wird. Wenn Führungskräfte zwar betonen, wie wichtig Offenheit im Umgang mit Fehlern sei, selbst jedoch keine eigenen Erfahrungen teilen oder nur über Fehler sprechen, nachdem diese erfolgreich behoben wurden, entsteht ein widersprüchliches Signal. Am Ende ist nicht das gesprochene Wort entscheidend, sondern das Verhalten: Wird wirklich offen über Fehler gesprochen – oder nur dort, wo es unkritisch ist? Solche nonverbalen Botschaften wirken tief in die Unternehmenskultur hinein und entscheiden darüber, ob psychologische Sicherheit tatsächlich gelebt wird oder nur behauptet. Gleichzeitig braucht es Rahmenbedingungen, die ungewollte Fehler unwahrscheinlicher machen und das Lernen aus Fehlern systematisch ermöglichen. Dazu gehören:
- transparente Prozesse und Kommunikationswege
- klare Verantwortlichkeiten und Rückmeldestrukturen
- regelmäßiger abteilungsübergreifender Austausch (insbesondere an Schnittstellen)
- Reflexionsformate (Retrospektiven, Lessons Learned et cetera)
- Feedback und wertschätzender Umgang mit Kritik
- Offenheit und agile Grundgedanken in Innovationsprozessen
Wichtig ist, dass die Rahmenbedingungen nicht nur als Kontext- oder Optimierungsfaktoren betrachtet werden. Als Kulturartefakte prägen sie das Verhalten von Mitarbeitenden und Führungskräften maßgeblich.
Vom Fehler zum Fortschritt – ein Perspektivwechsel
Fehler sind keine Störung des Systems – sie sind ein Teil des Systems. Sie zeigen, wo Reibungen entstehen, wo Prozesse unklar sind, wo Erwartungen und Arbeitsweisen auseinandergehen. Kurz: Sie machen sichtbar, wo Entwicklung nötig oder möglich ist. Fehler sind das Rohmaterial für echtes Lernen – sofern wir bereit sind, genau hinzuschauen.
Eine positive Fehlerkultur bedeutet nicht, Fehler herbeizuwünschen, sondern ihnen offen und konstruktiv zu begegnen. Vor allem aber basiert sie auf dem Verständnis, dass nicht Menschen fehlerhaft sind, sondern die Bedingungen, unter denen sie arbeiten.
Fehlerkultur ist mehr als eine Methode. Sie ist Ausdruck unserer Haltung zur Zusammenarbeit: Ob wir uns gegenseitig vertrauen, wertschätzen – und gemeinsam wachsen wollen. Wer Fehlerkultur ernst meint, verändert nicht nur Abläufe, sondern gestaltet die Kultur des Miteinanders – tiefgreifend, mutig und zukunftsorientiert.
Positive Fehlerkultur: erste Schritte
Kultur verändert sich nicht durch große Worte, sondern durch kleine Schritte im Alltag. Sie entsteht, indem wir Wege ausprobieren, Gewohnheiten hinterfragen und Neues wagen. Gerade beim Thema Fehlerkultur lohnt es sich, niedrigschwellig anzufangen. Zum Abschluss daher ein paar einfache, aber wirkungsvolle Anregungen für erste Schritte im eigenen Umfeld:
- Sprache beobachten: Welche Begriffe verwenden Sie für Fehler? Welche Bilder lösen sie aus – bei Ihnen und bei anderen?
- Fehler sichtbar machen: Erzählen Sie im nächsten Teammeeting von einem eigenen Fehler – und was Sie daraus gelernt haben.
- Lernroutinen etablieren: Richten Sie etwa einen monatlichen "Lern-Donnerstag" oder ein kurzes "Was wir heute gelernt haben" am Ende von Meetings ein.
- Mut statt Perfektion belohnen: Heben Sie Beiträge hervor, bei denen jemand Neues ausprobiert und eine neue Erkenntnis gewonnen hat – auch (oder gerade dann), wenn es nicht perfekt war.
- Feedback neu denken: Gestalten Sie Feedback-Räume und achten Sie darauf, dass es dort nicht um Bewertung, sondern um gegenseitiges Verstehen geht.
Fehler sind keine Stolpersteine des Erfolgs – sie sind dessen Rohmaterial. Wer sich traut, genau hinzusehen, mutig zu reflektieren und gemeinsam zu lernen, baut nicht nur Resilienz auf, sondern gestaltet Zukunft. Nicht trotz Fehlern – sondern durch sie.
Dieser Beitrag ist erschienen in neues lernen, Ausgabe 3/2025, das Fachmagazin für Personalentwicklung. Lesen Sie das gesamte Heft hier in der Desktop-Version oder in der App personalmagazin - neues lernen. In der App finden Sie auch die aktuellen News rund um "neues lernen" und den Podcast für die betriebliche Lernszene. Kristina Enderle da Silva und Julia Senner hinterfragen im Podcast "neues lernen" aktuelle Lerntrends, liefern Fakten und geben Einblicke in die Unternehmenspraxis.
Das könnte Sie auch interessieren:
Eine konstruktive Fehlerkultur etablieren
-
Die besten Business Schools für Master in Management
88
-
Wenn KI das Coaching übernimmt
72
-
Die verschiedenen Führungsstile im Überblick
41
-
Psychologische Sicherheit: Erfolgsfaktor für Teamerfolg jenseits der Teamzusammensetzung
401
-
Mini-MBA: Gut und günstig, aber weniger wertvoll
37
-
Investitionen in Weiterbildung nehmen zu, aber verpuffen
34
-
Nicht jeder Change ist eine Transformation
27
-
Autoritärer Führungsstil
26
-
MBAs zum Schnäppchenpreis
25
-
Insead führt erstmals das Ranking europäischer Business Schools an
24
-
KI-Strategie für eine zukunftsfähige Lernkultur im Unternehmen
03.12.2025
-
Chancen von KI für die betriebliche Bildung
03.12.2025
-
Risiken und Grenzen von KI in der Weiterbildung
03.12.2025
-
Podcast Folge 69: Upskill Summit Heilbronn
02.12.2025
-
Frauen bei KI-Weiterbildungen benachteiligt
28.11.2025
-
Wie L&D Zukunftsfähigkeit fördern kann
27.11.2025
-
Podcast Folge 68: Wirksamkeitskontrollen fürs Lernen
25.11.2025
-
Neuer Bitkom-Arbeitskreis "Future of Learning"
21.11.2025
-
Deutschland ist zweitbeliebtestes Studienland für Wirtschaftswissenschaften
20.11.2025
-
Deutsche Beschäftigte lernen – andere lernen schneller
19.11.2025