CLO von VW unterstützt die Schule 42

Lernen und Requalifizierung werden für Unternehmen angesichts der Transformation und des Fachkräftemangels immer wichtiger. Doch wir müssen bereit sein, Neues zu wagen und Bildungskonzepte zu überdenken, meint Ralph Linde, Chief Learning Officer von VW. Die Programmierschule 42 vereint viele seiner Ideen zu Teamarbeit und Selbstorganisation.

wirtschaft+weiterbildung: Sie selbst sind Präsident der 42 Wolfsburg. VW hat die Schule mit einer Summe von 3,7 Millionen Euro unterstützt und fördert sie weiterhin mit zwei Millionen Euro jährlich. Warum dieses Engagement?

Ralph Linde: Zuvorderst: Wir befinden uns in der Transformation. Die Elektromobilität, das autonome Fahren und die zunehmende Vernetzung des Fahrzeugs erfordern viele neue Kompetenzen, besonders im Entwickeln, Coden und Programmieren von Software. In Deutschland haben wir an dieser Stelle Nachholbedarf. Daher müssen und wollen wir etwas tun. Natürlich erhoffen wir uns über die 42er Schulen in erster Linie, Softwaretalente für Volkswagen zu gewinnen. Aber es geht auch darum, Regionen zu stärken und bundesweit zum Kompetenzaufbau beizutragen. Denn nicht nur wir brauchen Softwarekompetenzen im Unternehmen, sondern auch unsere Zulieferer und das ganze Umfeld unseres Konzerns. Und welche Rolle spielt für Sie dabei das zugrundeliegende Lernkonzept der 42? Ralph Linde: Ich glaube, dass das Thema Bildung insgesamt unter einem hohen Disruptionsdruck steht. Unser aktuelles Bildungssystem setzt noch immer stark auf die Einzelleistung, nicht auf die Gruppenleistung. Wir müssen aber vor allem dahin gelangen, dass Menschen selbstbestimmter lernen können. Für beides ist das Konzept der "Schule 42" ein sehr gutes Beispiel. Die 42 vermittelt auf höchstem Niveau Kompetenzen zur Softwareentwicklung und das mit methodisch neuen Wegen.

Gamification statt klassischer Frontalunterricht

wirtschaft+weiterbildung: Was genau ist das Attraktive am Konzept der 42? Was macht es aus Ihrer Sicht so neu und anders?

Linde: All das, was im klassischen Bildungssystem vorherrscht, gibt es nicht in dieser Schule so wie Lehrer, Klassenräume oder Unterricht. Außerdem gibt es keine Zulassungsbeschränkung, jeder kann sich bewerben, egal welcher Schulabschluss vorliegt. Die 42 setzt dabei auf viele Elemente, die ich spannend finde – darunter auch der Gamification-Ansatz: Die Schüler und Schülerinnen in der 42 spielen sich gewissermaßen durchs Curriculum. Es gibt insgesamt 21 Level. Mit Level 16 erreicht man das "Junior Developer Level" und mit dem Bestehen von Level 21 das "Master Level". Die 42 zu durchlaufen, ist allerdings kein Kinderspiel. Es ist anspruchsvoll, das Spiel zu bestehen, und wer über bestimmte Zeiträume keine Fortschritte erzielt, kann das Studium nicht fortführen. Bereits das Auswahlverfahren, das sogenannte "Piscine", ist nicht einfach. Dabei suchen wir nicht etwa nur nach Mathe-Nerds, die Informatik können. Wir wollen diejenigen auswählen, die die größten Fortschritte machen und die am besten im Team zusammenarbeiten. Programmierer sind nämlich entgegen aller Vorurteile nicht die einsamen Nerds, die abgeschottet von der Außenwelt, allein in ihrem Zimmer programmieren, sondern es ist vielmehr eine Teamleistung, einen guten Code zu schaffen. Zudem spielt Selbstorganisation als Grundkompetenz eine große Rolle in der 42. Und die Fähigkeit, sich eigenständig schnell Neues anzueignen. Das alles finde ich an dem 42-Konzept sehr spannend. Und das Studium ist kostenlos.

"Peer to Peer Learning" ist die Grundlage der Schule 42

wirtschaft+weiterbildung: Die 42 verzichtet komplett auf Lehrkräfte. Die Community bewertet sich gegenseitig. Warum kann das hier funktionieren – ohne ein Korrektiv, einen Experten von außen?

Linde: Das 42er-Spiel setzt selbst den Rahmen und gibt Orientierung. Hilfe gibt es zudem permanent durch das "Peer to Peer"- Lernen. In einem Klassenzimmer, in Tests und in Klausuren ist es normalerweise nicht üblich, sich zusammenzuschließen oder Ratschläge zu teilen, um ein Problem zu lösen. Bei 42 ist es genau andersherum. Wenn ein Projekt zu schwierig wird, hilft es, eine Gruppe zu bilden, um verschiedene Standpunkte zu teilen und gemeinsam Lösungen zu finden.

Das lebenslange Lernen war jahrelang eine tote Phrase." - Ralph Linde, CLO von VW


wirtschaft+weiterbildung: Wie steht es bei VW allgemein um das lebenslange Lernen, das die 42 ja auch unterstützt?

Linde: Das lebenslange Lernen war jahrelang eine tote Phrase, die alle gerne benutzten. Aber auf die Frage "Wann hast du das letzte Mal gelernt?" hatten die meisten keine Antwort. Es war nur hohles Gerede. Ich habe den Eindruck, das hat sich verändert. Und das ist wichtig. Das lebenslange Lernen muss selbstverständlich werden. Wir sind gerade dabei, unser gesamtes Bildungssystem umzustellen, indem wir Selbstlernplattformen einführen. Wir bauen eine neue digitale Lernwelt, die sich breit nutzen lässt. Dazu gehören Lernshops für die Entwicklung, Produktion und Finanzabteilung, in denen je spezifische Bildungsinhalte zur Verfügung gestellt werden – entwickelt mit Experten und Expertinnen der Fachbereiche.

Mein Ziel ist auch, dass wir das marken- und länderübergreifend teilen können. Neben diesem Bildungsökosystem entwickeln wir auch spezielle Lernpfade. Wir stellen diese in einer Art U-Bahn-Fahrplan dar. Um im Bild zu bleiben: Je nach Ausgangsposition können Sie verschiedene Zielbahnhöfe ansteuern. Rechts steht das Ziel, etwa Junior-Software-Ausbilder oder Datenlogistiker. Links stehen die Orte, an denen die Mitarbeitenden einsteigen können. So kann zum Beispiel ein Metallarbeiter zum Datenlogistiker einsteigen, die Fahrt dauert Vollzeit zwei Jahre über verschiedene Stationen. Wenn Mitarbeitende als Automobil-Mechatroniker und -Mechatronikerinnen einsteigen, ist die Fahrt kürzer und dauert ein Dreivierteljahr, weil schon Vorwissen über Elektrik vorhanden ist. Wer schon Ingenieur oder Ingenieurin für Elektronik ist, fährt nur vier Monate.

Transformation bei VW mit Reskilling- und Upskilling-Programmen 

wirtschaft+weiterbildung: Die Transformation fordert unabdingbar, dass Mitarbeitende neue oder andere Kompetenzen erwerben. Wie gehen Sie damit um?

Linde: Die Requalifizierung ist natürlich ein großes Thema bei uns. Wer heute Otto- und Dieselmotoren entwickelt, wird in Zukunft Elektromotoren schaffen oder andere Themen im autonomen Fahren bearbeiten. Wir unterscheiden hier Up- und Reskilling. Upskilling führen wir im Augenblick in unglaublichen Ausmaßen durch. Das umfasst alle Angebote bis zu drei Wochen. Unter Reskilling fallen alle Maßnahmen ab drei Wochen bis zu zwei Jahren. Es ist aber gar nicht so, dass sich alle Mitarbeitenden neu erfinden müssen. Mitarbeitende der Werksicherheit beispielsweise können in ihrem Berufsfeld bleiben, müssen aber mit vielen technologischen Neuerungen bis zur Drohne umgehen können. Das heißt, viele können ihren Job behalten, müssen sich aber an neue Technologien anpassen. Für andere trifft das nicht zu, sie müssen etwas ganz Neues machen.

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wirtschaft+weiterbildung: Sie scheinen für die Transformation von Bildung und Lernen zu brennen. Würden Sie sagen, dass Sie ein unkonventioneller Personalentwickler sind?

Linde: Ich glaube auf jeden Fall, dass die Disruption uns mehr abverlangt, als weiterzumachen wie bisher. Mir macht es großen Spaß, Neues auszuprobieren. Und ich überschreite gerne die Komfortgrenze, auch meine eigene. Ich bin überzeugt, dass in diesem Grenzgebiet viel zu gewinnen ist. Meine Mitarbeiter denken sicher manchmal: "Jetzt hat er schon wieder eine neue Idee. Das ist ja unerträglich." Und es stimmt manchmal auch. Nicht alle Ideen funktionieren. Aber man muss viele Ideen produzieren, damit ein paar Realität werden. Wer als Führungskraft der Disruption begegnen will, kann nicht immer versuchen, die Erwartungen aller zu erfüllen.

Eine Institution zu führen, bedeutet auch, aus dem Umfeld des Alltäglichen herauszutreten und Neues zu versuchen. Der Bildungssektor ist hier ein Schlüsselsektor. Bildung spielt für die Transformation von Gesellschaft und Unternehmen eine so unglaublich große Rolle wie noch nie zuvor. Dieser Aufgabe und Verantwortung müssen wir uns bewusst sein. Manches klingt schöner, als es andere empfinden. Es ist harte Arbeit, und in vielem sind wir noch nicht so weit, wie wir sein wollen. Ich brenne aber dafür, dass wir das neu anfassen. Bildung muss aus ihrem aktuellen Aktionsrahmen treten. Experimente und der Mut dazu werden dringend gebraucht. Wenn etwas nicht klappt, dann lernen wir daraus. Eine Transformation ohne Risiko gibt es nicht.

Bildung spielt für die Transformation von Gesellschaft und Unternehmen eine so unglaublich große Rolle wie noch nie zuvor." - Ralph Linde, CLO von VW


wirtschaft+weiterbildung: Um diesen Mut zu generieren, braucht es eine Vertrauensbasis im Unternehmen mit einer offenen Fehlerkultur. Was tun Sie ganz konkret, auch als Kulturverantwortlicher von VW, um die Unternehmenskultur entsprechend zu entwickeln?

Linde: Wir habe zum Beispiel vor drei Jahren ein "Role Model Program" etabliert, durch das Führungskräfte Aktivitäten zur Reduzierung der Machtdistanz im Unternehmen und der Veränderung der Zusammenarbeit umsetzen. Jede Führungskraft der Volkswagen AG – das sind 21.000 weltweit – muss mindestens zwei Maßnahmen pro Jahr umsetzen. Wir stellen dafür einen Katalog mit Vorschlägen für Maßnahmen zur Verfügung. Eine heißt etwa "Book your Boss". Das mache ich seit ein paar Jahren selbst regelmäßig. Jede und jeder in meiner Organisation kann mich für eine Stunde mieten. Ich muss in dieser Stunde zuhören und die Mitarbeitenden zu ganz verschiedenen Themen oder Problemen begleiten. Eine weitere Maßnahme ist zum Beispiel das "Shadowing". Wer das wählt, muss einen jungen neuen Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin für zwei Wochen bei sich "mitlaufen" lassen. Das Wichtigste dabei: Die jungen Leute geben täglich Feedback. Oft finden sie unverständlich, was wir den ganzen Tag machen. Für uns ist das spannend, weil es uns zum Nachdenken bringt.

Über die Schule 42

Ihren Ursprung hat die Schule 42 in Frankreich. Die erste "Ecole 42" entstand 2013 in Paris, gegründet vom französischen Unternehmer Xavier Niel und Partnern. Inzwischen gibt es Standorte auf der ganzen Welt. In Deutschland haben 2021 mit 42 Wolfsburg und 42 Heilbronn die ersten Schulen geöffnet, mit der 42 Berlin startet in diesem Jahr ein weiterer Standort den Betrieb. Für die Programmierschule kann sich jeder bewerben - auch ohne Schulabschluss. Das pädagogische Konzept setzt auf selbstverantwortliches "Peer to Peer Learning".

Das Interview in voller Länge und mehr zur "Schule 42" lesen Sie in Ausgabe 6/2022 der Zeitschrift "wirtschaft+weiterbildung".


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