Leadership: Um gute Führung und Führungskultur kümmern

Lohnt es sich, in gute Führung zu investieren? Dieser Frage ist die Unternehmensberatung Mercer mit einer Studie nachgegangen. Studienleiter Dieter Kern erläutert im Interview, was Führungskräfte an guter Führung hindert und welche Rolle HR bei der Verbesserung der Führungskultur spielen sollte.

Haufe Online-Redaktion: Herr Kern, Sie haben Führungskräfte über Führungskräfte befragt – mit dem erstaunlichen Ergebnis, dass die Mehrzahl der Befragten glaubt, nur 39 Prozent der Chefs würden "wirklich gute Arbeit" leisten. Sind die Befragten besonders selbstkritisch oder zeigen sie nur mit dem Finger auf andere, während sie sich selbst für gute Chefs halten?

Dieter Kern: Natürlich können Menschen, ob Personaler oder Führungskraft, weder bei Self Assessments in der Praxis noch bei der Beantwortung unserer Studienfragen "selbstwertdienliche Attributionsfehler" vermeiden. Ehrlich gesagt, hatte ich nicht mit einem besseren Abschneiden gerechnet. Fakt ist, dass die Vielfalt der Aufgaben einer Führungskraft zugenommen hat und in Zukunft weiter zunehmen wird.

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Bei dieser Aufgabenfülle als richtig gute Führungskraft wahrgenommen zu werden, schaffen nur Ausnahmetalente – und von denen gibt es per Definition nur ganz wenige. In dem Ergebnis drückt sich nicht nur Unzufriedenheit, sondern auch die aktuelle Unsicherheit beim Thema Führung aus.

Haufe Online-Redaktion: Wie interpretieren Sie persönlich das Ergebnis: Müssen wir uns Sorgen um die Führungskultur in Unternehmen machen?

Kern: Das klingt mir nach selbstmitleidiger Befindlichkeit und ist mir zu negativ. Sorgen im Sinne von "sich kümmern" finde ich interessanter und produktiver. Und da gibt es zwei, drei Dinge, um die sich Unternehmen kümmern könnten. Dazu gehört, den Elfenbeinturm zu verlassen, in dem heillos überfordernde Leitbilder und realitätsentkoppelte Kompetenzmodelle entwickelt und als verbindlicher Anspruch fest zugeschrieben werden.

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Oder jedem neuen Führungsmodell hinterherzulaufen, weil es momentan erfolgreiche Unternehmen, die Managementindustrie, Akademiker oder Berater als Erfolgsmodell publizieren. Sei dies demokratische Führung, agiles Management, Zen Leadership, Shared Leadership, Digital Leadership oder – auch das gibt es nun – Emergent Leadership. Übrigens: Wenn jemand sich um Kultur sorgen soll, dann zuerst wohl die Führungskräfte. Und sie sind es dann, die in die Pflicht genommen werden, Kultur zu verändern und neue Verhaltensweisen vorzuleben. Dazu braucht es eine Münchhausen-Kompetenz, also die Fähigkeit, sich selbst aus einem unguten Kultursumpf herauszuziehen.

Haufe Online-Redaktion: Was hindert Führungskräfte daran, eine gute Performance abzuliefern? Was sind die wichtigsten Störfaktoren?

Kern: Führungskräfte nennen andere Hürden für gute Führung als Personaler. Die größten Hürden, die von Führungskräften erlebt werden, sind "schlechte Entscheidungsprozesse/Gremien/Governance". Dies sagt jede zweite Führungskraft. Es folgen "Konkurrenz zwischen Führungskräften" und "mangelnde Unterstützung durch den eigenen Vorgesetzten" sowie "unrealistische Ziele" und die "mangelnde Resilienz der Organisation".

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Dagegen sind die Hindernisse aus der Personalerperspektive "Führungspersönlichkeit", "unrealistische Ziele", "mangelnde Fehlerkultur", "Unternehmenskultur" sowie "Führungsmüdigkeit". Nur jeder zehnte beschwert sich über das Incentive-System. An diesem Performance fördernden Instrument, das das "Wollen" des Führungspersonals sichern soll, scheint schlechte Führungsleistung nicht zu liegen.

Haufe Online-Redaktion: Laut Ihrer Studie üben vor allem organisatorische Veränderungen viel Druck auf die Führungskräfte aus. "Change" gab es aber schon immer in der Wirtschaft. Was ist heute anders?

Kern: Wahrscheinlich sind es weniger die Tiefe der Veränderung, sondern die Frequenz und die Transportgeschwindigkeit der Veränderungen, die einen Unterschied machen. Vor allem technologieinduzierte Beschleunigung und Dynamisierung gesellschaftlicher Verhältnisse bewirken als sozialer Wandel die Veränderung in Unternehmen. In jedem vierten Unternehmen nimmt die Change-Aufgabe bis zu zehn Prozent der Gesamtarbeitszeit einer Führungskraft in Anspruch, in jedem dritten bereits 21 bis 40 Prozent. In 13 Prozent der Unternehmen sind es schon 41 bis 60 Prozent und in sechs Prozent der Unternehmen müssen Führungskräfte sogar 61 bis 80 Prozent ihrer Tätigkeit für Change aufwenden.

Haufe Online-Redaktion: Ihre Studie zeigt auch, dass in jedem vierten Unternehmen die Besetzung von Führungspositionen "mehr oder weniger einfach irgendwie passiert". Liegt also das eigentliche Problem darin, dass die falschen Leute Chef werden?

Kern: Pauschal kann nicht gesagt werden, dass die Falschen führen. Zum einen glaube ich mit Blick auf wissenschaftliche Analyse, unsere eigenen Studien, Praxiseinblicke als auch auf episodische Evidenz, dass der Führungsjob anspruchsvoller geworden ist. Um Leadership Quality hoch und die Anzahl toxischer Führungskräfte auf einem erträglichen Maß zu halten, braucht es neben gut gemachter und gemeinter Führungskräfteentwicklung auch Selektion. Zeitgemäße Diagnostik liefert vergleichsweise belastbare Datenpunkte. Und zum anderen: Besser für die Schlüsselpositionen und -personen ein gut gemachtes, valides diagnostisches Verfahren als für alle Ebenen und Führungsjobs ein nachlässiges Verfahren mit Scheinvalidität.

Haufe Online-Redaktion: Welche Rolle kann und muss die HR-Funktion bei der Verbesserung der Führungskultur spielen?

Kern: Gute Arbeit machen und stark sein. Wenn Sie eine starke HR-Funktion im Unternehmen haben, machen nämlich schon 50 Prozent der Führungskräfte einen prima Job. Nach unserer Definition sind HR-Bereiche stark, wenn sie vier Kriterien erfüllen: Hoher Reifegrad der HR-Funktion, der Organisationsentwicklung, der Führungskräfteentwicklung und der Umstand, dass mehr als 40 Prozent der Führungskräfte den erwünschten Führungsstil praktizieren.

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Zudem sind "flexible Arbeitszeiten" (49 Prozent), "Fitness- und Gesundheitsmanagement" (47 Prozent) und "Family Support/Work-Life-Balance" (24 Prozent) die drei Maßnahmen, die Unternehmen additiv zur Führungskräfteentwicklung gegenwärtig am häufigsten umsetzen, um Männer und Frauen in Führungspositionen zu unterstützen.

Haufe Online-Redaktion:  Wie sieht die Realität aus: Wird die HR-Funktion ihrer Verantwortung gerecht?

Kern: Insgesamt haben 35 Prozent der teilnehmenden Unternehmen einen nach unserer Definition starken HR-Bereich. Mehr als die Hälfte der bei der Studie Befragten sieht den Personalbereich beim Thema Organisation und Organisationsentwicklung in einer rein unterstützenden Rolle. Ein knappes Drittel agiert als Berater, weitere 13 Prozent als Experte. Nur in sechs Prozent der Unternehmen kann HR die mächtige und gestaltende Rolle als Initiator und Gatekeeper für das Thema Organisation für sich reklamieren.

Haufe Online-Redaktion: Was empfehlen Sie Unternehmen, die ihre Führungskräfteentwicklung voranbringen wollen?

Kern: Effektive Programme zur Führungskräfteentwicklung sind sehr eng an den tatsächlichen Business-Themen und Problemen des Unternehmens orientiert. Man verknüpft Programminhalte mit den Prioritäten aus dem Geschäft und entwickelt so die Führungsfähigkeit des Einzelnen parallel zur Problemlösefähigkeit der Organisation. Komplexe Probleme werden von Teams gelöst. Im Sinne einer Ermöglichungsdidaktik stärkt moderne Führungskräfteentwicklung zwar auch das Individuum, aber vor allem das Leadership-Team, dessen Zusammenhalt und Funktionsfähigkeit. Im Idealfall gibt es in solchen Settings kaum mehr den Unterschied zwischen "Entwicklung" und "Aufgabenerfüllung". Maßnahmen zur Stärkung der Person sollten dagegen im Zeitalter der Individualisierung auch genauso sein: individuell. Was dem einen der Family-Support, ist dem anderen das Sabbatical und dem Dritten der Aufenthalt an der Business School.

Haufe Online-Redaktion: Und vor welchen Fallstricken in der Führungskräfteentwicklung warnen Sie besonders?

Kern: Leadership Development kann mit Blick auf die Verbreitung, Art und Intensität der Maßnahmen, den hohen Erwartungen, der Vielzahl der Aufgaben und Reorganisationen auch als eine Copingstrategie verstanden werden. Und umso mehr es in Organisationen zu "copen", also zu bewältigen gibt, desto mehr wird Leadership Development betrieben – unabhängig von der tatsächlichen Wirksamkeit oder dem tatsächlichem Return on Investment.

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Über Entwicklungsmaßnahmen investieren viele Unternehmen viel in Verhalten – und vernachlässigen die Verhältnisse. Wo immer dies so ist, besteht Gefahr, dass man sich zu wenig um die andere Seite von Führung, also Organisation, bemüht. Zumindest theoretisch ist dies eine Aufgabe für Personaler.

Dieter Kern ist verantwortlich für die People & Organizational Excellence Practice bei Mercer Central Europe und Leiter der Studie, für die 100 Führungskräfte, HR-Manager und Experten in Zentraleuropa befragt wurden.

Das Interview führte Christoph Stehr.