Individualisiertes Recruiting: Querdenker gesucht

Früher dachten Arbeitgeber in Zielgruppen wie Schüler, Studenten und Professionals. Doch damit trafen sie nur sehr ungenau die Bedürfnisse potenzieller Bewerber. Weshalb Individualisierung ein wichtiger Trend im Recruiting ist und wie diese umsetzbar ist, erläutert Gero Hesse.  

Haufe Online-Redaktion: Herr Hesse, die Digitalisierung verändert die Kommunikation auf allen Ebenen und führt zu einer immer größeren Individualisierung. Welche Auswirkungen hat das auf das Recruiting? Wie individualisiert ist Recruiting heute?

Gero Hesse: Früher wurde sehr stark in Zielgruppen gedacht. Heute gehen die Unternehmen mehr und mehr dazu über, mit Individuen zu sprechen. Das betrifft im Recruiting zum Beispiel die Themen Candidate Experience und Matching. Hier sehen wir aktuell einige technologische Entwicklungen, die in der Start-up-Szene anfangen. Es wird noch etwas dauern, bis sie in die großen Bewerbermanagementsysteme integriert werden. Aber letztlich geht der Trend dahin, die individuelle Erfahrung der Kandidaten in den Blick zu nehmen.

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Haufe Online-Redaktion: Zeichnet sich auch im Employer Branding und Personalmarketing ein Trend zur Individualisierung ab?

Hesse: Das gilt nicht nur für den Recruitingprozess, sondern beginnt schon beim Personalmarketing und Employer Branding. Im Employer Branding gab es früher sehr grobe Zielgruppen-Cluster, zum Beispiel Schüler, Studenten, Young Professionals und Professionals. Das ist heute auch nicht mehr State of the Art. Heute denken wir in Personas, die deutlich feingliedriger sind. In Zukunft wird die Ansprache noch stärker individualisiert. Im Produktmarketing sind Themen wie Data Driven Marketing weit fortgeschritten. In der HR-Szene wird das auch stark diskutiert. Hier geht es zum Beispiel um individualisiertes Storytelling oder um individualisierte Karriereseiten. Diese Trends zeichnen sich klar ab.

Erste Ansätze individualisierter Karriereseiten 

Haufe Online-Redaktion: Wie ist ein individualisiertes Storytelling umsetzbar?

Hesse: Es gibt erste Ansätze von individualisierten Karriereseiten. Wir bei Territory Embrace haben dazu einen Prototyp entwickelt, den wir gerade mit unseren Kunden besprechen. Basierend auf den Daten, die von einem Kandidaten verfügbar sind, kann ich ihm die Karrierewebseite so anzeigen, wie sie für ihn interessant ist. Ich kann ihm zum Beispiel nur diejenigen offenen Stellen zeigen, die in seinem Segment liegen, oder ihm Testimonials aus seinem Segment präsentieren. Das ist das Zukunftsszenario. Im Moment müssen die Interessenten auf der Karrierewebseite noch auswählen, dass sie zum Beispiel Schüler sind und Informationen zum Dualen Studium suchen. Doch diese Entwicklung wird kommen, nicht nur im HR-Bereich. Wir schauen, was bei Amazon und Netflix passiert, und versuchen das dann in HR zu übertragen.

Haufe Online-Redaktion: Welche weiteren Ausprägungen der Individualisierung gibt es?

Hesse: Bislang haben wir über die technische Seite der Individualisierung gesprochen. Auf der persönlichen Seite gehen viele Personalabteilungen weg von der reinen Noten- und Lebenslauf-basierten Betrachtung. Zumindest postulieren immer mehr Unternehmen, dass sie Querdenker suchen, also Menschen, die individuell auftreten und auch so aussehen. Dass die Unternehmen Kandidaten mit Sneakers, Holzfällerhemd und Tattoos als spannend ansehen, ist eine sehr positive Entwicklung. Früher suchten sie die Klon-Armeen in schönen Businesskostümen, deren Vertreter alle ähnliche Vorstellungen und Werte mitbrachten.

Arbeitgeber setzen auf mehr Persönlichkeiten 

Haufe Online-Redaktion: Ist es wirklich so, dass die Unternehmen zunehmend Querdenker suchen? Oder sagen sie es nur, weil es im Moment „hip“ ist?

Hesse: Es gibt Unternehmen, die ganz klar in diese Richtung unterwegs sind und sich um Querdenker bemühen. Es gibt aber auch Unternehmen, die auf ihre Webseite schreiben „Querdenker gesucht“. Ein Blick auf die dazugehörigen traditionellen Fotos zeigt aber, dass diese Aussage nicht stimmen kann. Allerdings fällt auf, dass der Umgang in der Geschäftswelt deutlich liberaler und lockerer wird. Es wird mehr Vielfalt gewünscht und Themen wie Diversity und Inklusion stehen im Fokus. Für mich gehören diese Themen zur Individualisierung, denn es geht nicht nur darum, die Technologie zu betrachten, sondern auch den Faktor Mensch. Deshalb werden wir beim #RC19 anhand von Beispielen zeigen, dass die Individualisierung im Recruiting und Employer Branding besonders viel mit dem menschlichen Faktor zu tun hat. Aber zurück zur Frage: Ich glaube, dass viele Unternehmen in die Richtung Individualisierung und Querdenker gehen wollen, sich aber in ihren Prozessen noch nicht bewegt haben. Doch es gibt auch Unternehmen, die sehr modern agieren. Ein gutes Beispiel ist Adidas. Adidas hat Noten schon lange hinten angestellt und sucht stattdessen nach Persönlichkeiten, die sich mit dem Unternehmen stark identifizieren.

Haufe Online-Redaktion: Das Motto vom #RC19, wie der Recruiting Convent jetzt heißt, lautet „Me, Myself & I“. Wie kommt das Thema Individualisierung innerhalb des Kongressprogramms vor?

Hesse: Bei der Auswahl der Speaker haben wir versucht, den Trend zur Individualisierung abzubilden. Wir wollen einerseits stärker in die Tech-Richtung gehen, andererseits verstärkt in die Content-Richtung gehen. Zusätzlich wollen wir einige Individuen auf die Bühne holen, die in ihrem Metier extrem erfolgreich sind, die aber traditionellen Bewertungskriterien absolut nicht entsprechen. Das alles soll immer im Dreiklang Employer Branding, Personalmarketing und Recruiting abgebildet werden, zusätzlich wollen wir auch angrenzende Themenfelder wie New Work mit einbeziehen.

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Haufe Online-Redaktion: Noch eine Frage zur technologischen Entwicklung: Wie kann moderne Technik individuelle Recruitingprozesse ermöglichen? Können Sie ein Beispiel nennen?

Hesse: Da gibt es sehr viele neue Entwicklungen. Ein Beispiel ist die App Jobufo. Hier können sich Kandidaten mit einem Mini-Video bewerben. Aus Bewerberperspektive ist das cool. Es ist natürlich nicht für jeden Job und für jede Zielgruppe geeignet, aber zum Beispiel für die Systemgastronomie. Hier kann ein Video von jemanden, der glaubhaft macht „Das ist genau das, was ich machen will“, den Unterschied machen. Noten taugen in diesem Segment eher nicht als Auswahlkriterium. Auf meinem Blog stelle ich jede Woche ein HR-Start-up vor. Da gibt es richtig viele gute Ideen. Das Problem ist jedoch die Integration in die Recruiting-Landschaften der Unternehmen. Ich finde es trotzdem spannend, darüber zu reden, weil wir uns in einem Clash der Kulturen befinden. Die Recruiter, die in einer Zeit ausgebildet wurden als es noch Bewerber en masse gab, saßen immer am längeren Hebel. Das verschiebt sich jetzt. Die Recruiter, die in Zeiten des Fachkräftemangels sozialisiert wurden, denken neu und setzen auf neue Tools.  

Haufe Online-Redaktion: Der #RC19 soll größer und internationaler werden. Ist das auch ein Zeichen dafür, dass sich die Recruiting-Szene grundlegend verändert?

Hesse: Die Antwort ist natürlich ja. Aber vielleicht noch zu den Gründen der Veränderung. Wir haben das Format „Recruiting Convent“ von Christoph Beck übernommen und einen Drei-Jahres-Plan entworfen. Zunächst galt es, das bestehende Format moderner zu machen, Streams einzuführen und für mehr Lockerheit zu sorgen. Das war der #RC18 und das wurde gut angenommen. Im zweiten Schritt wollen wir mehr Festival-Atmosphäre schaffen, mit einem Gelände, auf dem die Teilnehmer sich über interessante Start-ups informieren oder an Yoga-Sessions teilnehmen können. Es ist ein Festival, auf dem sich jeder die Themen herauspicken kann, die er an den zwei Tagen erleben möchte. Darüber hinaus streben wir etwa 25 Prozent internationale Speaker an. Wir haben aber nicht vor, eine Tausend-Teilnehmer-Veranstaltung daraus zu machen, sondern wir wollen, dass die Community-Atmosphäre existent bleibt.

Das Interview führte Daniela Furkel.

Zur Person:

Gero Hesse ist Managing Director von Territory Embrace, der Employer Branding-, Personalmarketing- und Recruiting-Einheit von Territory und Organisator des #RC19. Über zehn Jahre war er für das Employer Branding, Personalmarketing und Recruiting bei Bertelsmann verantwortlich.

Schlagworte zum Thema:  Recruiting, Employer Branding, Personalmarketing