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So wichtig ist die Candidate Experience

Der Arbeitskräftemarkt zeigt sich trotz konjunktureller Abkühlung für viele HR-Verantwortliche von einer schonungslosen Seite: In vielen Branchen sind mehr Stellen ausgeschrieben, als es Bewerbende gibt. So rücken Lösungsansätze aus dem Recruiting, wie beispielsweise die Candidate Experience, in den Vordergrund. Doch was kann sie leisten?

Der Druck auf Personalerinnen und Personaler, insbesondere im Recruiting, ist durch den anhaltenden Arbeits- und Fachkräftemangel in vielen Branchen und Berufsfelder enorm. Erschwerend kommt hinzu: Stellenprofile verändern sich im Zuge der Digitalsierung minuter schneller, als Beschäftige die benötigen Kompetenzen erwerben können. Das heißt, Unternehmen suchen nach Skills, die auf dem Arbeitsmarkt noch kaum oder gar nicht vorhanden sind. Somit lastet eine enorme Verantwortung auf dem Recruiting. Es soll mit Technologie, Organisation, Ansprache und Candidate Experience die nötigen Arbeitskräfte beschaffen. Damit scheint insbesondere letztere Herangehenweise ein Revival zu erleben.

Ghosting – gibt’s nicht nur beim Dating

Die Candidate Experience ist kein neuer Ansatz. Bereits seit einigen Jahren beschäftigen sich Talent-Acquisition-Verantwortliche mit Bewerbungsprozessen und Onboarding sowie deren Optimierung. Was hat sich seither verändert?

Zum einen lässt sich beobachten, dass Kandidatinnen und Kandidaten sowie Bewerbende sich immer häufiger unvermittelt aus dem Bewerbungsprozess zurückziehen. Sie springen vorzeitig ab, teilweise sogar noch nach der Vertragsunterzeichnung. Sie "ghosten" ihre potenziellen zukünftigen Arbeitgeber. Manche fangen den neuen Job auch an, erscheinen aber nach kurzer Zeit nicht mehr – oder sind nicht mehr erreichbar. Gerade unter jungen Mitarbeitenden scheint dieses Phänomen verbreitet zu sein, wie unter anderem die Studie Mercer Global Talent Trends 2022/2023 nahelegt. Danach neigt gerade die Generation Z dazu, den aktuellen Arbeitgeber schneller zu verlassen, als dies in früheren Jahren üblich war – selbst wenn sie mit ihrem Arbeitsplatz zufrieden ist. Unternehmen fragen sich deshalb zunehmend, was sie tun können, um dieses Verhalten zu verhindern. Denn Ghosting verursacht Kosten und verlängert die Zeiten bei der Besetzung von Stellen, was wiederum zu einer erhöhten Arbeitsbelastung und Frust in bestehenden Teams führen kann. Also versuchen die Unternehmen beispielsweise mit Pre-Boarding-Maßnahmen entgegenzusteuern.

Neben dem Phänomen des Ghostings zeigen sich weitere Veränderungen rund um die Candidate Experience und das Verhalten der Jobsuchenden. Spätestens seit der Coronapandemie ist der Prozess noch digitaler geworden. Künstliche Intelligenz könnte die Abläufe weiter verändern. Dazu läuft der Großteil der Jobsuche über mobile Endgeräte ab. Das bedeutet kürzere Aufmerksamkeitsspannen. Vor allem aber sind viele Jobsuchende selbstbewusster und wählerischer denn je. Der Arbeitsmarkt bietet ihnen die Möglichkeit dazu.

Messungen machen Handlungsfelder deutlich

Veränderung ist also eine Komponente, auf die es zu reagieren gilt, um eine erfolgsversprechende Candidate Experience sicherzustellen. Fakt ist aber auch: Recruiting darf nicht zu zeitaufwändig und kostenintensiv sein, denn HR-Verantwortliche bewegen sich in einem Umfeld, das durch Multikrisen geprägt ist, darunter Inflation, geopolitische Konflikte, Lieferengpässe und Umweltkatastrophen. Das schränkt die finanziellen Ressourcen ein. Budgets werden nur mit Vorsicht freigegeben und deutlich kritischer hinterfragt, als noch vor wenigen Jahren. In einigen Unternehmen stehen sogar Entlassungen auf der Agenda. Trotz dieser Unsicherheiten ist der Arbeitskräftemangel auch in 2023 weiterhin ein großes Thema.

Wie also lässt sich die Candidate Experience erfolgsversprechend umsetzen? Dies funktioniert nur, wenn Unternehmen sich strukturiert mit dem Verhalten der Bewerbenden beschäftigen und ihnen "zuhören". Im ersten Schritt sollte eine Datenerhebung stehen, um Einblicke in die konkreten Handlungsfelder zu erhalten. Messen statt Bauchgefühl, denn modernes Recruiting basiert auf Daten. Der Vorteil der digitalen Prozesse ist, dass auch die Datenerhebungen in vielen Fällen digital ablaufen und zum Beispiel durch sogenannte Experience-Momente automatisiert ausgelöst werden können. Und so lassen sich Antworten auf Fragen finden wie: Wann springen Jobsuchende im Prozess ab? Was lässt potenzielle Mitarbeitende zögern? Welche Erwartungen an die Candidate Experience hatten sie?

Von Candidate Experience zu Employee Experience

Durch die Datenerfassung finden HR-Verantwortliche Ansatzpunkte, an denen sie konkret arbeiten können. Doch nicht nur der Bewerbungsprozess an sich kann zu Absprüngen führen. Vielleicht war das Gehaltsangebot zu niedrig, vielleicht hat sich in den persönlichen Gesprächen keine Sympathie eingestellt oder die Rückmeldungen aus dem Unternehmen haben schlichtweg zu lange gedauert. Um hier anzusetzen, empfiehlt es sich, die Daten um qualitative Analysen zu erweitern und mit relevanten Zielgruppen ins Gespräch zu gehen.

Als Ausgangspunkt hilft es, die Candidate Journey anders zu denken: Anstatt sie klassisch aus Arbeitgebersicht zu analysieren, hilft es oftmals schon, den Prozess aus der Sicht der Kandidatinnen und Kandidaten zu betrachten und deren Perspektive einzunehmen. Hat man die Problembereiche identifiziert, ist es Zeit, mit den entsprechenden Stellen zu sprechen, die Veränderungen anstoßen können, etwa Recruiting, IT, Compensation & Benefits, Talent Management oder auch die Geschäftsleitung. Dafür müssen eventuelle Silos überwunden wurden und die Erkenntnis in der Unternehmenskultur verankert werden, dass Personalgewinnung nicht nur Aufgabe der Recruiting-Abteilung ist – sondern ins Mindest des geamten Unternehmens gehört.

Damit geht auch einher, dass die Candidate Experience nur ein Teil der Lösung sein kann. Stimmen die Angebote an die Zielgruppen nicht oder werden Versprechungen nicht gehalten, ist das Recruiting machtlos – zumal "Retention", also die Mitarbeiterbindung, in Unternehmen oft noch nicht organisatorisch verankert ist und daher oft das Recruiting verantwortlich gemacht wird, wenn Mitarbeitende das Unternehmen (schnell) wieder verlassen. Arbeitgeber müssen daher anfangen, wie beim Produktmanagement ganzheitlicher zu denken. Nicht nur der "Vertriebsprozess" (gleich Recruiting) muss stimmen, sondern vor allem auch das Produkt selbst – also die Employee Journey, die Employer Value Proposition (EVP), die komplette Employee Experience.

Das alles hört sich richtig, gleichzeitg aber auch überfordernd an? Verständlich. Wichtig ist, ins Machen zu kommen, denn auch kleine Optimierungen können Wirkung haben.

"Experience": kein Projekt, sondern ein andauernder Prozess

Natürlich sollte man das Große und Ganze nicht aus den Augen verlieren. In der Praxis kann es jedoch hilfreich sein, in einem Lösungsmodus zu schalten, das heißt, zunächst einzelne Stellschrauben zu drehen. Das kann beispielsweise bedeuten, den Fokus im ersten Schritt auf einzelne Zielgruppen zu legen oder ein bestimmtes Pilotprojekt anzugehen, bevor man die gesamte Candidate (oder sogar Employee) Journey verändert. Wichtig ist, wie bei Mitarbeitendenbefragungen auch: die Lösung liegt im Zusammenspiel aus Zuhören, Verstehen und Verändern.

Wenig ist frustrierender für alle Beteiligten, wenn die Candidate Experience zwar gemessen wird, aber keine oder nur kosmetische Veränderungen erfolgen. Nicht zuletzt sollte ein kontinuierliches Monitoring implementiert werden, denn Erwartungen verändern sich – und damit auch die Candidate Experience. Employee und Candidate Experience sind nie nur einmalige Projekte, nach denen alles gut ist – sondern viel mehr ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess, der sich aber in jedem Fall auszahlt.