Rn. 113

Stand: EL 39 – ET: 06/2023

Zu klären ist, inwiefern die kodifizierten und nicht kodifizierten GoB Grundlage für die Auslegung der anderen RL-Vorschriften des HGB sind. Die GoB gehören zu den Generalvorschriften und die anderen RL-Vorschriften sind entweder General- oder Spezialvorschriften. Bspw. sind die Vorschriften der §§ 238 und 242 Generalvorschriften, während § 254 eine Spezialvorschrift ist. Nach der Regel "lex specialis derogat legi generali" ergibt sich die Rangfolge der zu beachtenden RL-Normen. Sie besagt, dass Spezial- den Generalvorschriften vorgehen. Diese Prioritätenregel darf aber erst angewendet werden, nachdem die Spezialvorschriften ausgelegt worden sind und dabei die Generalvorschriften, also auch die GoB, berücksichtigt worden sind. Die Spezialvorschriften dominieren die Generalvorschriften also nicht einfach, sondern die Spezialvorschriften sind zunächst auch anhand der Generalvorschriften zu interpretieren, bevor sie angewendet werden dürfen und nach der Prioritätenregel dann auch angewendet werden müssen. Diese Regel bedeutet für die Anwendung der handelsrechtlichen Vorschriften erstens, dass bei der Aufstellung des JA einer KapG oder einer ihr qua § 264a gleichgestellten PersG die ausgelegten (interpretierten) besonderen Vorschriften der §§ 264 bis 289f den Vorschriften für alle Kaufleute (vgl. §§ 238 bis 263) vorgehen, wenn die Vorschriften der beiden Regelungsbereiche inkompatibel sind, d. h. zu unterschiedlichen Rechtsfolgen führen. Zweitens besagt die Regel, dass ausgelegte Spezialvorschriften sowohl den nicht kodifizierten als auch den kodifizierten GoB vorgehen, sofern diese ausgelegten gesetzlichen Vorschriften mit den jeweiligen GoB inkompatibel sind. Immer dann, wenn die gesetzlichen Spezialvorschriften fehlen, sind die kodifizierten und nicht kodifizierten GoB heranzuziehen.

 

Rn. 114

Stand: EL 39 – ET: 06/2023

Gesetzesvorschriften sind also auch mithilfe der GoB auszulegen. Gleichzeitig gilt, dass ausdrücklich gewährte Wahlrechte durch GoB nicht verdrängt werden können, wenn das Wahlrecht einzelnen GoB, z. B. dem Grundsatz der Stetigkeit (vgl. HdR-E, Kap. 2, Rn. 67f.), widerspricht. In diesem Fall verdrängt das Wahlrecht vielmehr den inkompatiblen GoB. Allerdings sind die meisten Wahlrechte durch die nicht verdrängten GoB oder durch das System der JA-Zwecke (vgl. HdR-E, Kap. 2, Rn. 29ff.) begrenzt. Das bedeutet, die Wahlrechte sind konkretisierungsbedürftig und mithilfe der anderen nicht verdrängten Rechtsvorschriften einschließlich der GoB auszulegen und zu bestimmen. Bspw. sind zur Auslegung der gesetzlich eingeräumten Wahlrechte i. R.d. Niederstwertvorschriften (vgl. § 253 Abs. 3 Satz 6) sowie der Bestimmung der HK (vgl. § 255 Abs. 2 Satz 3 und Abs. 3 Satz 2) jene GoB heranzuziehen, die von dem Wahlrecht nicht explizit ausgeschlossen werden. So ist das Imparitätsprinzip des § 252 Abs. 1 Nr. 4 (1. Halbsatz) zur Auslegung des Wahlrechts bei den Niederstwertvorschriften (vgl. § 253 Abs. 3 Satz 6) heranzuziehen (vgl. Koch, WPg 1957, S. 31 (34); Leffson (1987), S. 421ff.; Fey (1987), S. 150ff.; HdR-E, Kap. 2, Rn. 105). Außerdem ist der Grundsatz der Vergleichbarkeit anzuwenden, d. h., die Ausübung eines Wahlrechts bindet den Bilanzierenden bezüglich dieses Wahlrechts für das folgende GJ (vgl. Baetge/Commandeur, in: HWuR (1986), S. 326 (331)); es sei denn, wichtige Gründe, wie die generelle Verbesserung der Aussagefähigkeit der JA-Informationen, sprechen gegen diese Bindung. Im letzteren Fall besteht für den Bilanzierenden nach GoB aber eine Erläuterungspflicht bezüglich des Wechsels der Wahlrechtsausübung (die für Nicht-KapG aber gesetzlich nicht vorgeschrieben ist; vgl. HdR-E, Kap. 2, Rn. 68).

 

Rn. 115–118

Stand: EL 39 – ET: 06/2023

vorläufig frei

 

Rn. 119

Stand: EL 39 – ET: 06/2023

Wahlrechte werden in aller Regel nicht nur durch den Wortlaut der Vorschrift, sondern auch durch den Bedeutungszusammenhang zu anderen Vorschriften begrenzt. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen durch den Wortlaut der Vorschrift gewährte Wahlrechte nicht weiter eingeschränkt sind. So kommt eine absolute Dominanz eines Wahlrechts, also einer Spezialvorschrift, gegenüber den Generalvorschriften, also auch gegenüber den GoB, infrage, wenn die Spezialvorschrift als Ausnahmeregelung rechtspolitisch begründet ist. Dies war z. B. bei dem früher gemäß § 152 Abs. 7 AktG (a. F.) zulässigen, sozialpolitisch begründeten Wahlrecht bezüglich der Bildung von Pensionsrückstellungen für AG der Fall. Dieses Wahlrecht wurde mit außerhalb von Buchführungs- und JA-Zwecken liegenden Motiven begründet, nämlich mit dem Anreiz für UN, Pensionszusagen zu gewähren. Diese Regelung existiert allerdings bereits seit 1985 nur noch für sog. Altzusagen (vgl. Art. 28 EGHGB; HdR-E, Kap. 2, Rn. 103).

 

Rn. 120

Stand: EL 39 – ET: 06/2023

Liegt keine rechtspolitische Begründung für ein Wahlrecht in einer Spezialvorschrift vor, dann sind sowohl die im Gesetz, z. B. die in § 252 Abs. 1, kodifizierten GoB (soweit sie von der Spezialvorsch...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Küting, Handbuch der Rechnungslegung - Einzelabschluss (Schäffer-Poeschel). Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge