Leitsatz (amtlich)

Gehen Unterlagen, die dem Buchnachweis dienen, durch höhere Gewalt verloren, ist der Steuerpflichtige - sofern nicht Anhaltspunkte gegen die Ordnungsmäßigkeit dieser Unterlagen gegeben sind - so zu stellen, als wäre der Buchnachweis erbracht.

 

Normenkette

UStG 1951 § 4 Nr. 26, § 7 Abs. 3; AO § 131 Abs. 1 S. 2

 

Tatbestand

Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb in den hier betroffenen Jahren 1966 und 1967 einen Schrottgroßhandel. Zwischen dem Abend des 4. August (einem Freitag) und dem Morgen des 7. August 1967 wurde das auf dem Gelände seines Lagerplatzes stehende Bürohäuschen, das vergitterte Fenster und eine vergitterte Tür hatte, mit einem Nachschlüssel geöffnet; die Innentüren wurden aufgebrochen. Es wurden entwendet: die Wareneingangsbücher vom 22. Juni 1966 an; das Journal von Mai 1965 an; die Einkaufsbelege von 1964 an; die Kundenkartei, das Kassenbuch von 1964 an und die Kassenbelege. Die polizeilichen Ermittlungen nach dem Täter blieben ohne Erfolg. Vermutungen, daß der Buchhalter, der einen großen Geldbetrag unterschlagen hatte, auch den Einbruch verübt habe, konnten nicht erwiesen werden. Mit Schreiben vom 22. Dezember 1967 unterrichtete der Kläger den Beklagten und Revisionsbeklagten (das FA) von dem Diebstahl und dem Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen.

Während das FA in Kenntnis dieser Tatsachen zunächst im Zuge einer vorläufigen Veranlagung die in den Voranmeldungen für die Monate Januar 1966 bis Dezember 1967 vom Kläger in Anspruch genommenen Steuervergünstigungen (Steuerfreiheit nach § 4 Nr. 26 und Steuerermäßigung nach § 7 Abs. 3 UStG 1951) gewährt hatte, versagte es sie dem Kläger nach Durchführung einer Betriebsprüfung bei der endgültigen Veranlagung für den gesamten Zeitraum vom 1. Januar 1966 bis zum 31. Dezember 1967; die Höhe der Umsätze blieb auch im endgültigen Bescheid (vom 4. November 1971) gegenüber den vorläufigen Bescheiden unverändert. Die Steuernachforderungen betrugen 33 701,48 DM und 39 510,25 DM.

Mit Schreiben vom 23. November 1971 beantragte der Kläger noch innerhalb der Einspruchsfrist den Erlaß der nachgeforderten Steuerbeträge nach § 131 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO). Das FA lehnte den Antrag nach befürwortendem Berichtsvorschlag auf Weisung der OFD ab. Zur Begründung seiner ablehnenden Entscheidung führte es aus:

Der buchmäßige Nachweis des Vorliegens der tatsächlichen Voraussetzungen für die Steuerbefreiung oder Steuervergünstigung sei eine materiell-rechtliche Voraussetzung für deren Inanspruchnahme. Fehle er, so seien Befreiung und Vergünstigung selbst dann zu versagen, wenn die sachlichen Voraussetzungen ihrer Gewährung gegeben seien und lediglich die für den Nachweis erforderlichen Unterlagen ohne Verschulden des Steuerpflichtigen in Verlust geraten seien (Urteil des BFH vom 15. März 1962 V 210/59, StRK, Umsatzsteuergesetz, § 7 Abs. 3, Rechtsspruch 94 = HFR 1962, 359). Eine Unbilligkeit in der Sache liege danach nicht vor (BFH-Urteil vom 9. November 1966 I 43/64, BFHE 87, 333, BStBl III 1967, 156). Auch persönliche Gründe für einen Billigkeitserlaß seien nicht gegeben, da der Steuerpflichtige zuvor seine eigenen Möglichkeiten voll ausschöpfen, d. h. ggf. einen Kredit aufnehmen oder auch die Vermögenssubstanz angreifen müsse.

Die Beschwerde zur OFD blieb ohne Erfolg. Die daraufhin erhobene Klage mit dem Antrag, das FA zum Erlaß von 73 211,73 DM zu verpflichten, wies das FG ab. Zur Begründung seines Urteils hat es ausgeführt:

Die Verwaltungsbehörden hätten von dem ihnen nach § 131 AO eingeräumten Ermessen fehlerfrei Gebrauch gemacht. Zwar liege bestimmten Anordnungen der Verwaltungsbehörden (so z. B. dem aus Anlaß der Sturmflutkatastrophe vom 16./17. Februar 1962 ergangenen Erlaß des BdF vom 29. August 1962) der Gedanke zugrunde, daß bei Verlust der Unterlagen für den Buchnachweis durch höhere Gewalt die Versagung der Steuervergünstigung unbillig sein könne (so auch die BFH-Urteile vom 28. Juni 1972 I R 182/69, BFHE 106, 427, BStBl II 1972, 819, und vom 14. August 1974 I R 189/72, BFHE 113, 120, BStBl II 1974, 728). Ein solches Ereignis liege aber hier nicht vor. Denn der Kläger habe selbst vorgetragen, daß in das Bürohäuschen ein- bis zweimal im Jahr eingebrochen werde, so daß seine Buchunterlagen gefährdet gewesen seien. Auch wenn für gewöhnlich solche Unterlagen nicht gestohlen würden, komme es doch immer wieder vor, daß sie bei Enttäuschung des Einbrechers hinsichtlich der erhofften Beute mutwillig zerstört würden. Der Kläger habe es zu vertreten, daß er für die Abwendung dieser Gefahr nicht ausreichend gesorgt habe.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision des Klägers mit dem Antrag, unter Aufhebung der Vor entscheidung dem Klageantrag stattzugeben, hilfsweise die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen "und einen Steuererlaß auf Grund der Billigkeitsrichtlinien und Billigkeitspraxis der Finanzverwaltung gem. § 131 AO gutzuheißen". Der Kläger führt dazu aus:

Gerügt werde unzureichende Gewährung des rechtlichen Gehörs, unzureichende Beweiserhebung und Verkennung der Vorschrift des § 102 FGO durch das FG. Dieses habe rechtsfehlerhaft die Beschwerdeentscheidung der OFD bestätigt, die den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt, gegen den Grundsatz von Treu und Glauben verstoßen und ermessensfehlerhaft den begehrten Erlaß nach § 131 Abs. 1 AO versagt habe. Der gleiche Vorwurf der Ermessensverletzung treffe das FG selbst.

Wiederholte Einbrüche in den Vorjahren hätten ihm Anlaß zu besonderen Sicherheitsvorkehrungen gegeben (Anbringung von Sicherheitsschlössern an allen Türen, Vergitterung der Fenster und der Eingangstür). Die wichtigsten Dokumente seien in einem Panzerschrank mit dreifacher Schloßsicherung aufbewahrt worden. Anders als das FG habe die OFD Diebstahl grundsätzlich als höhere Gewalt beurteilt, ihn jedoch als Grundlage für einen Erlaß ausgeschlossen. Nach den Grundsätzen des § 102 FGO sei das FG an die Beurteilung des Diebstahls als ein Ereignis höherer Gewalt gebunden gewesen. Da das FG die Auffassung der OFD, höhere Gewalt sei kein Erlaßgrund, zutreffend abgelehnt habe, habe es den angefochtenen Verwaltungsakt aufheben müssen. Im übrigen sei das FG fehlerhaft von der Auffassung der OFD abgewichen, daß der festgestellte Diebstahl kein Ereignis höherer Gewalt gewesen sei. Mit Rücksicht auf die Billigkeitspraxis der Finanzverwaltung in Fällen höherer Gewalt verstoße die Ablehnung des begehrten Erlasses gegen den Gleichheitssatz.

Schließlich sei ihm bei der Schlußbesprechung anläßlich der Betriebsprüfung zugesichert worden, daß er mit einem Steuererlaß rechnen könne. Diese Zusicherung sei nicht eingehalten worden, weshalb die den Erlaß ablehnende Entscheidung auch einen Verstoß gegen Treu und Glauben enthalte.

Zur Stützung seiner Rechtsauffassung, daß - zumindest dann, wenn der Steuerpflichtige alles ihm Mögliche zur Verhinderung des Diebstahls getan habe - auch Diebstahl als höhere Gewalt gewertet werden müsse, hat der Kläger zwei Gutachten des Deutschen wissenschaftlichen Steuerinstituts der Steuerbevollmächtigten e. V. in Bonn vom 16. Mai 1974 und 10. April 1975 vorgelegt.

Das FA ist der Revision entgegengetreten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung, der Beschwerdeentscheidung und des ablehnenden Bescheides des FA.

1. Bei der mit der Klage angefochtenen Ablehnung des begehrten Steuererlasses nach § 131 AO handelt es sich um eine Ermessensentscheidung des FA. In solchen Fällen kann das FG gemäß § 102 FGO nur prüfen, ob der Verwaltungsakt oder die Ablehnung oder Unterlassung des Verwaltungsakts rechtswidrig ist, weil die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Dagegen ist das FG nicht berechtigt, an Stelle der Verwaltungsbehörden selbst das Ermessen auszuüben.

Ein Ermessensfehlgebrauch liegt vor, wenn das FA bei Ablehnung eines nach § 131 AO begehrten Steuererlasses das Vorliegen sachlicher Billigkeitsgründe verkannt hat. Sachliche Billigkeitsgründe haben ihre Ursache im Gesetz (als dem Steuertatbestand) und sind nach ständiger Rechtsprechung dann gegeben, wenn der Gesetzgeber die im Billigkeitswege zu entscheidende Frage - hätte er sie geregelt - i. S. des begehrten Erlasses entschieden haben würde.

2. Für den Fall, daß der Buchnachweis (§ 14 UStDB 1951) infolge Irrtums oder ohne jedes Verschulden des Unternehmers unterblieben ist, hat der erkennende Senat das Vorliegen eines Erlaßgrundes bereits grundsätzlich verneint (Urteil vom 15. Februar 1973 V R 152/69, BFHE 108, 571, BStBl II 1973, 466). Eine andere Entscheidung ist jedoch nach den Grundsätzen der Steuergerechtigkeit und Steuergleichheit in solchen Fällen geboten, in denen Unterlagen für den Buchnachweis infolge höherer Gewalt verlorengehen und keine Anhaltspunkte gegen die Ordnungsmäßigkeit dieser Unterlagen gegeben sind. In diesem Falle ist der Steuerpflichtige so zu stellen, als wenn der Buchnachweis erbracht wäre.

Ob dies bereits im Rahmen der Veranlagung zu geschehen hat (vgl. BFH-Urteile vom 3. Dezember 1953 IV 241/52 U, BFHE 58, 417, BStBl III 1954, 72; I R 182/69 und I R 189/72), kann der Senat dahingestellt bleiben lassen; auf jeden Fall hat es im Rahmen des § 131 Abs. 1 Satz 1 AO - § 227 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) - zu erfolgen (vgl. Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Oktober 1971 GmS-OGB 3/70, BStBl II 1972, 603).

Als höhere Gewalt sind solche Ereignisse anzusehen, die zu verhüten oder abzuwehren der Steuerpflichtige unter den gegebenen Verhältnissen auch durch die äußerste nach Lage der Sache von ihm zu erwartende Sorgfalt nicht imstande war (vgl. dazu Urteile des Reichsgerichts vom 3. November 1938 IV 135/38, RGZ 158, 357, 361; des Bundesgerichtshofs vom 4. Mai 1955 VI ZR 37/54, BGHZ 17, 199, 204 ff.).

Auch ein Diebstahl kann nach Auffassung des Senats je nach den gegebenen Verhältnissen ein Ereignis sein, das als höhere Gewalt zu beurteilen ist. Die Feststellungen des FG rechtfertigen die Entscheidung, daß der Kläger seiner Unterlagen durch höhere Gewalt verlustig gegangen ist. Denn zum Eindringen in das Haus wurden Nachschlüssel benutzt; Türen zu verschlossenen Innenräumen und zu Schränken wurden aufgebrochen. Die Ausführungen des FG zur Sicherung von Buchunterlagen durch tägliche Mitnahme in die Privatwohnung überspannen die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht, die den Steuerpflichtigen hinsichtlich der Aufbewahrung trifft, und übersehen die durch den Transport und die Aufbewahrung zu Hause zusätzlich begründete Verlustgefahr. Anhaltspunkte, die gegen die Ordnungsmäßigkeit der Unterlagen sprächen, sind nicht erkennbar.

Die Ermessensgrenzen für die Entscheidung über den begehrten Erlaß waren, soweit das Fehlen des Buchnachweises allein auf dem Diebstahl beruht, so eingeengt, daß jede andere Entscheidung als der Erlaß der durch den Mangel dieser Unterlagen entstandenen Steuerbeträge ein Ermessensfehler sein müßte (vgl. BFH-Gutachten vom 17. April 1951 GrS D 1/51 S, BFHE 55, 277, BStBl II 1951, 107).

3. Diese Grundsätze haben das FG und die Verwaltungsbehörden verkannt; ihre den Erlaßantrag ablehnenden Entscheidungen verletzen deshalb die Rechte des Klägers. Das Urteil des FG sowie die angefochtene Verfügung des FA in der Gestalt der Beschwerdeentscheidung waren deshalb aufzuheben.

4. Soweit die Ablehnung des Erlaßantrags die Steuern des Veranlagungszeitraums 1966 betrifft, ist die Sache spruchreif, da insoweit der Diebstahl die alleinige Ursache für das Fehlen des Buchnachweises bildet. Für das Jahr 1967 wird das FA den Kläger unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts bescheiden. Dabei wird das FA, soweit der Diebstahl für den Verlust der dem Buchnachweis dienenden Unterlagen nicht ursächlich war (was insbesondere für Umsätze des letzten Vierteljahres 1967 denkbar ist), auch zu prüfen haben, ob insoweit im Schreiben des Klägers vom 23. November 1971 nicht ein Einspruch gegen die Bescheide vom 4. November 1971 zu erblicken ist, in dessen Verfolg der vom Kläger unter Beweise gestellte "nur teilweise unvollständige Buchnachweis" zu prüfen wäre.

5. Nach dem Ergebnis dieser Entscheidung erübrigt sich die Prüfung der vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen.

 

Fundstellen

BStBl II 1978, 169

BFHE 1978, 94

NJW 1978, 968

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