Entscheidungsstichwort (Thema)
Übertragung einer wesentlichen Beteiligung unter Vorbehalt eines Nießbrauchsrechts im Wege vorweggenommener Erbfolge als unentgeltliche Vermögensübertragung; rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977
Leitsatz (amtlich)
1. Die Übertragung einer wesentlichen Beteiligung i.S. von § 17 EStG unter Vorbehalt eines Nießbrauchsrechts im Wege der vorweggenommenen Erbfolge ist als unentgeltliche Vermögensübertragung keine Veräußerung i.S. von § 17 Abs. 1 EStG. Eine Anteilsveräußerung liegt auch dann nicht vor, wenn das Nießbrauchsrecht später abgelöst wird und der Nießbraucher für seinen Verzicht eine Abstandszahlung erhält, sofern der Verzicht auf einer neuen Entwicklung der Verhältnisse beruht (Ablehnung des sog. Surrogationsprinzips).
2. Ein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 liegt bei einem abgeschlossenen Rechtsgeschäft nur dann vor, wenn der Rechtsgrund für die später geleisteten Zahlungen bereits in diesem Rechtsgeschäft angelegt ist.
Normenkette
AO 1977 § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2; EStG § 17 Abs. 1
Verfahrensgang
Tatbestand
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) wurden für das Streitjahr 1995 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. Der Kläger war zu 30 v.H. am Stammkapital einer GmbH beteiligt. Er hielt die Beteiligung im Privatvermögen.
Mit notariellem Vertrag vom 15. Dezember 1995 übertrug der Kläger seinen GmbH-Anteil im Wege der vorweggenommenen Erbfolge zu je 1/4 auf seine vier Kinder. Dabei behielt er sich ein lebenslanges unentgeltliches Nießbrauchsrecht vor; für den Fall seines Ablebens war eine dingliche Last in Form wiederkehrender Zahlungen an die Klägerin vereinbart.
Mit notariellem Vertrag vom 27. Dezember 1997 veräußerten bis auf einen (dieser nur einen Teil) alle Anteilseigner ihre Anteile; von dem Gesamtkaufpreis in Höhe von 12 250 000 DM entfielen auf jedes Kind 1 087 500 DM. Die Eltern verzichteten gegen Zahlung von (4 x 145 000 DM =) 580 000 DM auf ihre Rechte an den veräußerten Anteilen.
Nachdem der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ―FA―) von diesem Vorgang erfahren hatte, änderte er den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid 1995 nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung (AO 1977). Dabei ging er davon aus, dass die Kläger einen Gewinn aus der Veräußerung ihrer Anteile an die Kinder in Höhe von 570 324 DM erzielt hätten. Den Gewinn ermittelte er in der Weise, dass er dem Ablösebetrag anteilige Anschaffungskosten in Höhe von 8 000 DM und anteilige Veräußerungskosten in Höhe von 1 676 DM gegenüberstellte. Der Einspruch blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts (§ 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977, § 17 des Einkommensteuergesetzes ―EStG―).
Das FA beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist nicht begründet. Sie war deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ―FGO―).
Das FA durfte den bestandskräftigen Einkommensteuerbescheid 1995 nicht mehr ändern (§§ 173 Abs. 1 Nr. 1, 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977).
1. Der zu beurteilende Sachverhalt wurde dem FA erst nach Bestandskraft des Einkommensteuerbescheides 1995 und damit nachträglich i.S. von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 bekannt. Die Voraussetzungen dieser Bestimmung sind im Streitfall jedoch nicht erfüllt.
Die Übertragung der Anteile unter dem Vorbehalt des Nießbrauchs im Wege der vorweggenommenen Erbfolge ist zwar im Streitjahr abgeschlossen; sie ist aber als unentgeltliche Vermögensübertragung keine Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung i.S. von § 17 EStG (zur Unentgeltlichkeit von Vermögensübertragungen unter dem Vorbehalt eines Nutzungsrechts, vgl. u.a. Urteile des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 10. April 1991 XI R 7, 8/84, BFHE 164, 343, BStBl II 1991, 791, m.w.N.; vom 17. November 2004 I R 96/02, BFHE 208, 197). § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 bietet auch keine Rechtsgrundlage für die steuerrechtliche Berücksichtigung der Zahlung des Ablösebetrags für das Nießbrauchsrecht als Veräußerungspreis i.S. des § 17 EStG. Die Bestimmung ist zwar auch dann anzuwenden, wenn ―wie dies bei § 17 EStG der Fall ist― der Steuertatbestand an ein einmaliges punktuelles Ereignis anknüpft, er aber zeitlich gestreckt in verschiedenen Veranlagungszeiträumen verwirklicht wird und das später verwirklichte Tatbestandsmerkmal ein rückwirkendes Ereignis i.S. von § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 ist (BFH-Urteil vom 19. April 2005 VIII R 68/04, BFH/NV 2005, 1660). Ein solches Ereignis liegt hier aber aus den nachfolgenden Gründen nicht vor.
2. Ob ein Ereignis steuerrechtlich zurückwirkt, ist in erster Linie ein Problem des materiellen Rechts, hier also der Bestimmung des § 17 EStG (vgl. u.a. BFH-Urteil vom 19. August 2003 VIII R 67/02, BFHE 203, 309, BStBl II 2004, 107, m.w.N.; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 175 AO 1977 Tz. 22, m.w.N.). Diese erfordert mit der Übertragung der wesentlichen Beteiligung auf den Erwerber und einem hierfür erzielten Entgelt die Beurteilung eines einheitlichen Sachverhalts. Ohne Entgelt fehlt eines der Merkmale, an das § 17 EStG die Besteuerung knüpft (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 19. Juli 1993 GrS 2/92, BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897 zu § 16 EStG, und BFH-Urteil in BFHE 203, 309, BStBl II 2004, 107 zu § 17 EStG). So liegt der Fall hier auch bezüglich des Ablösebetrags für das Nießbrauchsrecht.
a) Der Große Senat des BFH hat sich in seinem Beschluss in BFHE 172, 66, BStBl II 1993, 897 eingehend mit der Frage auseinander gesetzt, wann ein "rückwirkendes Ereignis" bei der Besteuerung des Gewinns aus der Veräußerung eines Einzelunternehmens gemäß § 16 Abs. 1 und 2 EStG vorliegt. Er hat entschieden, der Ausfall einer gestundeten Kaufpreisforderung für die Veräußerung eines Gewerbebetriebes in einem späteren Veranlagungszeitraum sei ein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung auf den Veräußerungszeitpunkt. Der erkennende Senat hat darüber hinaus im Urteil vom 21. Dezember 1993 VIII R 69/88 (BFHE 174, 324, BStBl II 1994, 648; zuletzt im Urteil in BFHE 203, 309, BStBl II 2004, 107) entschieden und im Einzelnen begründet, dass die Grundsätze, die der Große Senat zu § 16 EStG aufgestellt hat, auch für die Besteuerung des Veräußerungsgewinns nach § 17 EStG gelten. Nachträgliche Änderungen des Kaufpreises für eine wesentliche Beteiligung wirken danach auf den Zeitpunkt der Veräußerung zurück. Das gilt für die nachträgliche Uneinbringlichkeit oder die nachträgliche Minderung des Kaufpreises ebenso wie für die nachträgliche Erhöhung des Kaufpreises und insbesondere auch für den Fall, dass die Vertragsparteien im Zeitpunkt der Übertragung der Beteiligung noch keine abschließende Einigung über die Höhe des Kaufpreises erzielt haben oder die Höhe des Kaufpreises von der künftigen Entwicklung des Unternehmens abhängig sein soll (BFH-Beschluss vom 27. September 1994 VIII B 21/94, BFHE 175, 516).
b) Nach diesen Grundsätzen ist auch der Fall zu beurteilen, dass die Vertragsparteien wegen der von ihnen angenommenen oder objektiv vorliegenden Unwirksamkeit eines Kaufvertrages den Kaufpreis später neu festsetzen (vgl. ―zu § 6b EStG― BFH-Urteil vom 13. September 2000 X R 148/97, BFHE 193, 129, BStBl II 2001, 641, und ―für eine unter der aufschiebenden Bedingung der vollständigen Kaufpreiszahlung stehende Abtretung einer wesentlichen Beteiligung― BFH-Urteil vom 17. Februar 2004 VIII R 28/02, BFHE 205, 426, BStBl II 2005, 46, und in BFHE 203, 309, BStBl II 2004, 107, zur auflösenden Bedingung). Entsprechendes gilt, wenn die Vertragsparteien in einem wirksamen Vertrag bestimmen, dass nur bei Eintritt einer bestimmten Bedingung für die erbrachte Leistung ein Entgelt zu entrichten ist und sich der Vertrag insoweit als schwebendes Veräußerungsgeschäft erweist. Tritt die Bedingung ein und erbringt der Erwerber die vereinbarte Gegenleistung, ist der Veräußerungsgewinn im Jahr der Übertragung der Beteiligung zu erfassen (BFH-Urteil in BFH/NV 2005, 1660).
c) Anders als in den genannten Fällen besteht im Streitfall kein erkennbarer sachlicher Zusammenhang zwischen der Übertragung der Anteile auf die Kinder und der von diesen für die Ablösung des Nießbrauchsrechts geleisteten Zahlungen. Ein solcher Zusammenhang liegt bei einem abgeschlossenen Rechtsgeschäft nur vor, wenn der Rechtsgrund für die später geleisteten Zahlungen bereits in diesem Rechtsgeschäft ―hier dem Vertrag über die vorweggenommene Erbfolge― selbst angelegt ist (zu dieser Abgrenzung zum "neuen Geschäft" BFH-Urteil in BFHE 203, 309, BStBl II 2004, 107, unter 3. der Gründe). Davon kann der Senat im Streitfall nicht ausgehen.
aa) Der erforderliche sachliche Zusammenhang ergibt sich nicht schon daraus, dass das Entgelt für den Verzicht auf das im Vertrag über die vorweggenommene Erbfolge vereinbarte Nießbrauchsrecht gezahlt worden ist. Der Verzicht auf ein vorbehaltenes Nutzungsrecht kann Gegenstand eines selbständigen Rechtsgeschäfts sein (vgl. u.a. BFH-Urteile vom 25. November 1992 X R 34/89, BFHE 170, 76, BStBl II 1996, 663, und vom 14. Februar 1996 X R 106/91, BFHE 180, 87, BStBl II 1996, 687); der Ablösevorgang ist weder zivilrechtlich noch steuerrechtlich der ursprünglichen Bestellung des Nutzungsrechts zuzurechnen und als nachgeschobene Auflage der ursprünglichen Schenkung zu beurteilen (zur Ablehnung dieses "Surrogationsprinzips" vgl. insbesondere BFH-Urteile vom 21. Juli 1992 IX R 14/89, BFHE 169, 313, BStBl II 1993, 484, und IX R 72/90, BFHE 169, 317, BStBl II 1993, 486; vom 15. Dezember 1992 IX R 323/87, BFHE 169, 386, BStBl II 1993, 488). Von diesem Grundsatz ist auch für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO 1977 auszugehen, wenn es sich ―wie regelmäßig― bei der Übertragung des belasteten Wirtschaftsguts und der Ablösung des Nutzungsrechts um zwei getrennte, auf selbständigen Willensentscheidungen der Beteiligten beruhende Rechtsgeschäfte handelt.
bb) Das FG hat dies im Streitfall mit dem Hinweis bejaht, dass die Kläger unwidersprochen vorgetragen haben, die spätere Veräußerung der Anteile durch die Kinder und ihr ―der Eltern― damit zusammenhängender Verzicht auf das Nießbrauchsrecht beruhten auf einer neuen Entwicklung der Verhältnisse; Anhaltspunkte für das Gegenteil seien nicht erkennbar. Daran ist der erkennende Senat gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO).
Fundstellen
Haufe-Index 1439554 |
BFH/NV 2005, 2266 |
BStBl II 2006, 15 |
BFHE 2006, 278 |
BFHE 210, 278 |
BB 2005, 2386 |
DB 2005, 2335 |
DStR 2005, 1853 |
DStRE 2005, 1368 |
DStZ 2005, 807 |
HFR 2005, 1175 |