Wird der Kern des Controllings aus den Augen verloren?

Dr. Herwig Friedag und Dr. Walter Schmidt befürchten, dass über KI, Automatisierung und Agilität der Kern des Controllings verloren geht. Sie plädieren dafür, dass im Controlling wieder Transparenz für Ursachen, Verantwortlichkeiten und Umsetzungskonsequenz an erster Stelle stehen sollten.

Die Veränderungen in der Wirtschaft schreiten schnell voran. Digitalisierung, Industrie 4.0, Klimawandel oder Environmental Social Governance (ESG) sind einige Stichworte. Das geht auch am Controlling nicht spurlos vorüber. Entsprechend häufen sich Artikel und Vorträge zu den Reaktionsmöglichkeiten, um auf die anstehenden Veränderungen angemessen reagieren zu können – sei es durch Künstliche Intelligenz, die Automatisierung geeigneter Prozesse oder Agilität im Handeln. In der Summe der aktuellen Diskussionen erscheint es jedoch, als ob der Kern des Controllings aus den Augen verloren wird.

Transparenz der Verantwortlichkeiten

Das beginnt mit der Basisarbeit der Zusammenstellung der Mengen- und Kostenströme. Im Unterschied zur Kostenrechnung sorgt das Controlling für die Transparenz der Verantwortlichkeiten im Unternehmen. Ohne namentliche und eindeutig definierte Verantwortung gibt es keine Rationalitätssicherung.

Die Menschen hinter den Zahlen sehen (Dr. Albrecht Deyhle)

In vielen kleineren Unternehmen, die erfolgreich wachsen und sich vor die Aufgabe gestellt sehen, ein eigenes Controlling aufzubauen, ist das nach wie vor die erste und schwierigste Herausforderung. Weil die "Gründer" in den Anfangsjahren meist alle Verantwortung auf sich gezogen haben und nun nicht wirklich loslassen wollen oder können, während die anderen Mitarbeiter nicht gewohnt sind, selber Verantwortung zu übernehmen.

Das ist heute nicht anders als vor fünfzig Jahren. Deshalb steht die schon in den 1970er Jahren erhobene Forderung von Albrecht Deyhle, "die Menschen hinter den Zahlen zu sehen", immer noch als die entscheidende Grundlage und der Beginn jeder Art von Controlling auf der Tagesordnung.

Nur sofern das gelingt, wird aus der Beschäftigung mit Kosten eine beständige Weiterentwicklung der Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitern, Kunden, Lieferanten und allen anderen Kooperationspartnern. Anderenfalls erzeugen wir nichts anderes als Zahlenfriedhöfe – und das ist nur ein anderes Wort für Verschwendung von Zeit und Geld.

Daran ändert sich auch wenig, wenn die Daten digital erfasst und verarbeitet werden und die Zahlenfriedhöfe automatisch entstehen. Maschinen sind programmiert, nur Menschen können emotionales Handeln durch Rationalität ergänzen. Und rationales Denken erfordert Aufmerksamkeit, die wiederum davon abhängt, wofür wir uns verantwortlich fühlen.

Das setzt sich fort mit den Preisen. Auch hier unterscheidet sich das Controlling von der Kalkulation durch Verantwortlichkeit für die Kundenbeziehungen. Preise und Kosten hängen zusammen wie kommunizierende Röhren. Hohe Preise erzeugen andere Kunden als niedrige. Beides muss man sich leisten können, weil sie auf unterschiedlichen Wertschöpfungs-Netzwerken aufbauen und verschiedene Produktivitäten, Betreuungsformen, Absatzwege und Verkaufsmengen erfordern. Die nackten Zahlen allein spiegeln das nicht wider.

Deshalb benötigen Unternehmen ein Controlling, das den Zusammenhang von Preisen, Absatz und Kosten erfassen und mit einem Netzwerk der Verantwortlichen verbinden kann. Hierbei hilft eine alte Marketingweisheit, die ebenso für Mitarbeiter, Lieferanten- und Kooperationspartner gilt: "Hilf Deinen Kunden erfolgreich zu sein, dann helfen sie Dir, Erfolg zu haben".

Das Warum muss erkennbar sein

Controlling hat dafür zu sorgen, dass das Warum für Kunden, für Mitarbeiter, Lieferanten etc. erkennbar wird – und wer dafür verantwortlich ist.

"Wer ein Warum hat, dem ist kein Wie zu schwer",

schrieb einst Friedrich Nietzsche.

Wir haben schon oft über stimmige Kennzahlen geschrieben und dabei die Geschichte erzählt von den Frauen in einem Chemiefaserbetrieb. Sie waren verantwortlich für die Verdrillung der empfindlichen Fasern zu Garnen für die Teppichproduktion. Aber darüber wurde nie kommuniziert. Als Führungs-Kennzahl wurde bei ihnen – wie konzernweit üblich – der "ROCE" genutzt. Für die Frauen war das "Rotze" und mit Rotze kann man nicht führen. Nach einigen Diskussionen wurde ersichtlich, warum es der Frauen an den Drillautomaten bedurfte. Die kleinen Fädchen rissen ab und an und mussten "verknotet" werden. Von der Anzahl der Knoten hing die Qualität der Garne ab und von der Qualität der vereinbarte Preis. Das alles geschah zwar automatisch. Aber durch entsprechende Steuerung der Maschinen war die Knotenbildung beeinflussbar. Nicht alles können Automaten so gut leisten, wie in ihrer Bedienung erfahrene Menschen. Also wurde festgelegt, statt der Rotze die "Anzahl der Knoten" zu messen. Das musste nur aus den Daten der Maschinen ausgelesen werden.

Die Wirkung hat alle Beteiligten überrascht. Zum ersten Mal war verständlich geworden, warum die Frauen gebraucht wurden. Und der Erfolg ihrer Arbeit wurde sichtbar, Je niedriger die Anzahl der Knoten war, umso mehr konnten sie stolz auf sich sein. Das Wie kannten sie ohnehin. Dafür waren sie erfahren genug. Im Ergebnis konnte die Anzahl der Knoten um ca. 25 % gesenkt werden. Bei gleichen Kosten stieg die Qualität und damit die realisierte Preissumme. Die Kunden hatten weniger Probleme bei der Verarbeitung der Garne und die Frauen mehr Anerkennung. Am Ende stieg auch der ROCE. Die "einfache" Frage nach dem Warum hatte zu einer stimmigen Kennzahl geführt. Wenn Controlling das leistet, lohnt sich der Aufwand allemal.

Solidität muss gewährleistet sein

Auf der anderen Seite der Basisarbeit steht die Verantwortung für die Liquidität und damit die Solidität des Unternehmens. Es geht darum, alle erforderlichen Aktivitäten jederzeit finanzieren zu können. Auch dafür muss transparent sein, wer sich konkret und mit welchen Zielen darum kümmert. Was dabei unter Solidität zu verstehen ist, muss jedes Unternehmen für sich selbst definieren. Das hängt insbesondere davon ab, welche Strategie das Unternehmen verfolgt. In jedem Falle aber gilt die Regel, dass die Überschüsse der Einzahlungen über die Auszahlungen so bemessen sein müssen, dass damit die Strategie finanziert werden kann.

Dazu bedarf es quantifizierbarer Vorstellungen, wie sich das Unternehmen zukünftig positionieren will, über welche Entwicklungspotenziale es verfügen muss, um das zu erreichen und welche strategischen Aufwendungen heute dafür zu leisten sind. Zusammen mit dem Warum besteht der Kern der Strategie darin, sich auf das vorzubereiten, was kommt. Das operative Geschäft ist erst dann erfolgreich, wenn es dem strategischen Geschäft die erforderlichen Freiräume verschafft – sowohl finanziell als auch zeitlich.

Für das Zusammenspiel von operativem und strategischem Geschäft sind letztlich alle Führungskräfte verantwortlich. Doch das ist zu abstrakt. Das Controlling muss auch in diesem Aufgabenfeld dafür sorgen, dass eine konkrete Zuordnung eindeutiger Verantwortlichkeiten erfolgt. Es muss dafür sorgen, dass für diesen Zweck eine Willensvereinbarung aller Beteiligten erarbeitet wird. Und dass es dafür stimmige – also verständliche, handhabbare und bedeutsame – Kennzahlen gibt wie die "Anzahl der Knoten".

Controlling als "Konsequenz-Service"

Heutige Planungen verzetteln sich hingegen oft in der Vorbereitung der kommenden Berichterstattung, ob wir in der zukünftigen Rückschau "unterm Strich" Geld verdient haben werden. Dann bleiben wir in der Kostenrechnung in der Rückschau gefangen. Controlling verlangt keine Rückschau, sondern Transparenz über unsere Erwartungen, was wir zukünftig benötigen, um uns auf den Märkten erfolgreich positionieren zu können – und wer dafür die Verantwortung trägt.

Wenn ein Reporting dazu beiträgt zu erkennen, wie gut wir bei der Planung die Erwartungen in gemeinsames Handeln umgesetzt haben, kann das Controlling darauf aufbauen. Anderenfalls zeigt es nur, wie stark wir noch in der Abrechnung verhaftet sind. Reports werden zunehmend automatisiert werden können, damit steigen die Möglichkeiten im Controllerservice, den eigentlichen Anforderungen gerecht zu werden: Den Verantwortlichen helfen, ihre Verantwortung zu erkennen und zu übernehmen, damit sie ihren Verantwortungsbereich "controllen" können.

Schließlich steht das Controlling vor der Herausforderung, für einen "Konsequenz-Service" zu sorgen. Es sollte kein Meeting geben, bei dem im Ergebnis nicht festgelegt wird, wer was bis wann zu erledigen hat. Wobei jede Maßnahme eine "User-Story" haben muss, für wen dadurch ein Nutzen entsteht und wie der gemessen werden kann. Über das Wie sollte jeder selbst entscheiden dürfen.

Wenn Warum und erwartetes Ergebnis klar sind können die Menschen das auch.

Auf dieser Grundlage lässt sich eine einfache Liste erstellen:

  1. anstehende Aufgaben - jeweils mit konkretem Ziel und Termin,
  2. Maßnahmen in Arbeit (Work in Progress),
  3. erledigt (done).

Dies hilft, Verantwortung zu übernehmen. Jedes Team, jede Abteilung kann diese Liste führen und öffentlich in ihrem Bereich aushängen. Wir haben immer wieder erleben dürfen, welch positive Wirkung davon ausgeht.

Das "integrale Ganze" transparent zu halten, dafür ein Netzwerk von Verantwortlichkeiten zu fördern und mit einem wirksamen Konsequenz-Management zu verbinden – das ist die Aufgabe des Controllings. Denn niemand sonst im Unternehmen hat das auf dem Bildschirm, wenn es die Controller nicht tun. Wenn wir diesen Kern aus den Augen verlieren, werden wir austauschbar. Aber wenn wir uns immer wieder auf das große Thema Verantwortlichkeit besinnen, haben wir eine Zukunft.


Dieser Artikel erschien erstmalig im Controller Magazin 06/2022.

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