Aktuelles Interview: Vom Homeoffice als Ausnahme zum New Normal

Seit eineinhalb Jahren arbeiten viele Arbeitnehmer:innen vollständig oder teilweise zuhause. Einige wollen nach dem Ende der Pandemie nicht mehr ins Büro zurück, andere haben große Schwierigkeiten mit der Arbeit im Homeoffice.

Die Haufe-Redaktion sprach mit Dr. Teresa Müller über Vor- und Nachteile des Homeoffice, die Notwendigkeit individueller, auf den jeweiligen Arbeitnehmer zugeschnittenen Lösungen und Möglichkeiten des Umgangs von Unternehmen mit dem „Kontrollverlust“ durch Homeoffice.

Homeoffice ist beliebt

Haufe Online Redaktion: Ein gutes Jahr Pandemiebetrieb in Betrieben und deutschen Haushalten liegt hinter uns – welches Zwischenfazit zieht die Forschung momentan?

Dr. Teresa Müller: In einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung von 2021 hat sich gezeigt, dass ein Großteil sich auch nach der Pandemie das Arbeiten zuhause weiter vorstellen kann. Fast die Hälfte der Befragten hat angegeben, dass sie im gleichen Umfang wie während der Pandemie von zuhause aus arbeiten wollen. 77% der Befragten haben angegeben, dass Home Office die Vereinbarkeit von Beruf und Familie erleichtert, was auch der Grund ist, warum viele Personen das beibehalten wollen. Wir wissen aus der Forschung, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben von Home Office-Regelungen profitiert oder dass zumindest bei guter Gestaltung das Potenzial dazu gegeben ist – Stichwort Work-Life-Balance bzw. Work-Family-Balance.

Auch auf der Seite der Unternehmen sind Erfahrungen überwiegend positiv. In einer Forsa-Umfrage zur Sicherheit am Arbeitsplatz/Arbeitsschutz hat sich ergeben, dass 58% der befragten Unternehmen Home-Office-Möglichkeiten nach der Pandemie beibehalten wollen. Der Grund: Bei guter Gestaltung korreliert das Arbeiten zuhause mit einem Effizienzgewinn und einem Flexibilitätsgewinn.

Nachteile von Homeoffice

Haufe Online Redaktion: Das klingt sehr positiv – wo sind die Nachteile?

Dr. Teresa Müller: Natürlich gibt es auch Schattenseiten: Für Arbeitnehmende verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit und diese Entgrenzung wird negativ wahrgenommen. Studien zeigen auch, dass Arbeitnehmende im Home Office mehr arbeiten, denn der Feierabend ist nicht so klar abgegrenzt. Die Nähe zwischen Arbeiten und dem Privatleben ist also auch mit gewissen Risiken verbunden.

Außerdem sind ganz neue Themen dazugekommen: Neben gesundheitlichen Themen haben sich bei den Personen Schwierigkeiten ergeben, bei denen es zuhause keinen Arbeitsplatz gibt, um sich in Ruhe seinen Aufgaben zu widmen: In einer Studie gaben 30% der Personen an, dass es aufgrund der Wohnsituation und des Familienalltags zu Störungen beim Arbeiten kam. Diese Interferenzen durch das Familienleben kann zu Unproduktivität führen. Gerade für Vollzeit-Home-Office-Arbeitende korreliert das Arbeiten daheim mit Vereinsamung und Erschöpfung, den Personen fehlen soziale Kontakte.

Um diese Auswirkungen zu kompensieren, wurde die digitale Kommunikation verstärkt, was oftmals jedoch zu sehr ineffizienter Kommunikation führt – man spricht schon vom „Zoom Fatigue“, was das Phänomen bezeichnet, dass man an vielen digitalen Meetings hintereinander teilnimmt und schließlich an Ermüdung und fehlender Konzentration leidet. Diese Ermüdung könnte übrigens daher kommen, dass nonverbale Hinweisreize (z. B. Mimik und Gestik) fehlen, die das Gehirn sucht, aber im digitalen Setting nicht so gut finden kann.

Die Vielzahl der Meetings hat die Fokuszeit für konzentriertes Arbeiten und Konzeptarbeit reduziert. Die neue Situation hat eine sehr breite Spanne an Effekten mit sich gebracht: Von „ich kann mich immer noch zu nichts aufraffen, bin weniger produktiv“ bis hin zu „ich arbeite nur noch, die Arbeit hört nie auf“ sind beide Extreme zu beobachten.

Zu guter Letzt ist das Onboarding neuer Mitarbeitender in diesem Kontext deutlich schwieriger und erfordert von den Beteiligten deutlich mehr Aufmerksamkeit, Disziplin und Geduld, um erfolgreich zu sein.

Selbstführung statt Steuerung durch den Betrieb

Haufe Online Redaktion: Die Trennung zwischen beruflich und privat verschwimmt – heißt das, dass jede Person selbst mehr Steuerung übernehmen muss, weil der Betrieb diese Struktur und den Rahmen nicht mehr bieten kann?

Dr. Teresa Müller: Ja, absolut. Die klassische Arbeit vom Büro aus schafft Rahmenbedingungen und eine gewisse Struktur. Zu Beginn der Pandemie haben wir erlebt, was passiert, wenn diese Struktur schlagartig wegfällt. Mitarbeitende, Teamleiter und Führungspersonen mussten plötzlich von einem Tag auf den anderen selbst Strukturen herstellen, die ansonsten einfach da waren. In der Folgezeit führte dies zu Anpassungsproblemen für viele Personen – besonders jene, die Arbeiten von zuhause aus noch nie zumindest im kleinen Umfang schon mal ausprobiert hatten. Die neue Situation erfordert ein gewisses Maß an Selbstführung und dies ist so geblieben.

An dieser Stelle würde ich gerne zwei zentrale Begriffe in die Diskussion bringen: Der Begriff der „Segmentation“ bezeichnet die Präferenz, Arbeit und Privatleben klar voneinander abzugrenzen, wohingegen „Integration“ in diesem Kontext meint, dass die beiden Bereiche sich durchaus vermischen dürfen, sowohl zeitlich als auch räumlich. Wenig überraschend haben sich die „Segmentierer“ viel schwerer getan als die „Integrierer“, mit der neuen Situation klarzukommen. Schließlich war eine Segmentation in den Lockdown-Phasen ja kaum mehr möglich. Dieser Zwang zur Integration, obwohl eine Person eigentlich die Segmentation vorzieht, führt nach wie vor zu Schwierigkeiten.

Individuelle Lösungen schaffen

Haufe Online Redaktion: Wie hilft die Forschung an dieser Stelle weiter?

Dr. Teresa Müller: Zum Beispiel werden generelle Einflussfaktoren für gelingendes Home Office untersucht: Zum einen hängt das Gelingen stark von der Eignung der Tätigkeit für Home Office ab. Zum anderen – als personenbezogene Einflussfaktoren – sind Selbstdisziplin und Selbstführung die entscheidenden Faktoren.

Um etwas genauer hinzusehen, werden in der Forschung verschiedene Personae definiert und es wird untersucht, was ihnen jeweils hilft, um mit der Situation gut zurechtzukommen. Beispielsweise mag es Persona 1 geben, die mit der Familie in einer relativ kleinen Wohnung im Stadtgebiet wohnt. Persona 2 könnte im eigenen Haus im ländlichen Umfeld leben und relativ Platz für sich und die Familie zur Verfügung haben. Persona 3 kann als alleinstehende Person in einer recht großen Stadtwohnung leben.

Es liegt auf der Hand, dass die Situation sich für die drei Personae unterschiedlich darstellt und deshalb auch unterschiedliche Gelingfaktoren im Spiel sind. Persona 3 könnte beispielsweise davon profitieren, sich mit Formen virtueller Zusammenarbeit, mit neuen unterstützenden Software-Angeboten oder auch Resilienztrainings zu befassen, während für Persona 1 ein separater Arbeitsbereich von Vorteil sein könnte, um Störungen zu reduzieren. Eines ist klar: Ein „One size fits all“-Ansatz, der für alle die gleichen Empfehlungen beinhaltet, kann es nicht geben.

Arbeitssituation verbessern

Haufe Online Redaktion: Wie finden Menschen raus, was sie tun müssen, um sich in dieser Situation eine gute Arbeitssituation herzustellen, mit der sie zufrieden sind?

Dr. Teresa Müller: Wir sollten unseren „Autopilot“ ein Stück weit hinterfragen. Das menschliche Gehirn neigt dazu, Dinge aus Routine heraus zu tun. Im vergangenen Jahr haben wir uns eine neue Routine geschaffen, sind aber gleichzeitig noch auf der Suche nach neuen Routinen, weil die alten ausgedient haben und wir noch nicht „angekommen“ sind. Es ist wichtig, immer wieder eine Bestandsaufnahme zu machen und bewusst zu hinterfragen, wie man sich organisiert und wie man selbst arbeitet. Das gilt natürlich auch für das kollegiale Umfeld, wo Häufigkeit, Struktur und die Organisation von gemeinsamen Terminen auf den Prüfstand gestellt werden sollten, um als Gruppe gesund zu bleiben.

Ergebnisorientierung statt Präsenzkultur

Haufe Online Redaktion: Im kontrollierten Raum des Betriebs sind weniger Faktoren zu beachten, weil vieles für alle gleich ist: In aller Regel sind keine Kinder da, jeder hat einen eigenen Arbeitsplatz, die IT-Ausstattung ist für die meisten Personen gleich oder ähnlich und alle haben mehr oder minder gleichberechtigten Zugriff auf innerbetrieblichen Support. Wie sollten Organisationen mit dem Kontrollverlust umgehen, den die neue Situation mit sich gebracht hat?

Dr. Teresa Müller: Der entscheidende Punkt ist an dieser Stelle das Vertrauen. Dieses Vertrauen (in die Mitarbeitenden) wird momentan auf die Probe gestellt und hinterfragt. Organisationen bewegen sich derzeit situationsbedingt weg von der Präsenzkultur hin zur Ergebnisorientierung – ein spannender Wandel, der noch einige Zeit andauern wird. Organisationen sollten sich in dieser Phase möglichst nicht auf den Verlust an Kontrolle konzentrieren, sondern sich auf einen Wandel einlassen, der eine Vielzahl an Vorteilen und Chancen mit sich bringt. Die zentrale Herausforderung für Organisationen ist die gute Balance zwischen Rahmen, Struktur und Sicherheit auf der einen Seite und der Flexibilität auf der anderen Seite, die viele Mitarbeitende schätzen gelernt haben und nicht mehr missen möchten.

Hybride Arbeitsmodelle im Trend

Haufe Online Redaktion: Liegt das „New Normal“ in der Mitte?

Dr. Teresa Müller: Ich bin überzeugt, dass die Pandemie nach dem Vollzeit-Home-Office zu hybriden Arbeitsmodellen führen wird. Personen werden nicht mehr alle zuhause oder alle im Betrieb sein. Stattdessen werden wir ein heterogeneres Bild haben. Es wird so bleiben, wie es jetzt gerade ist – manche hier, manche da und das Zusammenarbeiten, Veranstaltungen und Termine müssen daraufhin ausgerichtet werden.

Dazu müssen innerhalb der Organisationen die Spielregeln für Zusammenarbeit ausgehandelt und gefunden werden. Beispielsweise sollte es bei einem hybriden Meeting nicht so sein, dass eine Person etwas auf ein Flipchart im Meetingraum der Firma schreibt und die „Daheimarbeiter“ können daran nicht teilhaben. Genauso sollte es nicht mehr sein, dass ein „Daheimarbeiter“ ein digitales Whiteboard zum Ideensammeln öffnet und die Personen im Meetingraum des Büros haben keine Laptops dabei, um sich einzuklinken. Hier stellen sich neue Anforderungen an Räumlichkeiten – sie sollten so ausgestattet sein, dass reibungsloses Arbeiten möglich ist.

Dies alles bildet einen Anlass für bewusstes Hinterfragen und ggf. die Neugestaltung von Unternehmenskultur, Führungskultur und Arbeitsweisen. Obwohl erzwungen, haben wir eine Chance auf dem Präsentierteller bekommen, um das Beste aus beiden Welten zu verbinden. Es werden spannende Zeiten sein, in denen Firmen und ihre Mitarbeitenden zu einem guten, neuen „New Normal“ finden und ich freue mich sehr, diese Zeit mitgestalten zu können.

Dr. Teresa Müller ist Arbeits- und Organisationspsychologin und Consultant bei der Unternehmensberatung Management Partner GmbH. Zu ihren Schwerpunktthemen gehört die Konzeption und Begleitung von komplexen Veränderungsprozessen, Interne Kommunikation, Mitarbeiterentwicklung, -einbindung und -aktivierung, sowie Dialogkommunikation und Selbstlernmaterial. Durch ihren wissenschaftlichen Hintergrund (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) gehören außerdem Diagnostik und Erfolgsmessung zu ihren Expertisen. Ihre Dissertation („Costs and Benefits of Self-Leadership at the Workplace”) verfasste Sie zum Thema Selbstführung - unter anderem im Kontext von Homeoffice-Tätigkeit.

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