Ein Unternehmer im Kampf gegen den eigenen Markt

Nach der Fliegenrettung kommt die Transformation. Was mit einer Kunstaktion begann, führte beim Insektizidhersteller Hans-Dietrich Reckhaus zu einer lebenslangen Mission: Was es bedeutet, die eigenen Produkte zu hinterfragen und neue Wege zu gehen – trotz Rückschlägen und Gegenwind.

Was bisher geschehen ist, erfahren Sie in Teil 1 des Artikels!

Dieser Artikel ist ein Ausschnitt aus dem Buch „Re:thinking Sustainability“, das 2024 bei Haufe erschienen ist. Hier geht es zum Buch.

Mehr Produkte, mehr Mitarbeitende, mehr Geld. Als ehemaliger Ökonom war Hans-Dietrich Reckhaus stets darauf bedacht, allein für das Ziel des Wachstums seiner Firma zu wirtschaften. Erst mit der Kunstaktion – der Fliegenrettung in Deppendorf – erlebte er zum ersten Mal einen Mehrwert, von dem er vorher nicht wusste, dass er ihn als Unternehmer kreieren konnte. Er erkannte, dass er mit seinem Unternehmen einen zukunftsgerichteten ökologischen und sozialen Beitrag leisten könne. Und er verstand, dass dieser Beitrag nicht unbedingt allein seine Kasse füllen würde, sondern auch sein Herz mit „Freude und Genugtuung“, wie er selbst sagt.

Wirtschaft als Mittel zum Zweck

Dieses Verständnis von Fülle hatte er vorher nicht auf dem Radar, denn ein solches Prinzip sei in der konventionellen ökonomischen Denkweise schlicht nicht vorgesehen: „Alles war oder ist heute noch auf Wachstum ausgerichtet“. Die Wirtschaft sei mittlerweile allein zum Zweck des Wirtschaftens geworden. Aber Reckhaus hatte erkannt, dass die Wirtschaft auch nur als Mittel zum Zweck gesehen werden konnte. Er wollte sich weiterhin mit dieser neuen Sichtweise beschäftigen und fragte sich selbst zum ersten Mal: „In welcher Welt wollen wir leben? Und welche Rolle können Unternehmen in dieser Welt spielen, um einen gesellschaftlichen Mehrwert zu erzeugen?“ 

Am Anfang steht ein Sinn, eine Idee, um gesellschaftliche Probleme zu lösen. Dann kann man die ökonomischen Prinzipien nutzen, um diese Idee zu realisieren. Reckhaus fing an, dem Wort Innovation eine neue Bedeutung zu geben. Bisher sei es eine übliche Praxis, etwas innovativ zu nennen, was der Kunde auch verstehen würde. Man docke auf diese Art und Weise sozusagen an dem Vorwissen der Kunden an, damit diese auch das neue „verbesserte“ Produkt kaufen würden. Wie schon ein altes Sprichwort sagt: „Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht“.

Allerdings handele es sich dabei laut Reckhaus nicht immer um Innovation. Zudem könne es auch zu Rebound-Effekten kommen. Für ihn sei etwas wirklich innovativ, wenn es gerade nicht mehr verstanden werde. Dann werde es „erst richtig spannend“, betont er und sagt, dass es nicht nötig sei, erst in den späten Jahren eines Unternehmerlebens mit einer Stiftung etwas Sinnvolles zu tun. Also nicht „möglichst viel Geld verdienen, um dann erst etwas Sinnvolles zu tun“, sondern „möglichst viel Sinnvolles leisten und damit Geld verdienen“. Das ist es, was er auf seinem Weg gelernt hat und was er anderen Unternehmern auf ihrem Weg zum verantwortungsvollen Wirtschaften mitgeben möchte.

Der holprige Start eines Gütesiegels

Aus seiner neuen Perspektive heraus hat Reckhaus das Gütesiegel „Insect Respect“ geschaffen, mit dem sich andere Unternehmen ihre Produkte auszeichnen lassen können, um Kompensationen von Insektenverlusten zu kommunizieren. Reckhaus hat mit verschiedenen Wissenschaftlern zusammengearbeitet, um herauszufinden, welche Insektenarten in welchem Umfang durch seine Produkte geschädigt werden. Zudem haben sie berechnet, in welchem Umfang und auf welche Art und Weise insektenfreundliche Lebensräume angelegt werden müssen, um diesen Verlust zu kompensieren.

Heute ist Reckhaus für das „Insect Respect“-Siegel bekannt und wird dafür von anderen europäischen Unternehmen angefragt. Das war aber nicht immer so und am Anfang erst recht nicht abzusehen. Nach der Aktion mit den Künstlern hängte sich Reckhaus richtig in seine neuen Ideen hinein. Er verwendete viel Zeit auf den Aufbau des Siegels und auch auf den Wissensaufbau in diesem neuen Gebiet. Alles war für ihn neu, was den Schutz der Artenvielfalt und die Insektenkunde anbelangt. Er brannte für das Thema und wollte mehrere Lichter mit seiner Idee entflammen. Und doch kommt in der Realität oft alles anders als zunächst gedacht. Reckhaus konnte nicht von vorneherein alle mit seiner Idee mitreißen. 

Ganz im Gegenteil. Dem Unternehmer schlugen teilweise heftige Widerstände entgegen, die er nicht voraussehen konnte. Viele seiner Mitarbeitenden verstanden überhaupt nicht, was von einem auf den anderen Tag mit ihm los war. Veränderung führt oft erst zu großer Angst, in diesem Fall kursierten in der Belegschaft von Reckhaus sicher auch Gedanken über einen möglichen Jobverlust. Seine Marke „recozit“ hatte in dieser Zeit herbe Verluste erlitten. In den ersten sieben Jahren der neuen Unternehmensentwicklung verlor das Unternehmen etwa 30 Prozent seines Umsatzes und etwa 80 Prozent seiner Rendite. Auch das neue Siegel „Insect Respect“ wurde nicht so schnell auf dem Markt angenommen, wie zunächst erhofft.

Es muss schlimmer werden, bevor es besser wird

Aber Reckhaus setzte sein Vorhaben unbeirrt fort. Er beschritt weiter den Weg, Bewusstsein für den Wert des Insektenerhalts zu schaffen, radikal und konsequent. Neben finanziellen Einbußen musste er auch soziale Niederlagen ertragen. Er wurde von vielen in der Branche zunächst belächelt, teilweise überhaupt nicht mehr zu großen Branchentreffen eingeladen. Man wollte ihm damit wohl zeigen, dass man nicht an seine Idee glaubte und sie nur als irreführende Werbung verurteilte. 

Auch innerhalb der Firma gab es Widerstände: Manche Führungskräfte kündigen als direkte Konsequenz auf seine neuen Handlungen ihren Job. Andere Mitarbeitende zogen sich als eine Art Schutzreaktion erst einmal zurück, grüßten ihn teilweise nicht mehr auf dem Firmenflur. „Damit muss man auch erstmal lernen, umzugehen“, erklärt Reckhaus. „Aber die Radikalität, die ich an den Tag gelegt habe, war schlussendlich auch der Schlüssel für die Glaubwürdigkeit, die ich mir erarbeitet habe«, fügt er selbstsicher hinzu.

Die Stimmung schlug erst um, als Medien auf Reckhaus und sein Unternehmen aufmerksam wurden. Inzwischen berät er mit seinem insektenfördernden Siegel Unternehmen aus ganz Europa und schafft so insektenfreundliche Biotope durch Ausgleichsflächen, auch für seine Mitbewerber. Mittlerweile hat das Unternehmen dafür viele herausragende Preise gewonnen, wie den European Responsible Care Award „Environmental Responsibility“ und den Sustainability Heroes Award in der Kategorie „Sustainability Innovations“. In der Presse wurde vielfach über Reckhaus‘ transformativen Weg berichtet, seine Geschichte hat mit über 1.000 Medienartikeln viele Millionen Menschen erreicht. 

„Die Resonanz ist überwältigend“, schildert Reckhaus, „auch wenn es am Anfang ein ganz schön harter Weg war“. Mittlerweile stehen auch alle Mitarbeitenden hinter seinem Vorhaben. „Es ist verrückt, wenn ich bedenke, dass sich nach der Präsentation meiner Idee einige Mitarbeitende von mir bewusst getrennt haben. Heute passiert genau das Gegenteil: Junge Menschen bewerben sich bei mir und bitten darum, Teil unserer Unternehmensgeschichte zu werden.“ So sei auch ein neues Arbeitsklima entstanden, „irgendwie ein frischeres“ Arbeitsklima des Aufbruchs und des Neubeginns, das Reckhaus sehr schätzt.

Der eigene Markt muss schrumpfen

Was ist eigentlich mit seinen alten Produkten? Die produziert Reckhaus immer noch. Aber er hat ihnen sozusagen eine Art Zusatznutzen verpasst: „Ich verwende meine Produkte nun, um mit Botschaften auf den Artenschutz unserer Insekten aufmerksam zu machen.“ Auf seinen Produkten findet man nun Warnhinweise wie „Produkt tötet wertvolle Insekten“ sowie Informationshinweise zu insektenfreundlichen Ausgleichsflächen, um auf die Wichtigkeit des Erhalts der Biodiversität aufmerksam zu machen. Dies klingt erst einmal paradox: Weitermachen wie bisher, obwohl klar wurde, dass es nicht gut ist, Insekten zu töten. 

„Wenn ich die Produktion meiner Insektizide einstelle, würde sich gar nichts auf dieser Welt verändern. Mit meinen Produkten habe ich genau die Chance, den von mir geschaffenen Mehrwert in die Welt hinauszutragen und diese Produkte als Multiplikatoren für eine gesündere und bessere Welt zu verwenden“, sagt Reckhaus und betont: Der Markt der Insektizide sei heute zu groß. 80 Prozent der Produkte im Markt bräuchte es nicht, nur für 20 Prozent gebe es leider eine Notwendigkeit. „Ich trage dazu bei, für den benötigten geringeren Marktanteil das Richtige zu tun, und unterstütze die Schrumpfung des restlichen Marktes.

Neben der Kommunikationsfläche auf seinen Produktverpackungen informiert Reckhaus gemeinsam mit seinem Team auf der Website seines Siegels über den Wert von Insekten und über insektenfreundliche Lebensräume. Zudem hat er mittlerweile eine Akademie namens „Insectemy“ gegründet, wo Landschaftsgärtner im Anbau von insektenfreundlichen Lebensräumen und in der Kommunikation von nachhaltigen Dienstleistungen geschult werden.

Fazit

Wir sehen Bildung als hohes Gut in unserer Gesellschaft, besonders, was die Transformation hin zu regenerativen Wirtschaften betrifft. Sie ist einer der wichtigsten Hebel und führt, richtig umgesetzt, zu einem positiven Kipppunkt. Wir (die Autoren) würden die Schulung gerne selbst besuchen – schade, dass wir keine Landschaftsgärtner sind. Das Know-how von „Insect Respect“ kann jedoch jeder für sich nutzen. Es gibt keine Ausreden, es nicht zu tun. Wir wünschen Herrn Reckhaus und seinem Team bei seinen Vorhaben alles Gute und hoffen weiterhin auf eine radikale Transformation!

Dieser Artikel ist ein Ausschnitt aus dem Buch „Re:thinking Sustainability“, das 2024 bei Haufe erschienen ist. Hier geht es zum Buch.



Schlagworte zum Thema:  Unternehmen, Transformation