Die nachhaltige Transformation lässt sich kaum zu umfassend denken – davon ist Dr. Holger Berg überzeugt. Er ist stellvertretender Leiter der Abteilung Kreislaufwirtschaft und Co-Leiter des Forschungsbereichs Digitale Transformation am Wuppertal Institut. „Wir als Institut wollen nachhaltige Entwicklungen so weit voranbringen, dass die Systeme aus sich heraus nachhaltig funktionieren“, sagt Berg. Und das ist sehr umfassend gemeint: Es geht um Beiträge zur Begrenzung der Erderwärmung, zur effizienten Nutzung der Ressourcen und zu einem guten Leben innerhalb der planetaren Grenzen.
Dieser umfassende Anspruch spiegelt sich auch in der Vielfalt der Instituts-Forschungsthemen wider: von Klimawandel und dessen Folgen, Industrietransformation, Energie über Stadtwandel und Mobilität bis hin zu Ernährung, Wohlstand sowie Kunst und Kultur. Gegründet wurde das Institut 1991, ein Jahr vor der UN-Konferenz in Rio, von Johannes Rau, damals Ministerpräsident von NRW, dem bevölkerungsreichsten Bundesland mit vielen energie- und ressourcenintensiven Industrien. Gründungspräsident ist Prof. Dr. Ernst Ulrich von Weizsäcker, Physiker und Professor für Biologie, der das Institut bis zum Jahr 2000 leitete.
Warum Digitalisierung und Kreislaufwirtschaft zusammengehören
Für Berg ist die Verknüpfung von digitaler Transformation und Kreislaufwirtschaft eine logische Konsequenz aus der Praxis. Damit Kreislaufwirtschaft bei komplexen Produkten funktioniert, braucht es eine Vielzahl von Informationen: Aus welchen Stoffen ist das Produkt zusammengesetzt? Wie können sie verwertet werden? Wie ist das Produkt bisher genutzt worden? Wie muss ich ein Produkt verändern, damit es für die Circular Economy geeignet ist? „Über die Digitalisierung lassen sich all diese Informationen zusammenführen und verarbeiten. Genau deshalb ist sie für die Kreislaufwirtschaft so wertvoll“, erklärt Berg.
Ein aktuelles Thema, mit dem derzeit viele Unternehmen an das Wuppertal Institut herantreten, gilt dem Digitalen Produktpass (DPP). Die EU will ihn schrittweise ab 2026 einführen. Ziel ist es, Transparenz in Lieferketten zu schaffen und Kreislaufwirtschaft zu fördern. Grundlage ist die Ökodesign-Verordnung. Sie stellt sicher, dass künftig nur energieeffiziente Produkte auf den Binnenmarkt kommen, die ressourcenschonend hergestellt, langlebig und reparierbar sind.
Berg weiß, dass diese Pläne manchen Unternehmen Sorge bereiten. „Für Firmen, die digital noch nicht weit sind, kann der Aufwand hoch sein“, sagt er. „Aber viele der geforderten Informationen – rund 80 bis 120 Datenpunkte – sollten den Unternehmen eigentlich vorliegen.“ Es geht um Angaben zu Inhaltsstoffen über Reparierbarkeit bis hin zur Behandlung am Ende des Produktlebenszyklus. Seine Empfehlung: Den DPP nicht nur als Pflichterfüllung sehen, sondern als Katalysator für die Digitalisierung und Weiterentwicklung des eigenen Geschäftsmodells. Und genau dazu berät das Wuppertal Institut.
So werden sich Branchen verändern
Ein Beispiel hierfür ist „Furniture-X“. Die Möbelbranche gehört zu den ersten, für die der DPP gesetzlich verpflichtend wird. In 2024 hat sich das Konsortium Furniture-X gegründet, um eine praxisgerechte und flächendeckende Einführung des DPP voranzutreiben. Das Wuppertal-Institut und das FIR der RWTH Aachen unterstützen das Konsortium hierbei wissenschaftlich. Der Aufbau und der Austausch des branchen-spezifischen Wissens rund um den DPP zählt zu den zentralen Zielen von Furniture-X.
Ein anderes Beispiel ist R-Evolve: Hier entwickeln Akteure der gesamten Möbel-Wertschöpfungskette kreislauforientierte Produkt- und System-Innovationen gemeinsam – von zirkulären Geschäftsmodellen, biobasierten Materialien bis zu Online-Plattformen. Berg nennt ein konkretes Beispiel: „Der DPP kann Informationen liefern, wie einzelne Teile repariert werden können oder wie beispielsweise bei Küchen die Fronten ausgetauscht werden können, um eine moderne Optik zu gewinnen – ohne die komplette Küche zu ersetzen.“
Konkrete Unterstützung für Unternehmen
Beide Beispiele zeigen, wie das Institut arbeitet: in engem Austausch mit Unternehmen, um deren aktuelle Herausforderungen zu lösen. Das Institut kennt hierbei zwei grundlegende Wege. Zum einen arbeiten die Forscher:innen gemeinsam mit Unternehmen in konkreten Projekten. „Oft beziehen wir hierbei auch noch andere Partner ein, etwa aus der Technologieentwicklung“, erklärt Berg. Die Themen sind vielfältig: Energienutzung, Ressourceneffizienz, Lieferketten, CO2-Reduzierung, digitale Technologien.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass ein Unternehmen mit einem konkreten Problem an das Institut herantritt und Unterstützung bei der Lösung anfragt. Die Themenfelder sind oft die gleichen, nur Problemstellung und Lösung sind hierbei individueller.
Als Institut für angewandte Forschung befasst sich Wuppertal sehr viel mit Innovationen. Aber auch „Exnovationen“ sind für die Forscher:innen kein Fremdwort – also das bewusste Beenden nicht zukunftsfähiger Technologien oder Praktiken. Konkret: Wie schaffen wir es, uns vollständig von Kohle als Energieträger zu lösen? Wie gelingt es, dass der Besitz des Autos nicht mehr erstrebenswert ist und Car-Sharing die bevorzugte Lösung wird?
Auch vor solchen Fragen darf man die Augen nicht verschließen – soll die Transformation tatsächlich umfassend sein.