So gelangen Steuerkanzleien von der Digitalisierung zur KI
Begriffsklärung ohne Buzzword-Bingo
Digitalisierung bedeutet die Überführung analoger Prozesse in digitale Formate. Ein typisches Beispiel: Papierbelege werden als PDF gescannt und digital archiviert. Die Arbeitsweise bleibt dabei weitgehend unverändert.
Automatisierung geht einen Schritt weiter: Regelbasierte Systeme übernehmen wiederkehrende Aufgaben. Beispielsweise sortiert die Software eingehende E-Mails automatisch nach Mandanten oder erstellt Standarderinnerungen für Fristen.
Künstliche Intelligenz unterscheidet sich qualitativ: KI-Systeme lernen aus Daten, erkennen Muster und treffen eigenständige Entscheidungen. Konkret bedeutet das: Die Software erkennt automatisch, ob ein Beleg zu den Reisekosten oder Bewirtungskosten gehört – ohne dass zuvor jemand Regeln dafür programmiert hat.
Praxisbeispiel: Eine Kanzlei, die Belege digital ablegt, ist digitalisiert. Werden diese automatisch nach Mandanten sortiert, handelt es sich um Automatisierung. Erkennt das System jedoch selbstständig die Art des Belegs und schlägt die passende Buchung vor, sprechen wir von KI.
Status quo: Wo Kanzleien 2025 tatsächlich stehen
Die aktuellen Zahlen aus der SWI Finance Studie 2025 im Auftrag des Handelsblatts zeichnen ein differenziertes Bild: Über 60 Prozent der Kanzleien setzen KI laut der Umfrage zumindest in Teilbereichen ein. Dabei geht es bisher vor allem um Recherchetätigkeiten. Mehr als 80 Prozent der Kanzleien haben dabei bereits KI im Einsatz, während es bei der Datenerfassung nur etwas über 30 Prozent sind.
Die Realität in den Kanzleien:
- Routineaufgaben wie Buchführung und Lohnabrechnung werden zunehmend automatisiert.
- Gleichzeitig wächst der Beratungsanteil – Steuerberater werden zu strategischen Partnern ihrer Mandanten.
- Der Fachkräftemangel ist deutlich spürbar: Laut der STAX 2024-Befragung der Bundessteuerberaterkammer, deren Ergebnisse im Januar 2025 veröffentlicht wurden, konnten nur knapp 70 Prozent aller offenen Stellen in Berufsausübungsgesellschaften und rund 40 Prozent aller offenen Stellen in Einzelkanzleien besetzt werden.
Das zentrale Problem: Es scheitert selten an der Technik, sondern an den Prozessen. Viele Kanzleien haben gewachsene Strukturen, uneinheitliche Datenbestände und unterschiedliche Systeme, die nicht miteinander kommunizieren.
Wo Kanzleien oft noch stehen (und warum das problematisch ist)
Typische Stolpersteine in der Praxis:
- Medienbrüche: Daten werden zwischen verschiedenen Systemen manuell übertragen.
- Doppelerfassungen: Identische Informationen werden mehrfach eingegeben.
- Unstrukturierte Ablagen: Dokumente sind zwar digital, aber nicht auffindbar.
- Widerstand im Team: Mitarbeiter befürchten, von neuen Technologien überfordert zu werden.
Diese scheinbar kleinen Ineffizienzen summieren sich. Laut der STAX 2024-Befragung der Bundessteuerberaterkammer zeigen die Ergebnisse einen klaren Zusammenhang: "Je höher der Digitalisierungsgrad der Kanzlei, desto positiver die Umsatzentwicklung. Weitere Digitalisierungsschritte sind also eine Investition in die Zukunft", so BStBK-Präsident Prof. Schwab im Januar 2025.
Drei Kernfelder mit Hebelwirkung
1. Intelligente Belegverarbeitung
Das Problem: Berge von Belegen, die manuell erfasst und zugeordnet werden müssen.
Die KI-Lösung: Moderne OCR-Systeme (Optical Character Recognition) erkennen nicht nur Text, sondern verstehen auch den Kontext. Laut Finmatics, einem führenden Anbieter für KI-gestützte Belegverarbeitung, erreichen moderne Systeme über 99 Prozent Genauigkeit bei der automatischen Belegtrennung. Sie unterscheiden automatisch zwischen Reisekosten, Bewirtungskosten oder Büromaterial.
Praxisnutzen: Was früher Stunden dauerte, erledigt die KI in Minuten. Mitarbeiter können sich auf komplexere Aufgaben konzentrieren.
Produktbeispiele:
- Finmatics: Die KI "Fin" trennt Belege automatisch mit über 99 Prozent Genauigkeit, liest Belegdaten aus und erstellt Buchungsvorschläge speziell für Steuerberaterkanzleien. Das System integriert sich direkt in DATEV, Agenda, BMD und RZL. Laut aktuellen Studien können Kanzleien eine Zeitersparnis von bis zu 70 Prozent bei der Belegverarbeitung erreichen.
- Belegmeister: Bietet OCR-Belegerkennung mit künstlicher Intelligenz und unterscheidet über 20 verschiedene Kostenarten automatisch.
2. Automatisierte Fristenüberwachung
Das Problem: Termine und Fristen manuell zu verwalten, ist fehleranfällig und zeitaufwendig.
Die KI-Lösung: Intelligente Systeme extrahieren Fristen aus verschiedenen Dokumenten, bewerten deren Wichtigkeit und setzen automatische Eskalationsstufen. Das System "lernt" dabei, welche Fristen für welche Mandanten kritisch sind.
Praxisnutzen: Keine übersehenen Fristen mehr, weniger Haftungsrisiken, entspanntere Arbeitsatmosphäre.
Produktbeispiele:
- milia.io: All-in-One-Plattform für Steuerkanzleien mit KI-gestützter Workflow-Automatisierung und intelligenter Fristenverwaltung
3. Wissensmanagement und Mandantenkommunikation
Das Problem: Informationen sind über verschiedene Systeme verstreut, der Wissensaustausch funktioniert nicht optimal.
Die KI-Lösung: Intelligente Plattformen machen Dokumente durchsuchbar, schlagen automatisch relevante Informationen vor und ermöglichen sichere, DSGVO-konforme Kommunikation mit Mandanten. KI-Assistenten können dabei helfen, internes Wissen zu strukturieren, leichter zugänglich zu machen und so den Wissenstransfer innerhalb der Kanzlei zu verbessern.
Praxisnutzen: Schnellere Antworten, bessere Mandantenbetreuung, effizientere Teamarbeit
Produktbeispiele:
- CoPilot Tax von Haufe: Der bewährte KI-Assistent ist fester Bestandteil der Fachdatenbank Haufe Steuer Office. Mit Unterstützung der rechtssicheren Fachinhalte beantwortet er zuverlässig Steuerfragen und sorgt für effiziente und präzise Recherchen. Das System greift auf rechtssichere Fachinhalte zurück und ist damit zuverlässiger als Chat-KIs, die frei zugängliche Quellen im Netz nutzen. Laut Haufe wurde CoPilot Tax im Jahr 2025 technisch weiterentwickelt und bietet jetzt verbessertes Intent-Verständnis sowie präzisere Antworten dank eines neuen KI-Agentensystems.
- Auditry: KI-gestützte Lösung zur Erstellung der steuerlichen Verfahrensdokumentation gemäß GoBD mit mandantenfähiger PRO-Version für Steuerkanzleien
Realistische nächste Schritte: Klein anfangen, groß denken
Erfolgreiche Digitalisierung folgt einem bewährten Muster:
1. Pilotbereich definieren:
Starten Sie nicht mit der kompletten Kanzlei, sondern fokussieren Sie sich zunächst auf einen überschaubaren Bereich – etwa die Belegerfassung für bestimmte Mandantengruppen.
2. Mitarbeiter von Anfang an einbeziehen
Die beste Technologie nützt nichts, wenn sie nicht akzeptiert wird. Holen Sie Ihr Team ins Boot, nehmen Sie Ängste ernst und feiern Sie erste Erfolge gemeinsam.
3. Messbare Ziele definieren
Legen Sie fest, woran Sie den Erfolg messen: Zeitersparnis bei der Belegbearbeitung? Weniger Rückfragen von Mandanten? Höhere Mitarbeiterzufriedenheit?
4. Iterativ verbessern
Beginnen Sie mit einfachen Lösungen und entwickeln Sie diese stetig weiter. Perfektion ist der Feind des Fortschritts.
5. Externe Unterstützung nutzen
Scheuen Sie sich nicht, Experten hinzuzuziehen. Die Investition in professionelle Beratung zahlt sich oft schnell aus.
Was auf dem Spiel steht: Die Kosten des Nicht-Handelns
Wenn Kanzleien jetzt nicht handeln, drohen konkrete Nachteile:
- Wettbewerbsnachteile: Modernere Konkurrenten arbeiten effizienter und können attraktivere Preise anbieten.
- Fachkräftemangel verschärft sich: Junge Talente erwarten moderne Arbeitsplätze und digitale Prozesse. Laut der SWI Finance Studie 2025 stellt die Rekrutierung neuer Mitarbeiter weiterhin die größte Herausforderung dar (83,1 Prozent).
- Mandantenverluste: Gerade jüngere Unternehmer erwarten digitale Services und schnelle Antworten.
- Steigende Kosten: Manuelle Prozesse werden immer teurer, während automatisierte Lösungen günstiger werden.
Auf der anderen Seite winken erhebliche Vorteile:
- Laut aktuellen Studien von 2025 können Kanzleien durch KI-basierte Automatisierung erhebliche Effizienzsteigerungen erreichen. Die deutsche Steuerberatungsgesellschaft Dr. Thiems & Kollegen berichtet über eine Zeitersparnis von bis zu 70 Prozent bei der Belegverarbeitung durch den Einsatz von Finmatics. Wirtschaftsberatung Schriek bestätigt im Januar 2025, dass die Automatisierung der Belegverarbeitung zu erheblichen Zeitersparnissen führt, da zuvor manuelle Eingaben und Überprüfungen wegfallen.
- Deutlich geringere Fehlerquoten
- Höhere Mitarbeiterzufriedenheit durch weniger repetitive Tätigkeiten
- Neue Geschäftsfelder durch verfügbare Kapazitäten
Die Digitalisierung der Steuerberatung ist kein Trend, sondern eine Notwendigkeit.
Kanzleien, die jetzt strategisch vorgehen, schaffen sich entscheidende Wettbewerbsvorteile. Dabei geht es nicht darum, den Menschen zu ersetzen, sondern ihn zu entlasten und zu befähigen.
Die erfolgreichste Kanzlei der Zukunft wird nicht die mit der besten Technik sein, sondern die, die Technologie klug einsetzt, um ihren Mandanten einen besseren Service zu bieten. Der Weg dorthin beginnt mit dem ersten Schritt – und der beste Zeitpunkt dafür ist jetzt.
Ein Appell: Lassen Sie sich nicht von der Komplexität des Themas abschrecken. Beginnen Sie klein, aber beginnen Sie. Die Digitalisierung ist ein Marathon, kein Sprint. Wer heute anfängt, hat morgen bereits einen Vorsprung.
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