Gesetzeswirrwarr: Auffassungsunterschiede zwischen BFH und BVerfG (BFH)
Hintergrund:
Im Streitfall ging es um ein Ehepaar, das in den Jahren 1998 und 1999 erhebliche Verluste erlitten hatte und diese Verluste durch einen entsprechenden Rücktrag auf vorangegangene Veranlagungszeiträume verteilt sehen wollte. Nach Ansicht des FA standen diesem Verlustrücktrag die mit dem StEntlG 1999/2000/2002 eingeführten Regelungen zur Mindestbesteuerung (§ 2 Abs. 3 EStG in der damaligen Fassung) entgegen.
Der BFH war der Auffassung, dass diese Regelungen wegen ihrer unverständlichen Fassung das rechtsstaatliche Gebot der Normenklarheit verletzen und deshalb verfassungswidrig seien. Zu ihrer Anwendung seien Rechenvorgänge erforderlich, die nicht nachvollziehbar – und deshalb nicht praktikabel - seien. Nach Ansicht des BFH muss aber eine Rechtsnorm von Verfassungs wegen so klar sein, dass sie für Verwaltung und Gerichte (nach-)vollziehbar und ihre Anwendung für den Betroffenen vorhersehbar ist.
Deshalb hat der BFH dem BVerfG im Wege eines Normenkontrollverfahrens die Frage vorgelegt, ob in den – auch im Schrifttum als unverständlich beurteilten - Regelungen zur Beschränkung des Verlustausgleichs ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Normenklarheit zu sehen ist (BFH, Beschluss v. 6.9.2006 XI R 26/04, BStBl II 2007, 167).
Diese Vorlage hat das BVerfG als unzulässig verworfen. Nach seiner Auffassung hat es in dem Vorlagebeschluss des BFH an einem Versuch gefehlt, „den Regelungsgehalt der Norm konkret zu erschließen“ (BVerfG Beschluss v. 12.10.2010 2 BvL 59/06, BFH/NV 2010, 2387).
Nach der Verwerfung des Vorlagebeschlusses musste der BFH nunmehr - unter Anwendung der umstrittenen Regelungen zur Mindestbesteuerung - eine Entscheidung treffen.
Entscheidung des BFH:
Der BFH hat entschieden, dass die von den Klägern im Jahre 1999 erzielten Verluste – entgegen der Auffassung des FA - in vollem Umfang zurückgetragen werden konnten und der Klage deshalb stattzugeben war.
Anmerkung:
Der BFH hat mit seiner Entscheidung den Anträgen der Kläger im Ergebnis zwar entsprochen. Keine abschließende Antwort konnte allerdings auf die allgemein interessierende Frage gegeben werden, unter welchen Voraussetzungen Gesetze noch dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entsprechen.
Steuergesetze sind nicht nur an den materiellen Vorgaben des GG (wie z.B. dem Gleichheitssatz, der Eigentumsgarantie (Übermaßverbot) und dem Sozialstaatsprinzip (Existenzminimum) zu messen. Sie müssen auch rechtsstaatlichen Anforderungen - wie insbesondere dem Gebot der Normenklarheit – genügen. Das oft als „chaotisch“ beurteilte Steuerrecht gibt immer wieder Anlass zu der Frage, ob ein Gesetz mangels Klarheit und Verständlichkeit noch als verfassungsmäßig anzusehen ist.
Das BVerfG hat für die Prüfung dieser - im Rahmen einer Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG) gestellten - Frage hohe Hürden aufgebaut und die Vorlage im Streitfall mangels hinreichender Begründung für unzulässig erklärt. Gleichwohl wird sich das BVerfG angesichts des Zustands unseres Steuerrechts und des wachsenden Drucks seitens der Steuerzahler und der Steuerrechtsanwender eines Tages wieder mit dem Problem befassen müssen – z.B. falls sich ein Stpfl. mit einer Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des BFH wendet, das auf der Grundlage eines für den Stpfl. und seinen Berater unverständlichen Gesetzes ergangen ist.
Abgesehen davon, dass ein Bürger die Gesetze verstehen möchte, die die Grundlage für seine Zahlungspflichten sind, kann es auch nicht sein, dass die Finanzverwaltung ein Gesetz wegen seiner Kompliziertheit nur mit Hilfe von Datenverarbeitungsprogrammen anwenden kann. Ein Steuergesetz, das selbst Steuerexperten nicht mehr ohne Einsatz solcher Hilfsmittel verstehen, ist verfassungswidrig.
Urteil v. 9.3.2011, IX R 72/04, veröffentlicht am 25.5.2011
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