Entscheidungsstichwort (Thema)
Prüfung der Zulässigkeit der Berufung in der Revisionsinstanz. Rechtswirksamkeit eines Verwaltungsakts
Leitsatz (redaktionell)
In der Tatsache, daß der Kläger im gerichtlichen Verfahren seinen Klageantrag dahin einschränkt, daß eine berufliche Beeinträchtigung nicht mehr geltend gemacht werde, liegt keine Zurücknahme der Klage. Das berufliche Betroffensein iS des BVG § 30 Abs 2 stellt nämlich keinen eigenständigen Anspruch, sondern lediglich eine Bemessungsgrundlage (Element) der Minderung der Erwerbsfähigkeit dar.
Orientierungssatz
1. Zu den auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfenden unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen gehören sowohl die Zulässigkeit der Berufung als auch die Zurücknahme der Klage, weil sie die fortwirkenden Grundlagen des Verfahrens erschüttern können (so zuletzt: Urteil des 8b Senats vom 1979-07-26 8b RKg 11/78 = SozR 1500 § 150 Nr 18). Von ihnen hängt die Rechtswirksamkeit des Verfahrens als Ganzes ab. Ihre Fehlbeurteilung stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, der auch ohne Rüge zu beachten ist.
2. Rechtswirksam ist ein Verwaltungsakt mit Außenwirkung erst, wenn er dem Betroffenen bekanntgegeben ist. "Ergangen" iS von SGG § 96 ist ein Verwaltungsakt erst mit seiner Bekanntgabe.
Normenkette
SGG § 102 Fassung: 1953-09-03, § 103 Fassung: 1974-07-30, § 143 Fassung: 1953-09-03, § 96 Fassung: 1953-09-03; BVG § 30 Abs. 2
Verfahrensgang
LSG für das Saarland (Entscheidung vom 14.02.1978; Aktenzeichen L 4 V 9/76) |
SG für das Saarland (Entscheidung vom 02.12.1975; Aktenzeichen S 20 V 12/74) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 14. Februar 1978 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem in Frankreich lebenden Kläger deutscher Staatsangehörigkeit wegen der ihm mit Neufeststellungsbescheid vom 21. September 1971 anerkannten Schädigungsfolgen Rente nach einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) als um 40 vH und 60 vH (vorher 30 vH) unter Berücksichtigung des § 30 Abs 2 Bundesversorgungsgesetz (BVG) und ein Berufsschadensausgleich nach § 30 Abs 3 und 4 BVG zusteht.
Der Kläger erlernte den Beruf eines Kaufmanns, übte ihn nach dem Kriege bis 1948 aus, arbeitete danach im landwirtschaftlichen Betrieb eines Verwandten in Südfrankreich und war anschließend Pächter einer Landwirtschaft. Seit 1. Mai 1973 bezieht er Rente von der Caisse de Mutualité Agricole.
Auf seinen Antrag vom Juli 1970 gewährte ihm der Beklagte mit Bescheid vom 21. September 1971 unter Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen ab 1. Juli 1970 Rente nach einer MdE von 40 vH, für die Zeit vom 1. September 1970 bis 28. Februar 1971 von 60 vH wegen einer akuten Erkrankung und ab 1. März 1971 wiederum nach einer MdE von 40 vH. Eine Entscheidung über einen Ausgleichsrentenanspruch und die Voraussetzungen des § 30 Abs 2 bis 4 BVG wurde ihm darin zugesichert. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Bescheid vom 17. Oktober 1973). Während des Klageverfahrens entschied der Beklagte, daß dem Kläger Ausgleichsrente, eine Höherbewertung der MdE (§ 30 Abs 2 BVG) und ein Berufsschadensausgleich nicht zustehe (Bescheid vom 16. April 1974). Dieser Bescheid wurde dem Kläger während des Berufungsverfahrens am 26. Januar 1977 zugestellt.
Das Sozialgericht (SG) für das Saarland hat die Klage, mit der der Kläger zuletzt von dem Beklagten höhere Rente und Berufsschadensausgleich begehrt hatte, abgewiesen (Urteil vom 2. Dezember 1975). Das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland hat die Berufung, soweit der Kläger für die Zeit ab 1. September 1970 bis 28. Februar 1971 Rente nach einer höheren MdE und Berufsschadensausgleich begehrte, als unzulässig verworfen und sie im übrigen zurückgewiesen (Urteil vom 14. Februar 1978). Die Berufung hat es für den genannten Zeitraum hinsichtlich einer höheren MdE als 60 vH nach § 148 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und für den begehrten Berufsschadensausgleich wegen eines abgelaufenen Zeitraumes nach § 148 Nr 2 SGG für unzulässig gehalten. Da der Kläger im Klageverfahren ein besonderes berufliches Betroffensein (§ 30 Abs 2 BVG) nicht mehr geltend gemacht habe, sei der Rechtsstreit durch teilweise Klagezurücknahme erledigt. Im übrigen stehe ihm kein Berufsschadensausgleich zu, da er nicht schwerbeschädigt sei.
Der Kläger hat die nachträglich vom Senat zugelassene Revision eingelegt und Verletzung der §§ 148 Nr 2 und 3, 102 SGG gerügt.
Der Kläger beantragt sinngemäß
die Aufhebung des Urteils des LSG und die Verurteilung des Beklagten zur Rentengewährung nach einer abgestuften, jeweils höheren als der anerkannten MdE in Abänderung des Bescheides vom 21. September 1971 wegen einer Verschlimmerung der Schädigungsfolgen unter Berücksichtigung des § 30 Abs 2 BVG und zur Gewährung von Berufsschadensausgleich,
hilfsweise die Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG.
Der Beklagte schließt sich diesem Hilfsantrag an.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben. Der Rechtsstreit ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG hat zu Unrecht über einen Teil des Streitgegenstandes durch Prozeßurteil anstatt durch Sachurteil entschieden. Es ist bei seiner Entscheidung rechtsfehlerhaft von einer teilweisen Klagezurücknahme ausgegangen.
Zu den auch in der Revisionsinstanz von Amts wegen zu prüfenden unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen gehören sowohl die Zulässigkeit der Berufung als auch die Zurücknahme der Klage, weil sie die fortwirkenden Grundlagen des Verfahrens erschüttern können (so zuletzt: Urteil des 8b Senats vom 26. Juli 1979 - 8b RKg 11/78 - mwN). Von ihnen hängt nämlich die Rechtswirksamkeit des Verfahrens als Ganzes ab. Ihre Fehlbeurteilung stellt einen wesentlichen Verfahrensmangel dar, der auch ohne Rüge zu beachten ist. Ein solcher Mangel ist hier feststellbar.
Das LSG hätte die nach dem Berufungsantrag auf Änderung des Neufeststellungsbescheides (§ 62 BVG) vom 21. September 1971 und auf Gewährung von Berufsschadensausgleich gerichtete Berufung nicht teilweise als unzulässig verwerfen und den Rechtsstreit durch Klagerücknahme teilweise als erledigt ansehen dürfen. Es hätte vielmehr über den gesamten Streitgegenstand umfassend sachlich entscheiden müssen.
Der dem Kläger erst am 26. Januar 1977 rechtswirksam und damit für den Beklagten bindend zugestellte ergänzende Bescheid vom 16. April 1974 (§§ 24 Abs 2, 27 Verwaltungsverfahrensgesetz - VwVfG - Kriegsopferversorgung - KOV -) über einkommensabhängige Leistungen und über die Voraussetzungen des § 30 Abs 2 BVG ist nach §§ 96, 153 Abs 1 SGG zum Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Die Erledigung des gesamten Streitstoffes in einem Verfahren drängt sich nämlich wegen des Sachzusammenhanges auf (BSG SozR 1500 § 96 Nr 4 mwN). Daran ändert nichts, daß er dem Kläger erst während des Berufungsverfahrens zugestellt wurde, während das SG ihn bereits in sein Verfahren einbezogen hat. Rechtswirksam ist ein Verwaltungsakt mit Außenwirkung erst, wenn er dem Betroffenen bekanntgegeben ist. "Ergangen" im Sinne von § 96 SGG ist ein Verwaltungsakt erst mit seiner Bekanntgabe, die jedenfalls in der Zustellung vom 26. Januar 1977 während des Berufungsverfahrens liegt. Das LSG war deshalb gehalten, über die vom Kläger im Klagewege begehrten Leistungen sachlich zu entscheiden. Dazu wäre das Berufungsgericht selbst dann verpflichtet gewesen, wenn die Berufung gegen den in erster Reihe angegriffenen Bescheid vom 21. September 1971 unzulässig gewesen wäre (Meyer-Ladewig, SGG, § 96 Anm 7). Die Berufung war aber entgegen der Auffassung des LSG nicht teilweise unzulässig. Wie der Kläger zutreffend rügt, hat er durchgehend höhere Rente und Berufsschadensausgleich begehrt, so daß die Berufung zeitlich uneingeschränkt die Schwerbeschädigteneigenschaft und den Berufsschadensausgleich betraf. Damit kamen die Berufungsausschlußgründe des § 148 Nr 2 und 3 SGG nicht in Betracht (BSG SozR Nrn 29, 35 zu § 148 SGG).
Im übrigen ist der Revision zuzustimmen, wenn sie in der Erklärung des Klägers "ein Berufsschaden werde nicht mehr geltend gemacht" keine teilweise Klagerücknahme (§ 102 SGG), sondern höchstenfalls eine Einschränkung des Klageantrags ohne Änderung des Klagegrundes nach § 99 Abs 3 Nr 2 SGG erblickt. Entscheidend bleibt nämlich, daß das Betroffensein im Sinne von § 30 Abs 2 BVG nur einen der Bemessungsfaktoren für den anspruchsbegründenden Grad der MdE darstellt, also kein eigenständiger Anspruch ist (zur Einheitlichkeit des Rentenanspruchs: BSG 36, 285, 290; 37, 80, 84 = SozR 3100 § 30 Nr 1; SozR 3100 § 40 Nr 3).
Hat somit unter Beachtung der rechtserheblichen Gesichtspunkte - dies trifft sowohl hinsichtlich einer erhöhten, die Schwerbeschädigteneigenschaft nicht aber die Zusammenhangsfrage berührenden MdE für einen bestimmten Zeitraum, als auch für den Berufsschadensausgleich zu - zu keiner Zeit ein reiner Gradstreit (§ 148 Nr 3 SGG) oder ein abgelaufener Zeitraum (§ 148 Nr 2 SGG) vorgelegen (BSG SozR Nr 2, 6, 18, 29, 35 zu § 148 SGG), mußte das LSG in richtiger Auslegung des Klägerbegehrens (sowohl Berufung als auch Klage) ab Verschlimmerungsantrag darüber in der Sache befinden, welche der geltend gemachten Ansprüche dem Kläger ab 1. Mai 1970 zustehen. Da das LSG wegen seiner anderen Rechtsauffassung nicht die hierfür erforderlichen Feststellungen getroffen hat, sind diese nachzuholen.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG überlassen.
Fundstellen