Beteiligte
Kläger und Revisionsbeklagter |
Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
I.
Unter den Beteiligten ist streitig, ob dem am 8. Oktober 1938 geborenen Kläger ab 1. Juni 1972 eine Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen ist.
Der Kläger war von 1953 bis 1960 im Bergbau, zuletzt als Hauer tätig. Anschließend arbeitete er bei verschiedenen Firmen als angelernter Elektromonteur. Ab 1969 war er Verkaufsfahrer. Im August 1973 übernahm er die Stelle eines Hausmeisters an einer Handelsschule mit einer täglichen Arbeitszeit von 3 Stunden. Diese Tätigkeit gab er wieder auf und verrichtete seit Anfang 1974 täglich einige Stunden Botengänge und leichte Hilfsarbeiten. Einen im Mai 1972 gestellten Antrag, ihm Rente wegen Erwerbs- oder Berufsunfähigkeit oder hilfsweise Bergmannsrente zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 3. Juli 1972 ab. Der dagegen eingelegte Widerspruch wurde mit Bescheid vom 17. Januar 1973 zurückgewiesen. Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Koblenz mit Urteil vom 25. September 1973 abgewiesen. Auf die dagegen vom Kläger eingelegte Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 24. April 1975 das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheids aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Juni 1972 Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen.
Das LSG hatte ein nach zehntägiger stationärer Beobachtung in der Pfälzischen Nervenklinik Landeck von dem Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. R… und der Vertragsärztin Dr. S… erstattetes Gutachten vom 2. Oktober 1974 eingeholt. Nach diesem Gutachten liegt beim Kläger eine schwere Konversionsneurose vor. Seit Mai 1972, mit Sicherheit aber seit dem Zeitpunkt der Untersuchung in der Pfälzischen Nervenklinik, sei er erwerbsunfähig. Die Beschwerden seien zwar vorwiegend psychogen bedingt, aber mit Sicherheit nicht weniger beeinträchtigend als Symptome mit organischer Grundlage. Aus eigener Kraft sei der Kläger nicht in der Lage, seine Fehlhaltung zu korrigieren. Eine Heilungschance bestehe nur bei konsequenter psychotherapeutischer Behandlung, ggf. unterstützt durch leichte medikamentöse Therapie. Einleitend wäre eine stationäre Behandlung notwendig. Ohne eine derartige Therapie sei eine Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit kaum zu erwarten.
Nach Eingang dieses Gutachtens hatte die Beklagte folgendes Vergleichsangebot gemacht: "…
a) |
Die Beklagte erklärt sich bereit, dem Kläger ein Heilverfahren i. S. der §§ 35 ff. RKG von genügend langer Dauer auf der Psychotherapeutischen Abteilung des Knappschaftskrankenhauses Essen-Steele (Prof. Dr. M…-H…) zu gewähren. |
b) |
Die Beklagte verpflichtet sich, dem Kläger für den Zeitraum vom 1.7.1974 (fiktiver Rentenbeginn) bis zum Beginn der Heilmaßnahme vorgezogenes Übergangsgeld gem. § 40 d Abs. 1 Satz 2 RKG und für die Dauer der Heilmaßnahme Übergangsgeld nach § 40 d Abs. 1 Satz 1 RKG zu zahlen. |
c) |
Im übrigen verpflichtet sich die Beklagte, nach Beendigung der Heilmaßnahme unverzüglich von sich aus zu prüfen, ob und ggf. für welche Rente der Kläger die Leistungsvoraussetzungen erfüllt, und ihm über das Ergebnis dieser Prüfung einen rechtsbehelfsfähigen Bescheid zu erteilen. |
d) |
Der Kläger erklärt sich mit der Durchführung der ärztlicherseits empfohlenen Heilmaßnahme einverstanden und nimmt das Vergleichsangebot der Bundesknappschaft an. Im übrigen zieht er seine Berufung zurück." |
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Der Kläger hat jedoch der vorgeschlagenen vergleichsweisen Erledigung des Rechtsstreits nicht zugestimmt, so daß das Verfahren fortgesetzt wurde. Das LSG hat zur Begründung seines Urteils ausgeführt, wegen der bei ihm vorliegenden Neurose sei der Kläger weder in der Lage, regelmäßig einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, noch durch Erwerbstätigkeit mehr als nur geringfügige Einkünfte zu erzielen. Die Beklagte könne sich nicht mit Erfolg darauf berufen, daß dem Kläger jedenfalls im gegenwärtigen Zeitpunkt noch keine Rente zustehe, weil nicht auszuschließen sei, daß durch die von ihr angebotene psychotherapeutische Langzeitbehandlung eine Besserung der Erwerbsfähigkeit erreicht werden könne. Es sei zwar richtig, daß nach § 7 Abs. 1 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation (RehabG) vom 7. August 1974 (BGBl. I S. 1881) Renten wegen Erwerbsunfähigkeit erst dann bewilligt werden sollten, wenn zuvor Maßnahmen zur Rehabilitation durchgeführt worden seien, es sei denn, daß ein Erfolg solcher Maßnahmen nicht zu erwarten sei. Dem Kläger sei aber bereits ein Heilverfahren im April/Mai 1974 im Bad Waldsee gewährt worden, das zu keiner Besserung seines Zustandes geführt habe. Auch fehle es an näheren Anhaltspunkten dafür, daß die von der Beklagten vorgesehene Spezialbehandlung mit auch nur geringer Aussicht in absehbarer Zeit zu dem erstrebten Erfolg führen könne. Mit dem Vorschlag zu einer psychotherapeutischen Behandlung sei lediglich eine entfernt liegende Chance aufgezeigt worden. Eine von Ärzten in einem Gutachten beiläufig angedeutete entfernte Möglichkeit der Heilung oder Besserung berechtige die Beklagte jedenfalls dann nicht zur Rentenverweigerung, wenn bereits Rehabilitationsmaßnahmen vergeblich durchgeführt worden seien und feststehe, daß der Versicherte, gerechnet von der Rentenantragstellung, schon seit mehreren Jahren erwerbsunfähig sei und damit einen Anspruch auf Rente habe. In derartigen Fällen könne es dem Versicherten nicht zugemutet werden, noch längere Zeit auf die ihm zustehende Rentenzahlung zu warten. Der Versicherungsträger sei vielmehr verpflichtet, zunächst die Rente zu gewähren und dann oder gleichzeitig zu prüfen, ob ggf. noch Rehabilitationsmaßnahmen zum Erfolg führen könnten. Für diese Gesetzesauslegung spreche auch der Wortlaut des § 7 Abs. 2 RehabG, wonach der Versicherungsträger nach erfolgter Rentengewährung weiterprüfen solle, ob Maßnahmen zur Rehabilitation zumutbar und geeignet seien, die Erwerbsfähigkeit des Behinderten wiederherzustellen oder zu bessern. Gegen das Urteil hat das LSG die Revision zugelassen.
Die Beklagte rügt mit der von ihr eingelegten Revision eine unrichtige Anwendung des § 47 Abs. 2 Reichsknappschaftsgesetz (RKG). Zwar ergebe sich aus dem der Entscheidung zugrunde liegenden ärztlichen Gutachten, daß der Kläger zur Zeit nicht in der Lage sei, in gewisser Regelmäßigkeit einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Das rechtfertige jedoch nach Lage des Falles nicht die Zahlung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, denn insoweit greife zunächst § 7 RehabG ein. Es gelte der Grundsatz der Vorrangigkeit der Rehabilitation vor der Rente; das LSG stütze sich zu Unrecht auf die zuvor durchgeführte Heilbehandlung in Bad Waldsee, die angeblich erfolglos verlaufen sei. Abgesehen davon, daß der Kläger nach der abschließenden Beurteilung "gebessert" und als arbeitsfähig nach sieben Tagen Schonung entlassen worden sei, sei die Behandlung in Bad Waldsee auch gar nicht wegen der hier entscheidenden neurotischen Erscheinungen gewährt worden. Zur Durchführung einer hierauf abgezielten Behandlung hätte erst aufgrund des Gutachtens der Ärzte der Pfälzischen Nervenklinik Veranlassung bestanden. Diese Gutachter hätten darauf hingewiesen, daß bei konsequenter psychotherapeutischer Behandlung, ggf. durch eine leichte medikamentöse Therapie gestützt, eine Heilungschance bestehe. Das LSG habe auch nicht davon ausgehen können, daß von solchen Maßnahmen kein Erfolg zu erwarten gewesen sei, denn bisher sei nicht einmal geklärt worden, wie die seelische Beschaffenheit des Klägers beurteilt werde, wenn er in bezug auf eine Erwerbsarbeit als willensunfrei und stark willensgehemmt angesehen werde. Auch die voraussichtliche Dauer der Krankheit, die Aussichten und Mittel für eine Heilung oder Besserung und die Wege für eine Wiedereingliederung des Klägers in das Arbeitsleben seien bisher unzureichend geklärt. Gerade in Fällen der vorliegenden Art dürfe an die Zubilligung einer Dauerrente erst gedacht werden, wenn alle anderen durch das Gesetz gebotenen Leistungswege ausgeschöpft oder mit Sicherheit versperrt seien. Die Simulationsnähe neurotischer Störungen und die Schwierigkeiten, solche Störungen von Fällen der Simulation oder der Aggravation klar abzugrenzen, gebieten es nach Ansicht der Beklagten, von den ärztlichen Sachverständigen eine eindeutig abgegrenzte Beweisantwort zu verlangen und bei der Beweiswürdigung einen strengen Maßstab anzulegen. Der Neurotiker dürfe in seiner Vorstellung, unheilbar krank zu sein, nicht durch eine vorzeitige Rentengewährung bestätigt werden, weil er danach noch mehr als zuvor dem helfenden Bemühen der Ärzte entzogen werde. Auch hätte das LSG den Eintritt des Versicherungsfalles nicht auf Mai 1972 festlegen dürfen, denn mit Sicherheit hätten die ärztlichen Sachverständigen den Eintritt der Erkrankung erst bei der Untersuchung in der Pfälzischen Nervenklinik Landeck im Juni 1974 festgestellt.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil abzuändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Koblenz vom 23. September 1973 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Nach seiner Ansicht leidet er an einer schweren Konversionsneurose, die es ihm unmöglich macht, seine Fehlhaltung aus eigener Kraft zu korrigieren und eine Beschäftigung auszuüben, so daß er seit Mai 1972 erwerbsunfähig sei. § 7 Abs. 1 RehabG stehe der Entscheidung des LSG nicht entgegen. Das LSG habe ausreichend und zutreffend dargelegt, warum diese Vorschrift die Verurteilung zur Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nicht ausschließe.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Die vom LSG aufgrund des von den Ärzten Dr. R… und Dr. S… von der Pfälzischen Nervenklinik Landeck erstatteten Gutachtens vom 2. Oktober 1974 getroffene Feststellung, daß der Kläger wegen einer Konversionsneurose zur Zeit nicht in der Lage sei, in gewisser Regelmäßigkeit einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, ist von der Beklagten jedenfalls innerhalb der Revisionsbegründungsfrist nicht genügend substantiiert gerügt worden, so daß der Senat an diese Feststellung gebunden ist. Wenn hiervon ausgehend das LSG zu dem Ergebnis gekommen ist, daß der Kläger erwerbsunfähig und ihm ab 1. Juni 1972 Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen ist, so ist weder § 47 Abs. 2 RKG verletzt noch ein Verfahrensfehler erkennbar. Das gilt auch für die Festlegung des Eintritts des Versicherungsfalles (Mai 1972) denn nach dem genannten Gutachten ist der Kläger seit Mai 1972, mit Sicherheit aber seit dem Zeitpunkt der Untersuchung in der Pfälzischen Nervenklinik, erwerbsunfähig. Daraus konnte ohne Verfahrensfehler mit hinreichender Wahrscheinlichkeit auf den Eintritt des Versicherungsfalles im Mai 1972 geschlossen werden. Die Ansicht der Beklagten, der Verurteilung zur Rentengewährung habe § 7 RehabG entgegengestanden, ist nicht zutreffend. Zwar "sollen" nach dieser Vorschrift Renten wegen Erwerbsunfähigkeit erst dann bewilligt werden, wenn zuvor Maßnahmen zur Rehabilitation durchgeführt worden sind, es sei denn, daß - insbesondere wegen Art und Schwere der Behinderung - ein Erfolg solcher Maßnahmen nicht zu erwarten ist. Jedoch ergibt sich aus dieser Vorschrift keine Rechtsgrundlage für die Verweigerung einer Rente, wenn ein Versicherter eine Rehabilitationsmaßnahme ablehnt. § 7 Abs. 2 RehabG enthält lediglich eine Sollvorschrift d.h. eine Aufforderung an die Versicherungsträger, Maßnahmen zur Förderung der Erwerbsfähigkeit den Vorrang vor der Gewährung einer Rente zu geben. Die Beklagte hätte zwar möglicherweise nach der Ablehnung ihres Vergleichsangebots und der sich daraus ergebenden Weigerung des Klägers, sich der vorgeschlagenen Rehabilitationsmaßnahme zu unterziehen, die Rechtsfolgen aus § 42 Abs. 2 RKG herbeiführen können, wenn sie dem Kläger danach die vorgeschlagene Maßnahme ohne Bedingungen, insbesondere ohne damit die Forderung der Zurücknahme einer Berufung zu verbinden, angeboten und dieses Angebot mit der erforderlichen schriftlichen Belehrung über die Folgen einer Verweigerung der angebotenen Rehabilitationsmaßnahme verbunden hätte (§ 42 Abs. 2 Satz 2 RKG). Wenn der Kläger auch dann noch bei seiner Weigerung verblieben wäre, sich der vorgeschlagenen Rehabilitationsmaßnahme zu unterziehen, hätte die Beklagte ihm die Rente ganz oder teilweise auf Zeit versagen können. So ist aber nicht verfahren worden, so daß das Urteil des LSG zu Recht ergangen ist.
Nach der nunmehr erfolgten rechtskräftigen Verurteilung zur Rentenzahlung, bleibt der Beklagten die Möglichkeit, erneut die Durchführung von Rehabilitationsmaßnahmen zu versuchen bzw. die sich aus § 42 Abs. 1 RKG ergebenden Rechtsfolgen herbeizuführen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz. …
Fundstellen