Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 19.10.1967) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. Oktober 1967 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin ist die Witwe des am 2. März 1963 gestorbenen Josef U… (Ue.…). Dieser hatte als Beschäftigter der K… … O… AG in K… K… den Fahrradabstellplatz der Werksangehörigen zu bewachen. Der Platz befand sich außerhalb des Werksgeländes unweit des Tores III. Ue.… wohnte in Köln-Ostheim. Den Heimweg von der Arbeit legte er regelmäßig durch die Wiersbergstraße zur Kalker Hauptstraße und von dort mit der Straßenbahn zurück; diese bestieg er an der Haltestelle “Kalker Kapelle”. Am 22. Oktober 1962 wählte er einen anderen Weg. Er bog nicht zur Wiersbergstraße ab, sondern ging von Tor III zu Tor I über das Werksgelände zur Rolshover Straße. Hier kaufte er in der Hirsch-Apotheke Medikamente ein. Anschließend wollte er von der Haltestelle “Kalker Post” aus mit der Straßenbahnlinie, die er auch sonst für seinen Heimweg benutzte, nach Hause fahren. Als er an dieser Haltestelle die Kalker Hauptstraße überqueren wollte, wurde er von einem Kraftfahrzeug erfaßt und erheblich verletzt. Wegen der Unfallfolgen wurde er im Krankenhaus stationär behandelte. Auf diesem Krankenlager starb er; er war herzleidend.
Die Beklagte lehnte mit je einem gesonderten Bescheid vom 27. August 1963 die Entschädigungsansprüche der Klägerin als Bezugsberechtigte wie als Hinterbliebene mit folgender Begründung ab: Der unfallbringende Weg habe mit der vorangegangenen Tätigkeit Ue…’s. im Betrieb nicht im ursächlichen Zusammenhang gestanden; außerdem sei der Tod Ue…’s. auf eine vom Unfall unabhängige Herzinsuffizienz zurückzuführen.
Das Sozialgericht Köln hat nach Durchführung einer Ortsbesichtigung und Einholung eines ärztlichen Gutachtens über die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Unfall und dem Tod Ue…’s. durch Urteil vom 6. Januar 1966 die Klage abgewiesen.
Die Berufung hiergegen hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 19. Oktober 1967 zurückgewiesen. Zur Begründung ist u.a. ausgeführt: Zwar sei es wahrscheinlich, daß der Tod Ue…’s. durch den Unfall vom 22. Oktober 1962 wesentlich mitverursacht worden sei. Trotzdem seien aber die Entschädigungsansprüche der Klägerin nicht begründet, weil sich der Unfall nicht auf einem nach § 543 der Reichsversicherungsordnung in der damals geltenden Fassung (RVO aF) geschützten Weg von der Arbeitsstätte ereignet habe. Der Unfall sei nicht auf dem üblichen Heimweg eingetreten; Ue.… habe seine Wohnung vielmehr auf einem Umweg erreichen wollen und sei auf dieser Wegstrecke verunglückt. Zwar habe er den Weg nach Hause wie gewöhnlich angetreten, ihn aber nicht zur Straßenbahnhaltestelle “Kalker Kapelle” fortgesetzt, sondern, statt in die Wiersbergstraße einzubiegen, den Weg durch das Werksgelände zum Tor I gewählt, um in der Rolshover Straße Medikamente zu besorgen. Der Weg auf dem Betriebsgelände von Tor III zu Tor I betrage mehrere hundert Meter. Dieser Weg habe mit der eigentlichen dienstlichen Tätigkeit Ue…’s. nicht in einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang gestanden, er rechne aber zu dem Gesamtweg, den Ue.… von seiner Arbeitsstätte aus zurückgelegt habe. Deshalb stelle sich dieser Weg als ein erheblicher Umweg dar. Die Wegstrecke vom Fahrradabstellplatz über Tor I zur Haltestelle “Kalker Post” sei um ein Vielfaches länger als der übliche Weg zur Haltestelle “Kalker Kapelle”; hinzu komme die Straßenbahnstrecke zwischen den Haltestellen “Kalker Post” und “Kalker Kapelle”. Der Medikamenteneinkauf in der Hirsch-Apotheke sei nicht geeignet, den Versicherungsschutz auf dem Umweg zu begründen; denn er sei nicht betriebsbedingt gewesen. Es sprächen vielmehr alle Umstände dafür, daß der zum Unfall führende Weg durch eigenwirtschaftliche Gründe bestimmt gewesen sei. Eine andere Beurteilung rechtfertige auch nicht die Behauptung der Klägerin, ihrem Ehemann sei wegen seines besonderen Vertrauensverhältnisses zur Hirsch-Apotheke nicht zuzumuten gewesen, die benötigten Medikamente in einer am üblichen Heimweg liegenden Apotheke zu besorgen. Selbst wenn aber die Frage offen geblieben wäre, ob der Medikamentenkauf aus betriebsbedingten oder eigenwirtschaftlichen Gründen vorgenommen worden sei, könne ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem zurückgelegten Weg und der betrieblichen Tätigkeit Ue…’s. nicht bejaht werden, weil insoweit nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast die Unerweislichkeit des zu den anspruchsbegründenden Tatsachen gehörenden Kausalzusammenhangs zu Lasten der Klägerin gehe. Dahingestellt bleiben könne, ob der Versicherungsschutz auch deshalb versagt werden müsse, weil Ue.… auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle “Kalker Post” von der Rolshover Straße her nicht auf der Linken, sondern auf der rechten Straßenseite der Kalker Hauptstraße gegangen sei.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Klägerin am 15. Dezember 1967 zugestellt worden. Sie hat am 12. Januar 1968 Revision eingelegt und diese am 24. Januar 1968 u.a. wie folgt begründet: Das LSG habe § 543 RVO aF nicht richtig angewandt. Es habe verkannt, daß der Heimweg Ue…’s. am Unfalltage erst mit dem Verlassen des Werksgeländes durch das Tor I begonnen habe. Dieses Gelände sei nicht so weiträumig, daß als Arbeitsstätte nur der begrenzte Ort der eigentlichen betrieblichen Tätigkeit in Betracht komme. Es sei zu berücksichtigen, daß die im Unternehmen Beschäftigten regelmäßig und täglich gezwungen seien, wegen ihrer betrieblichen Aufgaben über das gesamte Werksgelände verstreut gelegene Stellen aufzusuchen; so werde es häufig vorkommen, daß sie einen betriebsbezogenen Weg über das Werksgelände mit ihrem Heimweg verbinden. Sei dies nicht nachweisbar, dürfe daran der Entschädigungsanspruch nicht scheitern; denn Sinn der sozialversicherungsrechtlichen Vorschriften müsse es sein, im Zweifel die Leistungen zu gewähren. Jedenfalls treffe die Ansicht des LSG nicht zu, § 543 RVO aF sei eng auszulegen; sie stehe auch im Widerspruch zu der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Versicherungsschutz auf Wegen nach und von der Arbeitsstätte bei Unterbrechungen dieser Wege zu privaten Verrichtungen. Auf dem zum Unfall führenden Weg sei Ue.… nur geringfügig von seinem üblichen Heimweg abgewichen. Die in dem Aufsuchen der Hirsch-Apotheke liegende Unterbrechung des Heimweges sei nach Art und Dauer der eingeschobenen Betätigung für den Versicherungsschutz unschädlich. Überdies sei es als überholt anzusehen, zwischen dem Medikamentenkauf und der Betriebsarbeit einen engen Zusammenhang zu fordern. Der Entschluß Ue…’s., gelegentlich seines Heimweges eine nahe gelegene Apotheke aufzusuchen, sei ein Vorhaben, welches “innerhalb der Heimwegsituation” bleibe. Hierbei hätte das LSG auch beachten müssen, daß Ue.… den Umweg über die Rolshover Straße häufig gemacht habe, weil er sich seine Arzneien stets in der Hirsch-Apotheke besorgt habe, mit deren Inhaber ihn ein jahrzehntelanges Vertrauensverhältnis verbunden habe.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin aus Anlaß des unfallbedingten Todes ihres Ehemannes Sterbegeld und Hinterbliebenenrente im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie pflichtet der Begründung des angefochtenen Urteils im Wesentlichen bei.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist zulässig; sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Das LSG hat zutreffend entschieden, daß Ue.… auf dem Weg, auf dem er am 22. Oktober 1962 verunglückte, nicht unter Versicherungsschutz nach § 543 RVO aF stand. Es hat allerdings diesen Weg zu Unrecht unter dem Gesichtspunkt des Umweges betrachtet. Nach den von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsurteils trat Ue.… am Unfalltag seinen Heimweg von der Arbeit nicht unmittelbar an, sondern suchte zunächst eine abseits dieses Weges gelegene Apotheke auf; anschließend wollte er mit der Straßenbahnlinie, die er auch auf seinem üblichen Heimweg von der Arbeit benutzte, nach Hause fahren. Dadurch verlängerte er seinen gewöhnlichen Heimweg durch einen zusätzlichen, in entgegengesetzter Richtung verlaufenden Weg. Dieser Weg war aber kein Umweg im Rechtssinne. Ein solcher Weg liegt nach der Rechtsprechung nicht schon vor, wenn der Versicherte von seinem gewöhnlichen Weg nach und von der Arbeitsstätte abweicht und diesen erweitert; vielmehr muß auch der geänderte Weg dieselbe Zielrichtung haben wie der übliche Weg nach und von der Arbeitsstätte (vgl. SozR Nr. 5 und 12 zu § 543 RVO aF; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Bd. I S. 280 Anm. 19 zu § 550 RVO = § 543 RVO aF). Dies ist hier nicht der Fall. Der zusätzliche Weg, den Ue.… am Unfalltag wählte, war im Vergleich zu seinem üblichen Heimweg von der Arbeit, der über die Wiersbergstraße zur Straßenbahnhaltestelle “Kalker Kapelle” auf der Kalker Hauptstraße und weiter mit der Straßenbahn nach Hause führte, durch eine andere Zielrichtung bestimmt. Ue.… wollte auf ihm durch das Betriebsgelände zur Rolshover Straße gelangen und in dieser Straße die Hirsch-Apotheke aufsuchen, um sich Medikamente zu besorgen. Diese Absicht und nicht das Erreichen der Wohnung war für die Zweck- und Zielrichtung dieses Weges ausschlaggebend.
Hierbei ist allerdings nicht zu verkennen, daß Ue.… auch auf dem längeren Weg seiner Wohnung zustrebte. Der gesamte Weg, den Ue.… am Unfalltag von der Arbeitsstätte aus zurücklegen wollte, bestand nach seinen unterschiedlichen Zielrichtungen jedoch aus zwei Teilen; sie sind auch ihrer Zweckbestimmung nach klar voneinander zu trennen. Auf dem ersten Wegteil, der spätestens an der Stelle beendet gewesen wäre, an der Ue.… mit der Straßenbahn den üblichen Heimweg erreicht hätte, und auf dem sich der Unfall ereignete, wäre der Versicherungsschutz begründet worden, wenn das Besorgen der Medikamente in der Hirsch-Apotheke betriebsbezogen gewesen wäre. Das ist, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, jedoch nicht der Fall. Die gegenteilige Ansicht der Revision geht fehl. Bei dem Aufsuchen der Apotheke mag es sich, wie die Revision meint, um ein “innerhalb der Heimwegsituation” gebliebenes Vorhaben gehandelt haben; zur Begründung des Versicherungsschutzes auf dem Wege, den Ue.… anläßlich des Medikamentenkaufs zurückgelegt hat, reicht ein derart loser Zusammenhang jedoch nicht aus. Dasselbe gilt, wie keiner näheren Darlegung bedarf, für den von der Revision geltend gemachten Gesichtspunkt, Ue.… habe sich nicht auf den direkten Heimweg begeben können, weil ihn mit dem Inhaber der Hirsch-Apotheke ein besonderes Vertrauensverhältnis verbunden und er deshalb bei diesem schon immer seine Arzneien gekauft habe. Da, wie bereits ausgeführt, der Weg, den Ue.… zur Hirsch-Apotheke und weiter zur Straßenbahnhaltestelle “Kalker Post” zurücklegte, als gesonderter Wegteil zu betrachten ist, geht auch das Vorbringen der Revision fehl, mit dem sie unter Berufung auf Entscheidungen des erkennenden Senats Sachverhalte anführt, welche die Frage des Wiederauflebens des Versicherungsschutzes nach einer Unterbrechung des Weges nach und von der Arbeitsstätte betreffen.
Die Rechtslage wäre freilich anders zu beurteilen, wenn Ue.… am Unfalltag den Weg von der Arbeitsstätte nicht schon vom Fahrradabstellplatz aus, sondern erst mit dem Verlassen des Werksgeländes durch das Tor I angetreten hätte. Unter dieser Voraussetzung wäre der Weg zur Straßenbahnhaltestelle “Kalker Post” und weiter nach Hause der unmittelbare, nach § 543 RVO aF versicherte Heimweg gewesen, der durch die private Besorgung in der Hirsch-Apotheke lediglich unterbrochen worden wäre. Die Frage, ob auch das eigentliche Werksgelände, jedenfalls soweit es Ue.… auf seinem Weg von Tor III zum Tor I überschritt, seine Arbeitsstätte im Sinne des § 543 RVO aF war, ist nach Auffassung des erkennenden Senats jedoch zu verneinen. Nach den von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen des LSG lag der Fahrradabstellplatz außerhalb des Werksgeländes der Klöckner-Humboldt-Deutz AG in Köln-Kalk, und Ue.… war in diesem Betrieb nur mit der Bewachung des Fahrradabstellplatzes betraut. Der zum Unfall führende Weg hatte deshalb bereits mit dem Verlassen dieses Arbeitsplatzes begonnen. Ob und unter welchen Voraussetzungen in Unternehmen z.B. mit ausgedehntem Betriebsgelände für Beschäftigte, deren Arbeitsplatz innerhalb des Geländes auf einen bestimmten, begrenzten Raum beschränkt ist, ein darüber hinausgehender, unter Umständen das gesamte Betriebsgelände umfassender Bereich als Arbeitsstätte in Betracht kommt, brauchte daher aus der Sicht des vorliegenden Falles nicht entschieden zu werden.
Soweit die Revision meint, im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit sei für eine Anwendung der Grundsätze der objektiven Beweislast kein Raum, steht ihre Ansicht mit der ständigen Rechtsprechung im Widerspruch (BSG 6, 70, 72; 7, 249, 254; 19, 52, 53; 21, 189, 192; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 6. Aufl., Band I S. 244 m I mit zahlreichen weiteren Nachweisen). In diesem Verfahren gibt es entgegen der Ansicht der Revision keine gesetzliche Beweisregel des Inhalts, daß die anspruchsbegründenden Tatsachen im Zweifel zugunsten desjenigen, welcher den Entschädigungsanspruch geltend macht, als feststehend anzunehmen seien (BSG 6, 70, 72).
Nach allem ist die Klage zu Recht abgewiesen worden. Die Revision der Klägerin mußte daher als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –).
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Unterschriften
Brackmann, Dr. Baresel, Dr. Kaiser
Fundstellen