Entscheidungsstichwort (Thema)
Wehrdienst in Sowjetunion
Orientierungssatz
Militärdienstzeit in der Sowjetunion entspricht einer Beitragszeit im Bundesgebiet (Anschluß an BSG vom 8.4.1987 - 5a RKn 4/86).
Normenkette
FRG § 15 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 11.03.1986; Aktenzeichen L 2 J 1443/84) |
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 27.08.1984; Aktenzeichen S 16 J 693/82) |
Tatbestand
Streitig ist die Vormerkung einer in der Sowjetunion zurückgelegten Militärdienstzeit als Beitragszeit.
Der 1931 geborene Kläger kam 1976 aus der UdSSR in die Bundesrepublik Deutschland und besitzt den Vertriebenenausweis A. Im August 1979 beantragte er die Wiederherstellung von Versicherungsunterlagen. Mit Bescheid vom 19. Mai 1982 stellte die Beklagte in der UdSSR von Juli 1945 bis Dezember 1975 zurückgelegte Versicherungszeiten fest, lehnte jedoch ua die Anerkennung des im Arbeitsbuch vermerkten Militärdienstes in der Sowjetarmee vom 20. Mai 1951 bis zum 8. Dezember 1954 ab, weil es sich um keine nach § 1251 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu berücksichtigende Ersatzzeit handele. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 3. November 1982).
Klage und Berufung mit dem Antrag, die Zeit von Mai 1951 bis einschließlich 20. November 1954 als Beitragszeit nach § 15 des Fremdrentengesetzes (FRG) vorzumerken, sind erfolglos geblieben (Urteile des Sozialgerichts -SG- Frankfurt am Main vom 27. August 1984 und des Hessischen Landessozialgerichts -LSG- vom 11. März 1986).
Das LSG hat zwar die sowjetische Sozialversicherung als gesetzliche Rentenversicherung iS des § 15 Abs 1 FRG angesehen und die Zugehörigkeit des Klägers zu diesem System auch als Militärdienstleistender bejaht, das Zurücklegen einer Beitragszeit nach dieser Vorschrift aber verneint. Dem Militärdienst (Grundwehrdienst) komme insofern Bedeutung zu, als er auf die allgemeine Beschäftigungsdauer angerechnet werde, die ua bei der Festsetzung der Renten ausschlaggebend sei. Im Vergleich mit innerstaatlichen Vorschriften entspreche in Ziel und Ausgestaltung die sowjetische Militärdienstzeit, die wie eine Krankheits- oder Schulausbildungszeit behandelt werde, der Regelung über Ersatz- und Ausfallzeiten, aber nicht einer Beitragszeit. Die Entscheidung des Großen Senats (GS) des Bundessozialgerichts (BSG) zur Bewertung des Grundwehrdienstes in der DDR brauche nicht abgewartet zu werden; denn dieser Wehrdienst gelte als versicherungspflichtige Tätigkeit.
Der Kläger macht mit der - vom LSG zugelassenen - Revision geltend, der Militärdienst in der UdSSR werde nach sowjetischem Recht nicht erst nachträglich im Versicherungsfall berücksichtigt. Auch der Eingliederungsgedanke des FRG spreche für die Berücksichtigung des im Vertreibungsgebiet geleisteten Grundwehrdienstes.
Der Kläger beantragt sinngemäß, die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 11. März 1986 sowie des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 27. August 1984 aufzuheben und die Beklagte in Abänderung des Bescheides vom 19. Mai 1982 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. November 1982 zu verurteilen, die Zeit von Mai 1951 bis einschließlich 20. November 1954 als Beitragszeit nach § 15 FRG vorzumerken.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie wendet ein, die Feststellung des LSG, die sowjetische Militärdienstzeit entspreche der Regelung über Ersatz- und Ausfallzeiten des Bundesrechts, sei im Revisionsverfahren nicht nachprüfbar. Damit habe der Kläger auch keine nach § 15 Abs 1 FRG zu entschädigende Rechtsposition erlangt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Die Beklagte hat die in der Sowjetunion abgeleistete Militärdienstzeit von Mai 1951 bis zum 20. November 1954 als Beitragszeit vorzumerken.
Anspruchsgrundlage ist § 15 Abs 1 Satz 1 iVm § 1 Buchst a) FRG. § 1 FRG umschreibt den Personenkreis der Berechtigten und erfaßt in seinem Buchst a) die im Geltungsbereich dieses Gesetzes anerkannten Vertriebenen iS des § 1 des Bundesvertriebenengesetzes, zu denen der Kläger gehört. Nach § 15 Abs 1 Satz 1 FRG stehen Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen oder nach dem 30. Juni 1945 bei einem außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes befindlichen deutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Was unter "Träger der gesetzlichen Rentenversicherungen" zu verstehen ist, definiert Abs 2 Satz 1 der Vorschrift: nämlich "jedes System der sozialen Sicherheit
durch öffentlich-rechtlichen Zwang einbezogen sind, um sich und ihre Hinterbliebenen für den Fall der Minderung der Erwerbsfähigkeit, des Alters und des Todes oder für einen oder mehrere dieser Fälle durch die Gewährung regelmäßig wiederkehrender Geldleistungen (Renten) zu sichern". Zutreffend hat bereits das LSG (im Anschluß an BSGE 6, 263, 264 zum früheren Recht) die Sozialversicherung in der Sowjetunion als gesetzliche Rentenversicherung eines nichtdeutschen Trägers angesehen und genügen lassen, daß dieses System auf einer Pflichtzugehörigkeit für einen bestimmten Personenkreis mit einem "irgendwie gearteten Beitragsaufkommen" aufgebaut ist. Es meint nur, daß der in der UdSSR geleistete Militärdienst (Grundwehrdienst) zwar bei der Rentenfestsetzung auf die gesamte Dauer der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung als Arbeitnehmer (Wartezeit) angerechnet werde, in Ziel und Ausgestaltung aber der deutschen Regelung über Ersatz- und Ausfallzeiten, nicht einer Beitragszeit, entspreche, weil er bei der Anrechnung auf die allgemeine Beschäftigungsdauer neben der sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit wie eine Zeit behandelt werde, in der der Arbeitnehmer krank geschrieben gewesen sei oder sich in Schul- oder Fachschulausbildung befunden habe (Hinweis auf Bilinsky, Das Sozialversicherungs- und Versorgungsrecht in der Sowjetunion, Jahrbuch für Ostrecht, Bd XXIII 1982, S 83 ff, 106). Das Berufungsgericht gelangt im Anschluß hieran zu dem Ergebnis, der staatlich gewährte Ausgleich dafür, daß der Militärdienstleistende keine auf die allgemeine Beschäftigungsdauer zur Erfüllung der Wartezeit anrechenbare sozialversicherungspflichtige Beschäftigung als Arbeiter oder Angestellter habe zurücklegen können, erfülle keinen die Beitragsleistung auslösenden Tatbestand; die spätere Mithonorierung der Militärdienstzeit im Versicherungsfall aus dem sowjetischen Sozialversicherungsfond komme einer Beitragszeit nicht gleich.
Dieser Rechtsauffassung kann nicht gefolgt werden.
Der GS des BSG hat im Beschluß vom 4. Juni 1986 (GS 1/85 = BSGE 60, 100 ff = SozR 5050 § 15 Nr 32) im Zusammenhang mit der von ihm bejahten Frage, ob die in der DDR abgeleistete Zeit des Grundwehrdienstes, die nach dortigem Recht als versicherungspflichtige Tätigkeit gelte, eine Beitragszeit iS des § 15 Abs 1 Satz 1 FRG sei, für den Begriff "Beitragszeiten" die Definition des § 1250 Abs 1 Buchst a) RVO übernommen (aaO S 105). Hiernach sind Beitragszeiten solche Zeiten, für die ..."Beiträge wirksam entrichtet sind oder als entrichtet gelten", wobei die erste Alternative "echte" Beitragszeiten, die zweite "Beitragszeiten ohne Beitragsleistung" erfaßt. Ob nun im Herkunftsland eine nach § 15 Abs 1 Satz 1 FRG anrechenbare "Beitragszeit ohne Beitragsleistung" zurückgelegt ist, kann - da § 15 FRG im Gegensatz zu dem sonst das FRG beherrschenden Eingliederungsprinzip noch vom Entschädigungsgedanken des früheren Rechts geprägt wird - nicht immer nur dann angenommen werden, wenn die Fremdzeit genau den Anforderungen des § 1250 Abs 1 Buchst a) RVO entspricht. Es genügt eine so weitgehende Vergleichbarkeit in den wesentlichen Kriterien, daß eine Entschädigung im Wege der Gleichstellung gerechtfertigt erscheint. Hierfür ist zum einen maßgebend, welchen Charakter das Rentenrecht des Herkunftslandes der streitigen beitragslosen Zeit beimißt; andererseits kommt es darauf an, ob die im Herkunftsland erworbene Rechtsposition einer nach Bundesrecht zurückgelegten Zeit gleichgestellt werden kann (GS aaO S 107). Allerdings folgt daraus, daß nach dem Recht des Herkunftslandes eine beitragslose Zeit einer dortigen Beitragszeit gleichgestellt ist, noch nicht schon ohne weiteres die Anerkennung als Beitragszeit nach § 15 FRG. Das übergeordnete Eingliederungsprinzip setzt der Entschädigung von im Herkunftsland erworbenen Rentenanwartschaften dort eine Grenze, wo diese Anrechnung mit der Struktur des innerstaatlichen Rentenrechts schlechthin und offenkundig unvereinbar wäre. Eine solche Schranke besteht aber nicht, wenn derselbe oder wenigstens ein vergleichbarer Tatbestand sowohl nach Bundesrecht wie nach fremdem Recht als Beitragszeit ausgestaltet ist (aaO S 107).
Der Kläger erfüllt hinsichtlich seiner in der Sowjetunion abgeleisteten Militärdienstzeit die vom GS für die Gleichstellung nach § 15 Abs 1 Satz 1 FRG gestellten Anforderungen.
Das LSG hat unter Berufung auf Bilinsky ausgeführt, die sowjetische Sozialversicherung werde aus dem Sozialversicherungshaushalt finanziert, der seinerseits aus Beiträgen der Arbeitgeber (Betriebe, Behörden und Organisationen), aus Zuwendungen aus dem Staatshaushalt und anderen Einkünften gebildet werde. Damit ist aber auch im Zusammenhang mit der Feststellung, daß der Grundwehrdienst auf die als Wartezeit bezeichnete gesamte Dauer der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung als Arbeitnehmer anzurechnen sei, nichts darüber ausgesagt, ob es sich insoweit um eine Beitragszeit im Sinne der vom GS herausgearbeiteten Begriffsbestimmung handelt, zumal der Umstand allein, daß der Arbeitnehmer in der Sowjetunion keine Beiträge selbst entrichtet, eine Beitragszeit nicht ausschließt. Doch auch wenn man nur von einer "beitragslosen Beitragszeit" nach sowjetischem Recht auszugehen hat, scheitert daran nicht die Gleichsetzung mit einer nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeit gemäß § 15 Abs 1 Satz 1 FRG. Nach § 108 der Ausführungsverordnung (Staatsrentenordnung) Nr 1044 vom 4. August 1956 zum Staatsrentengesetz vom 14. Juli 1956 zählen zur anrechnungsfähigen Arbeitszeitdauer im versicherungsrechtlichen Sinne die Arbeit als Arbeiter und Angestellter; nach § 109 aaO zählt außer der Arbeit als Arbeiter und Angestellter zur allgemeinen Arbeitszeitdauer (Bilinsky: Beschäftigungsdauer) ua der Dienst in den bewaffneten Streitkräften der UdSSR (aaO Buchst k). Daraus folgt, daß innerhalb des sowjetischen Sozialversicherungssystems zumindest grundsätzlich Arbeitszeiten und Militärdienstzeiten (von den hier nicht in Betracht kommenden Zeiten im Dienst des Berufsmilitärs abgesehen) gleichstehen.
Damit entspricht aber die sowjetische Militärdienstzeit zugleich einer Beitragszeit im Bundesgebiet. Denn hier besteht gemäß § 1227 Abs 1 Nr 6 RVO Versicherungspflicht für Wehrdienstleistende. Zwar hat der Kläger den sowjetischen Militärdienst in einer Zeit absolviert, als es in der Bundesrepublik Deutschland pflichtversicherte Wehrpflichtige noch nicht gab. § 1227 Abs 1 Nr 6 RVO ist erst mit Wirkung vom 1. März 1957 in Kraft getreten. Gleichwohl hindert dies die Gleichstellung iS des § 15 Abs 1 Satz 1 FRG nicht. Der GS hat - wie dargelegt - die Grenze erst dort gezogen, wo die Anrechnung mit der Struktur des innerstaatlichen Rentenrechts schlechthin und offenkundig unvereinbar wäre und, gemessen am Rentenrecht der Bundesrepublik, zu einer systemfremden, nicht hinnehmbaren Begünstigung führen würde. Indessen ist der Umstand, daß der Kläger während der strittigen Zeit in der Bundesrepublik keinen versicherungspflichtigen Militärdienst hätte leisten und damit keine Beitragszeit iS des § 1227 Abs 1 Nr 6 RVO zurücklegen können, nicht als strukturelle Unvereinbarkeit der beiden Rentensysteme zu werten, wie bereits der 5a Senat im Urteil vom 8. April 1987 - 5a RKn 4/86 hinsichtlich eines in den Jahren von 1954 bis 1956 in der Tschechoslowakei geleisteten Militärdienstes entschieden hat; dem schließt sich der erkennende Senat an.
Soweit das LSG die Gleichstellung der Militärdienstzeit des Klägers mit einer nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeit deshalb verneint hat, weil nach seiner Auffassung diese Militärdienstzeit in Ziel und Ausgestaltung der deutschen Regelung über Ersatz- und Ausfallzeiten, aber nicht einer Beitragszeit entspreche, ist schon nicht ersichtlich, inwiefern das sowjetische Recht eine solche Zeit minderbewerten solle. Im Gegenteil, § 109 Abs 2 der Ausführungsverordnung Nr 1044 vom 4. August 1956, den das Berufungsgericht weder erwähnt noch angewandt hat und der deshalb - obwohl nichtrevisibles Recht iS des § 162 SGG - vom Revisionsgericht herangezogen werden darf (vgl BSGE 7, 122, 125 mwN), besagt, daß bei der Zubilligung einer Altersrente zu begünstigten Bedingungen oder in begünstigtem Ausmaße die in Punkt "k" angegebenen Zeiten nach Wahl des Antragstellers entweder auf die Arbeitszeit angerechnet werden, die dem betreffenden Zeitraum voranging, oder auf die Arbeitszeit nach Beendigung dieses Zeitraumes (Satz 2 aaO). Schließlich enthält das landessozialgerichtliche Urteil dafür, daß die Militärdienstzeit einer Ersatz- und Ausfallzeit im Sinne des Bundesrechts entspreche, lediglich die Begründung, daß die Militärdienstzeit zusammen mit anderen Zeiten genannt werde, die ihrerseits bundesrechtlich Ausfallzeiten sind. Daß damit aber nicht gegen die Gleichstellung mit einer Beitragszeit argumentiert werden kann, ergeben bereits die obigen Ausführungen. Auf die somit begründete Revision des Klägers mußten die Urteile der Vorinstanzen aufgehoben werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen