Leitsatz (amtlich)
Verfolgte können unter den sonstigen Voraussetzungen des WGSVG § 10a auch dann Beiträge bis zum 1955-12-31 nachentrichten, wenn sie nach Kriegsende nicht in den Geltungsbereich des WGSVG zurückgekehrt sind.
Orientierungssatz
WGSVG § 10a unterliegt nicht - anders als das WGSVG sonst - dem Territorialitätsprinzip, nur weil nach den Vorschriften des RRG der Zugang zur deutschen Rentenversicherung primär Personengruppen vorbehalten ist, die eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit im Geltungsbereich des deutschen Sozialversicherungsgesetzes ausüben oder ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Geltungsbereich haben.
Normenkette
WGSVG § 10a Fassung: 1975-04-28
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 11.11.1977; Aktenzeichen L 1 An 36/77) |
SG Berlin (Entscheidung vom 15.11.1976; Aktenzeichen S 14 An 1788/76) |
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger zur Nachentrichtung von Beiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung nach § 10a Abs 2 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 idF des Gesetzes vom 28. April 1975 (WGSVG) für die Zeit vom 1. Januar 1950 bis zum 31. Dezember 1955 berechtigt ist.
Der am 15. Juni 1913 geborene Kläger ist rassisch Verfolgter iS von § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Er wanderte im Februar 1935 aus Verfolgungsgründen aus Deutschland aus und lebt seit 1942 in den USA. Für die Zeit von Mai 1930 bis April 1932 sind für ihn 24 Monatsbeiträge zur Rentenversicherung nachgewiesen. Weitere 11 Monatsbeiträge für die Zeit von Mai 1932 bis April 1933 sind glaubhaft gemacht. Die Zeit vom 20. Februar 1935 bis zum 31. Dezember 1949 ist von der Beklagten als Ersatzzeit wegen verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes anerkannt. Im Mai 1966 wurde dem Kläger vom Landesamt für Wiedergutmachung Karlsruhe eine Kapitalentschädigung wegen eines Schadens in der Ausbildung sowie etwaiger anderer Schäden im beruflichen Fortkommen gezahlt.
Auf den Antrag des Klägers vom November 1975 ließ die Beklagte die Nachentrichtung von Beiträgen für die Zeit von Mai 1933 bis Januar 1935 zu, lehnte sie jedoch im übrigen als unzulässig ab (Bescheid vom 28. April 1976). Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers sind erfolglos geblieben (Widerspruchsbescheid vom 23. August 1976; Urteil des Sozialgerichts - SG - Berlin vom 15. November 1976; Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Berlin vom 11. November 1977). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt: Der zum Personenkreis des § 10a Abs 2 WGSVG gehörende Kläger könne für die Zeit nach dem 8. Mai 1945 bis zum 31. Dezember 1955 keine Beiträge nachentrichten, weil er nicht in den Geltungsbereich des WGSVG zurückgekehrt sei. Ihrem Wortlaut nach könne die Vorschrift des § 10a Abs 1 WGSVG nur in dieser Weise verstanden werden. Die Voranstellung des Zeitraumes vom 1. Januar 1933 bis 8. Mai 1945 würde jeden Sinn verlieren, wäre die Nachentrichtung schlechthin bis zum 31. Dezember 1955 zulässig. Die über den 8. Mai 1945 mögliche Beitragsnachentrichtung könne deshalb nur auf den grundsätzlich berechtigten Verfolgten bezogen werden, der am oder nach dem 31. Dezember 1955 zurückgekehrt sei. Diese strenge Auslegung des gesetzlichen Wortlauts entspreche auch dem gesetzlichen Grundgedanken. Der Gesetzgeber habe mit der Nachentrichtung von Beiträgen für die Zeit bis zum 8. Mai 1945 das bis zu diesem Zeitpunkt erlittene Unrecht wiedergutmachen, mit der Nachentrichtung über den 8. Mai 1945 hinaus aber eine Lücke für diejenigen Verfolgten schließen wollen, die durch ihre Rückkehr aus dem Ausland möglicherweise den Schutz einer anderen sozialen Sicherung verloren hätten. In dieser Auffassung sieht sich das LSG durch die Gesetzesmaterialien zum 18. Rentenanpassungsgesetz (RAG) vom 28. April 1975 (BT-Drucks 7/3235) bestätigt. Darin heiße es, daß der Kreis der zur Nachentrichtung von Beiträgen berechtigten Verfolgten im Hinblick auf die durch das Rentenreformgesetz (RRG) erfolgte Öffnung der Rentenversicherung für weitere Personengruppen erweitert werden solle. Dieser Zugang zur deutschen Rentenversicherung sei nach den Vorschriften des RRG aber primär Personengruppen vorbehalten, die eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit im Geltungsbereich der deutschen Sozialversicherungsgesetze ausübten oder ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Geltungsbereich hätten, dh einem Personenkreis, für den das Bedürfnis nach Schutz durch Vorsorge vom Gesetzgeber schlechthin unterstellt werde. Die in § 10a Abs 1 WGSVG vorgenommene Differenzierung verstoße nicht gegen Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes (GG). Der allgemeine Gleichheitssatz, der dem Gesetzgeber nur eine willkürliche Differenzierung untersage, verbiete es nicht, zwischen im Inland und im Ausland lebenden In- und Ausländern zu unterscheiden. Das deutsche Sozialversicherungsrecht werde im übrigen seit jeher vom Territorialitätsprinzip beherrscht.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 10a WGSVG. Er ist der Auffassung, daß dem Wortlaut des Absatzes 1 der Vorschrift nicht ohne weiteres entnommen werden könne, wie er zu interpretieren sei. Die vom LSG gefundene Auslegung führe zur Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes. Sie begünstige diejenigen Verfolgten, die zu irgendeinem Zeitpunkt aus der verfolgungsbedingten Emigration in die Bundesrepublik zurückgekehrt seien oder noch zurückkehren würden. Die Vorschrift könne auch verfassungskonform ausgelegt werden. Die beiden Alternativmöglichkeiten des Gesetzeswortlauts, die Nachentrichtung für den Zeitraum vom 1. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 und diejenige bis zum 31. Dezember 1955, seien durch die Zwischenschaltung des Wortes "oder" uneingeschränkt koordiniert.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung ihres Bescheides vom 28. April 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. August 1976 zu verurteilen, ihm die Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10a WGSVG für die Zeit vom 1. Januar 1950 bis 31. Dezember 1955 zu gestatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II.
Die Revision des Klägers ist begründet.
Der Kläger ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts berechtigt, für den streitigen Zeitraum vom 1. Januar 1950 bis 31. Dezember 1955 Beiträge zur Angestelltenversicherung gemäß § 10a Abs 2 WGSVG nachzuentrichten. Nach dieser Vorschrift können iVm deren Abs 1 Verfolgte mit einer Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten, denen wegen eines Schadens in der Ausbildung iS des BEG rechtskräftig oder unanfechtbar eine Entschädigung nach § 116 oder § 118 BEG zuerkannt worden ist oder bei denen die Verfolgungsmaßnahme innerhalb von 12 Monaten nach Beendigung der Ausbildung begonnen hat, auf Antrag abweichend von der Regelung des § 1418 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und des § 140 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) für Zeiten vom 1. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 oder bis zu ihrer Rückkehr in den Geltungsbereich dieses Gesetzes, längstens bis zum 31. Dezember 1955 Beiträge nachentrichten, soweit diese Zeiten nicht vor Vollendung des 16. oder nach Vollendung des 65. Lebensjahres liegen und nicht bereits mit Beiträgen belegt oder als Ersatzzeiten anzurechnen sind, es sei denn, die Zeit der Verfolgung ist bereits in einer öffentlich-rechtlichen Versicherung oder einer Versorgung nach dienstrechtlichen Grundsätzen berücksichtigt oder zu berücksichtigen.
Die Anwendung dieser Vorschrift, deren übrige Voraussetzungen nicht im Streit stehen, scheitert nicht daran, daß der Kläger bisher nicht in den Geltungsbereich des WGSVG zurückgekehrt ist.
Der Wortlaut des § 10a WGSVG, auf den sich das LSG für seine abweichende Auffassung berufen hat, spricht nicht für, sondern gegen das LSG. § 10a WGSVG beschränkt die Nachentrichtung von Beiträgen durch Verfolgte auf "Zeiten vom 1. Januar 1933 bis zum 8. Mai 1945 oder bis zu ihrer Rückkehr in den Geltungsbereich dieses Gesetzes, längstens bis zum 31. Dezember 1955", nennt also drei verschiedene Endpunkte für die Beitragsnachentrichtung, den 8. Mai 1945, die Rückkehr in das Inland, den 31. Dezember 1955. Das LSG hat nun gemeint, wenn Verfolgte "schlechthin" bis zum 31. Dezember 1955 Beiträge nachentrichten könnten, würde die Zeitgrenze des 8. Mai 1945 "jeden Sinn verlieren". Dabei wird indessen übersehen, daß die verschiedenen zeitlichen Begrenzungen der Beitragsnachentrichtung sich auf verschiedene Gruppen von Verfolgten beziehen. So gilt die Grenze des 8. Mai 1945 (Kriegsende) nur für solche Verfolgten, die sich zu diesem Zeitpunkt noch oder wieder im Inland befanden. Sie konnten mit der Beendigung ihrer Verfolgung wie alle anderen im Inland lebenden Personen und unter den gleichen Bedingungen der deutschen Sozialversicherung angehören, so daß kein Anlaß bestand, ihnen auch für die Zeit nach Kriegsende eine besondere Nachentrichtungsbefugnis einzuräumen. Die zweite - variable - Zeitgrenze (Rückkehr in das Inland) gilt für diejenigen Verfolgten, die sich bei Kriegsende im Ausland befanden, insbesondere also für die während der NS-Zeit ausgewanderten Personen. Sobald sie wieder in das Inland zurückgekehrt waren, standen sie denjenigen gleich, die nicht ausgewandert waren; auch sie bedurften deshalb für die Zeit nach ihrer Rückkehr keines besonderen Nachentrichtungsrechts mehr. Als äußerste Grenze für die Beitragsnachentrichtung hat der Gesetzgeber den 31. Dezember 1955 bestimmt. Die bis dahin nicht zurückgekehrten Verfolgten - nur auf sie kann sich der Termin des 31. Dezember 1955 beziehen, da für die früher Zurückgekehrten schon der Tag der Rückkehr maßgebend ist - sollten offenbar nicht bessergestellt werden als die bis zum 31. Dezember 1955 Zurückgekehrten. Innerhalb dieser letzten Verfolgtengruppe, dh bei den bis Ende 1955 nicht Zurückgekehrten, nochmals zu unterscheiden zwischen solchen, die später - nach 1955 - zurückgekehrt sind, und den im Ausland Verbliebenen, bietet der Gesetzeswortlaut keinen Anhalt. Hätte der Gesetzgeber insoweit nur die nach 1955 zurückgekehrten Verfolgten begünstigen wollen, so hätte er dies ausdrücklich bestimmen müssen, was nicht geschehen ist. Außerdem hätte er, worauf der Kläger mit Recht hingewiesen hat, festlegen müssen, bis zu welchem Zeitpunkt die Verfolgten hätten zurückkehren müssen, um in den Genuß der Beitragsnachentrichtung bis Ende 1955 zu kommen; auch eine solche Festlegung ist nicht erfolgt. Diesem Schweigen des Gesetzgebers entnimmt der Senat, daß allen bis Ende 1955 nicht zurückgekehrten Verfolgten - gleichviel, ob sie später noch zurückgekehrt sind oder nicht - die Nachentrichtung von Beiträgen bis zum 31. Dezember 1955 offensteht.
Diese Auslegung entspricht auch den allgemeinen Zielvorstellungen, die den Gesetzgeber bei der Schaffung des WGSVG geleitet haben, nämlich das Recht der Wiedergutmachung so zu verbessern, daß den Sozialversicherten ein voller Ausgleich des Schadens ermöglicht wird, den sie durch Verfolgungsmaßnahmen in ihren Ansprüchen und Anwartschaften aus der gesetzlichen Renten- und Unfallversicherung erlitten haben (vgl BT-Drucks VI/1449 S 1 unter I2). Da die Mehrzahl der ausgewanderten Verfolgten bei Schaffung des WGSVG nicht wieder zurückgekehrt war, wäre es mit dem Gedanken einer vollen Entschädigung der Verfolgten nicht vereinbar gewesen, wenn das WGSVG seinen Regelungen das sonst im deutschen Sozialversicherungsrecht geltende Territorialitätsprinzip zugrunde gelegt hätte. Die Anspruchsberechtigung nach § 1 WGSVG ist demgemäß nicht an den Wohnsitz oder ständigen Aufenthalt im Geltungsbereich des Gesetzes gekoppelt worden. Das Gesetz gilt vielmehr für alle Verfolgten, die durch die Verfolgung Schaden in der Sozialversicherung erlitten haben. § 10a WGSVG hat zwar den Personenkreis der entschädigungsberechtigten Verfolgten im Hinblick auf die durch das RRG erfolgte Öffnung der Rentenversicherung erweitert (vgl BT-Drucks 7/3235, S 2 unter A, V). Hieraus kann aber nicht gefolgert werden, daß § 10a WGSVG - anders als das WGSVG sonst - dem Territorialitätsprinzip unterliegen soll, nur weil nach den Vorschriften des RRG der Zugang zur deutschen Rentenversicherung primär Personengruppen vorbehalten ist, die eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit im Geltungsbereich des deutschen Sozialversicherungsgesetzes ausüben oder ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in diesem Geltungsbereich haben. Die Wiedergutmachung verfolgungsbedingter Schäden in der Sozialversicherung durch Nachentrichtung von Beiträgen ist nicht an die genannten Umstände geknüpft, sondern setzt lediglich das Vorliegen eines Schadens voraus, der bei den im Ausland verbliebenen Verfolgten in gleicher Weise gegeben sein kann wie bei den Zurückgekehrten. § 10a WGSVG gehört im übrigen nicht zu den Vorschriften des RRG, sondern ist Teil des sozialversicherungsrechtlichen Entschädigungsrechts (zu seiner Entstehungsgeschichte vgl auch BT-Drucks 7/3235, S 6 unter 7; sie bietet keinen Anhalt für die vom LSG vertretene "strenge" Auslegung der Vorschrift).
Dem Prinzip der möglichst umfassenden Entschädigung würde die vom LSG vertretene Auslegung des § 10a WGSVG nur gerecht werden, wenn ein durch Beitragsnachentrichtung ausgleichbarer Schaden in der Sozialversicherung bei den nicht zurückgekehrten Verfolgten nach dem 8. Mai 1945, dh nach dem Ende des 2. Weltkrieges, grundsätzlich nicht hätte fortwirken können. Das kann aber ebensowenig angenommen werden wie bei den nach § 10 WGSVG Berechtigten, die, auch wenn sie nicht zurückgekehrt sind, Beiträge für eine Zeit bis zum 31. Januar 1971 nachentrichten durften (vgl v. Borries, BABl 1975, 503, 505, der allerdings für die Anwendung des § 10a WGSVG eine andere Ansicht zu vertreten scheint). Auch die Ersatzzeitregelung des § 28 Abs 1 Nr 4 AVG stellt nicht darauf ab, ob der Verfolgte in den Geltungsbereich des Gesetzes zurückgekehrt ist oder nicht, unterstellt also auch für den im Ausland Verbliebenen einen verfolgungsbedingten sozialversicherungsrechtlichen Schaden über den 8. Mai 1945 hinaus.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen