Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerpflegebedürftigkeit. Begriff. gerichtliche Überprüfbarkeit. Revisibilität. geistige Behinderung. Morbus Down. Down-Syndrom. Mongolismus. Werkstatt für Behinderte. außerordentliches Pflegebedürfnis. Feststellung des Hilfebedarfs. Gleichstellungssachverhalt. Ermessen

 

Leitsatz (amtlich)

  • Bei geistig Behinderten kann Schwerpflegebedürftigkeit auch dann vorliegen, wenn sie im Arbeitsbereich einer Werkstatt für Behinderte vollschichtig beschäftigt sind.
  • Auch bei geistig Behinderten ist die Schwerpflegebedürftigkeit anhand eines Katalogs von 18 Verrichtungen des täglichen Lebens konkret festzustellen (Anschluß an BSG SozR 3-2500 § 53 Nr 4).
 

Normenkette

SGB V §§ 53, 57

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 24.02.1993; Aktenzeichen L 4 Kr 94/92)

SG Oldenburg (Urteil vom 06.05.1992; Aktenzeichen 6 Kr 60139/91)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 24. Februar 1993 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Niedersachsen zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die 1958 geborene Klägerin ist seit 1977 Mitglied der beklagten Krankenkasse (KK). Sie leidet an einem Down-Syndrom (Mongolismus) verbunden mit einer Verkürzung der Kniegelenksbänder, sekundärem Kniegelenksverschleiß bei X-Beinstellung und erheblichem Übergewicht. Sie ist als Schwerbehinderte anerkannt mit einem Grad der Behinderung von 100 und den Merkzeichen G und H. Von montags bis donnerstags zwischen 8.00 Uhr und 16.00 Uhr und freitags zwischen 8.00 Uhr und 14.00 Uhr arbeitet die Klägerin in einer Werkstatt für Behinderte (WfB), wo sie in einer Faltgruppe Wäschestücke zusammenlegt. Ihren im Januar 1991 gestellten Antrag auf Gewährung von Pflegegeld wegen Schwerpflegebedürftigkeit lehnte die Beklagte ab, weil nach den eingeholten ärztlichen Gutachten keine Schwerpflegebedürftigkeit vorliege (Bescheid vom 4. April 1991; Widerspruchsbescheid vom 13. September 1991). Klage und Berufung der Klägerin blieben erfolglos (Urteil des Sozialgerichts vom 6. Mai 1992; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 24. Februar 1993). Nach Auffassung des LSG steht allein die Tatsache, daß die Klägerin in der Lage ist, werktäglich über den Zeitraum einer normalen Wochenarbeitszeit außerhalb des häuslichen Bereichs einer Tätigkeit in einer WfB nachzugehen, der Gewährung von Pflegegeld wegen Schwerpflegebedürftigkeit entgegen. Im übrigen sei die Klägerin nach den beigezogenen ärztlichen Unterlagen im häuslichen Bereich in der Lage, die meisten regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens – wenn zum Teil auch mit Hilfe oder nach Aufforderung – selbständig zu verrichten. Im kommunikativen Bereich sei es ihr möglich, sogar das Fernsehprogramm zu verfolgen und eine selbständige Programmauswahl zu treffen. Sie sei zeitlich und örtlich orientiert, könne die Uhr lesen, so daß sie die Notwendigkeit der verschiedensten Verrichtungen selbst erkenne und in sinnvolles Handeln umsetze. Auch im Bereich der WfB sei sie in den Tages- und Arbeitsablauf integriert und in der Lage, relativ selbständig zu arbeiten.

Dagegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision der Klägerin, mit der sie eine Verletzung der §§ 53, 55 und 57 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – (SGB V) rügt. Das LSG habe zu Unrecht angenommen, daß Schwerpflegebedürftigkeit eine ständige Pflege zuhause voraussetze. Es habe außerdem den Sachverhalt medizinisch nicht hinreichend aufgeklärt, insbesondere sich bei der Feststellung des Pflegebedarfs nicht mit den Widersprüchen zwischen den Befundberichten der behandelnden Ärzte und dem Gutachten des Medizinischen Dienstes auseinandergesetzt.

Die Klägerin beantragt,

unter Änderung der angefochtenen Urteile und Aufhebung der zugrundeliegenden Bescheide die Beklagte zu verurteilen, ihr Pflegegeld wegen Schwerpflegebedürftigkeit seit dem 1. Januar 1991 zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Klägerin ist iS der Zurückverweisung begründet. Mit den bisher getroffenen Feststellungen durfte das LSG den Anspruch auf Pflegegeld nicht wegen fehlender Schwerpflegebedürftigkeit iS des § 53 SGB V verneinen. Ob Schwerpflegebedürftigkeit vorliegt, wie sie nach Erlaß des angefochtenen Urteils in den Urteilen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 8. Juni 1993 – 1 RK 17/92 – (SozR 3-2500 § 53 Nr 2) sowie – 1 RK 43/92 – und vom 30. September 1993 – 4 RK 1/92 – umschrieben wurde, läßt sich erst nach weiteren Tatsachenermittlungen beurteilen.

Nach § 53 Abs 1 SGB V erhalten Versicherte, die nach ärztlicher Feststellung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos sind, daß sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in sehr hohem Maße der Hilfe bedürfen (Schwerpflegebedürftige), häusliche Pflegehilfe. Nach § 57 Abs 1 SGB V kann die KK schwerpflegebedürftigen Versicherten auf ihren Antrag anstelle der häuslichen Pflegehilfe einen Geldbetrag von 400,00 DM je Kalendermonat zahlen, wenn die Schwerpflegebedürftigen die Pflege durch eine Pflegeperson in geeigneter Weise und in ausreichendem Umfang selbst sicherstellen können. Das LSG hat von den gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen, zu denen nach § 54 SGB V auch die Erfüllung der notwendigen Anwartschaft gehört, lediglich das Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit geprüft und verneint. Mangels weitergehender Feststellungen kann der Senat deshalb nicht entscheiden, ob sich das angefochtene Urteil aus anderen Gründen als richtig erweist.

“Schwerpflegebedürftigkeit” ist, wie schon vom 1. und 4. Senat des BSG ausgeführt, ein gerichtlich voll überprüfbarer Rechtsbegriff. Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sind an den Inhalt der Richtlinien zur Abgrenzung des Personenkreises der Schwerpflegebedürftigen vom 9. August 1989 (BArbBl 1989, 43 = BKK 1989, 595, abgedruckt bei Hauck/Haines, SGB V, C 400), die von den Spitzenverbänden der Krankenkassen (KKn) aufgrund der ihnen in § 53 Abs 3 SGB V auferlegten Verpflichtung erlassen wurden, und an ergänzende Richtlinien der Spitzenverbände der KKn, insbesondere die Begutachtungsanleitung bei Schwerpflegebedürftigkeit vom 8. Oktober 1990 (BKK 1990, 706 f) sowie ein gemeinsames Rundschreiben vom 28. November 1990 (Die Leistungen 1991, 4 f), rechtlich nicht gebunden. Bei der Beurteilung des Pflegebedarfs sind neben den Verrichtungen des Grundbedarfs in Abweichung von den Richtlinien auch Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Versorgungsbedarfs zu berücksichtigen. Dies ergibt sich, wie in den genannten Entscheidungen bereits dargelegt worden ist, vor allem aus § 55 Abs 1 Satz 3 SGB V.

Der unbestimmte Rechtsbegriff “Schwerpflegebedürftigkeit” ist auch vom Revisionsgericht im Grundsatz voll überprüfbar, dh dahingehend revisibel, ob die vom Tatsachengericht aufgrund der festgestellten Tatsachen vorgenommene Subsumtion unter diesen Rechtsbegriff zutreffend ist. In der Rechtsprechung (vgl BSGE 47, 180 = SozR 2200 § 1301 Nr 8) und in der Literatur (vgl Rosenberg/Schwab, Zivilprozeßrecht, 14. Aufl 1986, § 144 V mwN) ist zwar anerkannt, daß unbestimmte Rechtsbegriffe, die einen individuellen Beurteilungsmaßstab vorschreiben oder einen bestimmten Grad eines Zustandes oder ein bestimmtes Maß einer Beeinträchtigung voraussetzen, bei der Rechtsanwendung durch den Tatrichter nur einer eingeschränkten revisionsgerichtlichen Überprüfung unterliegen. Dies läßt sich jedoch auf den Begriff der Schwerpflegebedürftigkeit nicht ohne weiteres übertragen, obwohl auch dort ein bestimmtes Maß an Pflegebedürftigkeit Anspruchsvoraussetzung ist. Denn tragender Grund für die eingeschränkte Revisibilität unbestimmter Rechtsbegriffe wie der groben Fahrlässigkeit (BSGE 47, 180), des wichtigen Grundes (BGHZ 4, 108; BAG AP Nr 3 bis 8 zu § 626 BGB) oder der unwesentlichen Beeinträchtigung (BGHZ 111, 63) ist der, daß es um die Beurteilung individueller, auf andere Lebenssachverhalte nicht übertragbarer Verhältnisse geht. Aufgabe der Revisionsinstanz ist es aber vorrangig, die Rechtseinheit durch gleichmäßige Rechtsanwendung zu wahren und nicht die Richtigkeit der Rechtsanwendung im Einzelfall zu kontrollieren. Bei der Beurteilung der Schwerpflegebedürftigkeit kommt es zwar auf die konkreten Verhältnisse des Einzelfalles an; wegen der Vielzahl der vom Gesetz betroffenen Anspruchsberechtigten wird es aber dort immer auch eine Vielzahl vergleichbarer Fälle geben, die eine unterschiedliche Behandlung nicht zulassen. Zur Gewährleistung einer einheitlichen Rechtsanwendung ist deshalb im Prinzip die uneingeschränkte revisionsgerichtliche Kontrolle geboten (so schon der 4. Senat aaO). Nur soweit es im Einzelfall um die Beurteilung geht, ob die Hilfe bei einer Verrichtung besonders leicht oder besonders belastend ist; oder ob im Rahmen der sog Gleichstellungssachverhalte (dazu unten) von besonderen Belastungen der Pflegeperson auszugehen ist, mag Raum für die tatrichterliche Überzeugungsbildung verbleiben.

Die Gewährung von Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit ist nicht schon deshalb ausgeschlossen, weil die Klägerin im wesentlichen nicht körperlich, sondern geistig behindert ist. Wie der 1. Senat mit Urteil vom 8. Juni 1993 (1 RK 43/92) entschieden hat, können die Voraussetzungen des § 53 SGB V auch dann erfüllt sein, wenn der Versicherte die Verrichtungen des täglichen Lebens zwar noch motorisch ausführen kann, wegen der bestehenden Steuerungsunfähigkeit aufgrund einer geistigen Behinderung aber bei diesen Verrichtungen in hohem Maße der Aufforderung, Anleitung und Kontrolle durch eine Pflegeperson bedarf. Entgegen der Meinung des LSG sind Leistungen wegen Schwerpflegebedürftigkeit für die Klägerin auch nicht schon wegen ihrer Tätigkeit in der WfB ausgeschlossen. Dadurch erhält sie keine Heimpflege, deren sozialversicherungsrechtliche Absicherung nach den Vorstellungen des Gesetzgebers einem künftigen Pflegegesetz vorbehalten bleibt (vgl Regierungsentwurf zum Gesundheitsreformgesetz, BR-Drucks 200/88 S 145). Von einer – evtl auch nur teilstationären – Heimpflege bzw Unterbringung zur Pflege kann nur dann ausgegangen werden, wenn der Aufenthalt in einer Einrichtung außerhalb des häuslichen Bereichs in erster Linie dem Zweck dient, den Behinderten dort zu pflegen. Dies ist zumindest dann nicht der Fall, wenn sich der Behinderte im Arbeitsbereich einer WfB aufhält (so auch: Gemeinsames Rundschreiben der Spitzenverbände der KKn vom 28. November 1990, DOK 1991, 53, 54). Dort steht die Tätigkeit am Arbeitsplatz im Vordergrund, während die Betreuung lediglich begleitenden Charakter hat (vgl § 54 Abs 2 Schwerbehindertengesetz ≪SchwbG≫). Die Frage, ob häusliche Pflegeleistungen neben der Heimpflege in Betracht kommen können, stellt sich deshalb hier nicht.

Daß ein Behinderter wegen des regelmäßigen Aufenthaltes in einer WfB zumindest an Werktagen über mehrere Stunden im häuslichen Bereich keinen Pflegeaufwand verursacht, steht dem vom Gesetzgeber mit den Leistungen bei Schwerpflegebedürftigkeit verfolgten Anliegen ebenfalls nicht entgegen. Die Leistungen sollen den Pflegebedürftigen und die pflegenden Angehörigen entlasten und Heimeinweisungen vermeiden (BT-Drucks 11/2237 S 182). Sie sind schon aufgrund des Leistungsrahmens nicht geeignet, einen umfassenden Pflegebedarf “rund um die Uhr” abzudecken. Aus der in § 57 Abs 2 SGB V getroffenen Regelung, wonach Pflegegeld bei Erwerbstätigkeit der Pflegeperson nur gezahlt wird, wenn diese zu ausreichender Pflege in der Lage ist, wird zudem deutlich, daß eine ständige Einsatzbereitschaft der Pflegeperson nicht vorausgesetzt wird. Auch bei Behinderten, die an Werktagen über mehrere Stunden Werkstätten oder Schulen besuchen oder sogar auf dem freien Arbeitsmarkt tätig sind, kann die Gewährung häuslicher Pflege ein gewichtiger Beitrag sein, um eine Heimunterbringung zu vermeiden.

Die Tätigkeit eines Pflegebedürftigen in einer WfB schließt auch nicht deshalb Schwerpflegebedürftigkeit aus, weil sie ein gewisses Maß an Erwerbsfähigkeit voraussetzt. Nach den §§ 3 bis 5 der Werkstattverordnung-Schwerbehindertengesetz (SchwbWV) vom 17. August 1980 (BGBl I 1365) gliedert sich die WfB in ein Eingangsverfahren, einen Arbeitstrainingsbereich und einen Arbeitsbereich. Die Aufnahme des Behinderten in den Arbeitsbereich setzt gemäß § 54 Abs 1 und 3 SchwbG iVm § 5 SchwbWV voraus, daß er ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen kann; der Behinderte muß “werkstattfähig” sein (vgl zum Begriff BSGE 62, 149, 153 = SozR 5085 § 1 Nr 4). Werkstattfähigkeit besteht dann nicht, wenn der Behinderte nicht gemeinschaftsfähig oder wenn er außerordentlich pflegebedürftig ist. Ein besonderer Bedarf an Förderung, begleitender Betreuung und Pflege ist dagegen unschädlich (§ 1 Abs 1 SchwbWV). Der Eingliederung in eine WfB und vor allem der Aufnahme in den Arbeitsbereich geht regelmäßig eine längere Phase der Beobachtung des Behinderten und damit auch eine Beurteilung seines Pflegebedarfs während eines längeren Zeitraums im Tagesablauf voraus. Deswegen spricht die Tatsache, daß ein Behinderter in den Arbeitsbereich einer WfB integriert ist, zunächst gegen das Vorliegen eines Pflegebedarfs in sehr hohem Maße iS von § 53 Abs 1 SGB V. Sie schließt diesen aber nicht aus, weil die Beurteilung des Pflegebedarfs sich allein nach den Verhältnissen und den Möglichkeiten in der WfB richtet und nichts darüber besagt, wie hoch der Pflegebedarf außerhalb dieser Einrichtung ist. Ein außerordentlicher Pflegebedarf in der WfB kann uU gerade deshalb entfallen, weil die wesentlichen Pflegeleistungen bereits im häuslichen Bereich erbracht werden.

Auch bei einer beschränkten Erwerbstätigkeit des Behinderten in einer WfB kann danach Schwerpflegebedürftigkeit vorliegen, die konkret anhand des Maßes des Pflegebedarfs im häuslichen Bereich festzustellen ist. Der 4. Senat des BSG hat in seinem Urteil vom 30. September 1993 (aaO) die typischen Verrichtungen anhand eines Katalogs aufgelistet. Der erkennende Senat schließt sich dieser Entscheidung an. Sie setzt die Rechtsprechung des 1. Senats fort, dessen Zuständigkeit insoweit auf den erkennenden Senat übergegangen ist und ist auch in Fällen einer geistigen Behinderung geeignet, einen für eine gleichmäßige Rechtsanwendung geeigneten Maßstab zur Beurteilung der Schwerpflegebedürftigkeit zu geben. Dabei ist allerdings den Besonderheiten der geistigen Behinderungen mit ihren andersartigen Anforderungen an die Pflegeperson Rechnung zu tragen.

Hiernach ist zunächst zu prüfen, ob der Versicherte die folgenden Verrichtungen ohne Hilfe einer anderen Person ausführen kann:

  • Verrichtungen des Grundbedarfs:

    1. Aufstehen/Zubettgehen, 2. Gehen, 3. Stehen, 4. Treppen steigen, 5. Waschen oder Duschen oder Baden, 6. Mundpflege, 7. Haarpflege, 8. An- und Auskleiden, 9. Nahrungsaufnahme, 10. Nahrungszubereitung, 11. Benutzung der Toilette, 12. Sprechen, 13. Sehen, 14. Hören.

  • Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Versorgungsbedarfs:

    15. Einkaufen von Nahrungs- und Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens, 16. Wohnungsreinigung, 17. Reinigung und Pflege der Wäsche, 18. sonstige hauswirtschaftliche Arbeiten (zB Reinigung von Haushaltsgegenständen; Einräumen von Wäsche, Geschirr etc; Versorgung der Heizung).

Schwerpflegebedürftig ist, wie schon vom 4. Senat entschieden, wer

  • bei 14 oder mehr Verrichtungen des täglichen Lebens aus dem vorgenannten Katalog von 18 Verrichtungen im wesentlichen krankheits- oder behinderungsbedingt der Hilfe einer anderen Person bedarf oder
  • neben einem Hilfebedarf bei 9 bis 13 dieser Verrichtungen beim Vorliegen besonderer Gleichstellungssachverhalte einen entsprechenden Gesamtpflegebedarf hat.

Der erkennende Senat hat sich im Urteil vom 9. Februar 1994 (1/3 RK 45/92) der Rechtsprechung des 4. Senats auch insoweit angeschlossen, als die Feststellung des Hilfebedarfs bei einzelnen Verrichtungen nicht von der Intensität der erforderlichen fremden Hilfe abhängt. Nur wenn bei mehr als acht der genannten Verrichtungen ein Hilfebedarf auftritt, ist eine Gesamtabwägung erforderlich, die auch die Intensität der jeweils erforderlichen Hilfeleistung berücksichtigt.

Bei geistigen Behinderungen gilt dies jedoch mit einer Einschränkung: Aus der Zielrichtung der §§ 53 f SGB V, häusliche Pflegehilfe in erster Linie zur Entlastung der dort tätigen Pflegepersonen einzusetzen, ergibt sich, daß von einem Hilfebedarf nur auszugehen ist, wenn der Einsatz der Pflegeperson zumindest mit einem nennenswerten zeitlichen Aufwand verbunden ist. Hieraus folgt im Hinblick auf die Pflegebedürftigkeit geistig behinderter Personen, daß ein Hilfebedarf nur angenommen werden kann, wenn die Pflegeperson in ähnlicher Weise wie bei einer körperlichen Behinderung zeitlich und örtlich gebunden wird, sich der Einsatz der Pflegeperson also nicht in einer einmaligen Aufforderung an den Behinderten erschöpft, eine bestimmte Verrichtung vorzunehmen. So kann etwa die Notwendigkeit des morgendlichen Weckens und die Aufforderung aufzustehen allein nicht als relevanter Hilfebedarf beim Aufstehen angesehen werden. Ein Hilfebedarf ist dagegen anzunehmen, wenn die Aufforderung allein nicht ausreicht, um den Behinderten in den Stand zu versetzen, eine Verrichtung eigenständig auszuführen. Dies ist etwa der Fall, wenn bei der Mundpflege die Aufforderung, die Zähne zu putzen nicht ausreicht, sondern Einzelanweisungen nach der Art erforderlich sind, daß die Zahnpastatube aufzuschrauben ist, oder wenn die Pflegeperson den Vorgang und das Ergebnis jeweils kontrollieren muß, oder wenn zum Anziehen die bloße Aufforderung nicht ausreicht, sondern die Kleidungsstücke jeweils vorsortiert werden müssen bzw eine nachfolgende Kontrolle erforderlich ist. Liegt dieses Mindestmaß an Hilfeleistung bei einer Verrichtung vor, so sind im übrigen alle genannten Verrichtungen zunächst als gleichwertig zu addieren. Ihr unterschiedliches Gewicht ist erst bei einer Hilfsbedürftigkeit in mindestens neun Verrichtungen im Rahmen der Gleichstellungssachverhalte zu berücksichtigen, wie der Senat im Anschluß an den 4. Senat im Urteil vom 9. Februar 1994 (1/3 RK 45/92) für körperliche Behinderungen entschieden hat.

Das LSG hat von seiner Rechtsauffassung ausgehend von Feststellungen über den Hilfebedarf bei einzelnen Verrichtungen abgesehen. Es hat sich im übrigen auf die Wiedergabe des Inhalts der ärztlichen Unterlagen, des Berichts der WfB und der Schilderung der Mutter der Klägerin beschränkt, und daraus die allgemeine Schlußfolgerung gezogen, die Klägerin könne in der WfB relativ selbständig arbeiten und zuhause die meisten regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens – wenn zT auch mit Hilfe oder nach Aufforderung – selbständig verrichten. Das LSG hat besonders hervorgehoben, daß die Klägerin in der Lage sei, die Uhr abzulesen, das Fernsehprogramm zu verfolgen und eine selbständige Programmauswahl zu treffen. Das kann – ungeachtet der dagegen erhobenen Verfahrensrügen – darauf hindeuten, daß die Klägerin beim Sehen und Hören nicht beeinträchtigt ist und offenbar längere Zeit unbeaufsichtigt bleiben kann. Schwerpflegebedürftigkeit ist damit aber noch nicht ausgeschlossen, weil dennoch Hilfebedarf bei mehr als dreizehn Verrichtungen bestehen kann; selbst bei einem Hilfebedarf bei nur neun bis dreizehn Verrichtungen müssen längere aufsichtsfreie Intervalle beim Fernsehen nicht zwangsläufig zur Verneinung der Schwerpflegebedürftigkeit führen.

Die erforderlichen Feststellungen sind vom LSG nunmehr anhand des Katalogs nachzuholen. Dabei sind die bei den einzelnen Verrichtungen auftretenden Defizite und die erforderlichen Hilfeleistungen so konkret zu umschreiben, daß die Ermittlung des Gesamtpflegebedarfs nachvollziehbar ist. Sofern der Hilfebedarf der Klägerin sich nach diesen Vorgaben auf neun bis dreizehn Verrichtungen erstreckt, ist der erforderliche Pflegebedarf einer Gesamtwürdigung auf erschwerende Umstände zu unterziehen. Bei geistig Behinderten können solche erschwerenden Umstände insbesondere darin liegen, daß sie praktisch lückenloser Aufsicht und Anleitung bedürfen, die für die Pflegeperson keinen nennenswerten Freiraum mehr für eigene Arbeiten oder Freizeitbetätigung belassen.

Kommt das LSG aufgrund der nachgeholten Tatsachenfeststellungen zu dem Ergebnis, daß die Anspruchsvoraussetzungen für das Pflegegeld zu bejahen sind, wird es die Beklagte nur dann zur Leistung verurteilen können, wenn die Gewährung der häuslichen Pflegehilfe als Sachleistung nicht in Betracht kommt. Mit der Formulierung “auf Antrag der schwerpflegebedürftigen Versicherten kann die KK ihnen anstelle der häuslichen Pflegehilfe einen Geldbetrag von 400,00 DM je Kalendermonat zahlen”, hat der Gesetzgeber der KK ein Ermessen eingeräumt. Dieses bezieht sich indessen nur auf die Befugnis, anstelle der als Surrogat gedachten Geldleistung die häusliche Pflege als Sachleistung anzubieten, sofern sachliche Gründe dafür vorliegen (§ 39 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil –). Ob dies bei Erfüllung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 57 SGB V faktisch zu einer Ermessensschrumpfung “auf Null” führt (so Maaßen/Schermer/Wiegand/Zipperer, SGB V § 57 RdNr 2 und 3) bleibt der Entscheidung des LSG vorbehalten.

Dies gilt auch für die Kosten des Verfahrens einschließlich der Revisionsinstanz.

 

Fundstellen

Breith. 1994, 883

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