Entscheidungsstichwort (Thema)
Antragspflichtversicherung für selbständige Erwerbstätige
Leitsatz (amtlich)
Eine nach HwVG § 2 Abs 1 Nr 4 versicherungsfreie Witwe eines in die Handwerksrolle eingetragenen Handwerkers gehört trotz der Versicherungsfreiheit der rentenversicherungsrechtlichen Sonderform der Handwerkerversicherung an und ist deshalb nicht zur Pflichtversicherung für Selbständige nach AVG § 2 Abs 1 Nr 11 zugelassen.
Leitsatz (redaktionell)
Selbständige, die in ihrer Tätigkeit dem Grunde nach der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung unterliegen, jedoch versicherungsfrei sind, haben nicht die Möglichkeit der Antragspflichtversicherung gemäß AVG § 2 Abs 1 Nr 11, RVO § 1227 Abs 1 S 1 Nr 9.
Normenkette
AVG § 2 Abs. 1 Nr. 11 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1227 Abs. 1 S. 1 Nr. 9 Fassung: 1972-10-16; HwVG § 2 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1960-09-08; AnVNG Art. 2 § 49a Abs. 1 Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art. 2 § 51a Abs. 1 Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
SG Dortmund (Entscheidung vom 25.03.1976; Aktenzeichen S 4 An 180/75) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 25. März 1976 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten des gesamten Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin für einen Monat zur Pflichtversicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) und zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach Art. 2 § 49 a Abs. 1 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) zuzulassen ist.
Die am 8. September 1909 geborene Klägerin ist die Witwe des am 22. Juli 1962 verstorbenen Maler- und Lackierermeisters Joachim B. Dieser war in der Handwerksrolle eingetragen. Nach dem Tod des Ehemanns führte die Klägerin den Handwerksbetrieb weiter. Sie ist seit dem 5. August 1964 in der Handwerksrolle eingetragen. Ein Sohn der Klägerin ist als betriebsleitender Handwerker tätig. Der letzte Beitrag ist als freiwilliger Beitrag zur Angestelltenversicherung (AnV) für Dezember 1957 entrichtet.
Am 3. September 1974 beantragte die Klägerin, ihr das Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres zu gewähren, sie zur Pflichtversicherung für September 1974 gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG mit einem Beitrag der Klasse 1400 sowie zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge gemäß Art. 2 § 49 a Abs. 1 AnVNG mit jeweils sechs Beiträgen der Klasse 600 für die Jahre 1956 und 1957, 12 Beiträgen der Klasse 600 für das Jahr 1958, jeweils 12 Beiträgen der Klasse 800 für die Jahre 1959 und 1962 und 12 Beiträgen der Klasse 1000 für das Jahr 1963 zuzulassen. Hierfür überwies sie der Beklagten insgesamt 11.916,- DM. Die Beklagte lehnte die Aufnahme in die Pflichtversicherung und die Nachentrichtung ab, da für die Klägerin nur für 206 Kalendermonate Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung anstelle der nach § 1 Abs. 1 des Handwerkerversicherungsgesetzes (HwVG) erforderlichen Beiträge von 216 Kalendermonaten nachgewiesen seien (Bescheid vom 16. Dezember 1974).
Während des Widerspruchsverfahrens beantragte die Klägerin am 26. März 1975, sie zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach Art. 2 § 49 a Abs. 2 AnVNG mit insgesamt 11.880,- DM zuzulassen; auf diese Nachentrichtungsmöglichkeit hatte die Beklagte in ihrem Bescheid hingewiesen. Nachdem die Beklagte das Altersruhegeld ab 1. Oktober 1974 zunächst ohne die nachentrichteten Beiträge festgestellt hatte, stellte sie das Altersruhegeld unter Anrechnung der nach Art. 2 § 49 a Abs. 2 AnVNG nachentrichteten Beiträge für die Jahre 1956 bis 1973 neu fest (Bescheid vom 1. Juli 1975). Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 20. August 1975).
Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die Beklagte unter Abänderung des Bescheids in der Gestalt des Widerspruchsbescheids verurteilt, die Pflichtversicherung der Klägerin für den Monat September 1974 sowie die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge gemäß Art. 2 § 49 a Abs. 1 AnVNG zuzulassen. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 25. März 1976).
Die Beklagte hat gegen dieses Urteil mit Zustimmung der Klägerin Sprungrevision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Sprungrevision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Beklagte hat mit Recht die beiden Anträge der Klägerin abgelehnt, sie zur Pflichtversicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG sowie - unmittelbar daraus folgend - zur Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen nach Art. 2 § 49 a Abs. 1 AnVNG zuzulassen. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG werden auf ihren - vom Gesetz näher umschriebenen - Antrag in der AnV solche Personen versichert, die nicht nach den Nrn. 1 bis 9 des § 2 Abs. 1 AVG, § 1227 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 3 und 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) oder dem HwVG versicherungspflichtig sind und nicht nur vorübergehend im Geltungsbereich des AVG eine selbständige Tätigkeit ausüben, wenn sie u.a. den letzten wirksamen Beitrag zur AnV geleistet haben. Die Klägerin erfüllt diese Voraussetzungen für die Pflichtversicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG entgegen ihrer Auffassung nicht. Sie hat zwar den letzten wirksamen Beitrag zur AnV geleistet. Die Klägerin beruft sich darauf, auch die übrigen Voraussetzungen zu erfüllen. Sie sei nicht versicherungspflichtig. Nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 HwVG sei sie als Witwe eines in die Handwerksrolle eingetragenen Handwerkers für die Zeit nach dem Tode ihres Ehegatten versicherungsfrei, weil sie den Handwerksbetrieb fortgeführt habe und auch nicht im Zeitpunkt des Todes ihres Ehemanns nach § 1 HwVG versichert gewesen sei.
Der Klägerin kann zugegeben werden, daß sie als Witwe wegen der Betriebsfortführung in der Handwerkerversicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 HwVG versicherungsfrei war und ist.
Indes reicht eine derartige nur am Wortlaut der Vorschrift haftende Auslegung zum Verständnis des § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG nicht aus. Sinn und Zweck dieser durch das Rentenreformgesetz (RRG) vom 16. Oktober 1972 (BGBl I 1965) eingefügten Regelung sollte es sein, auch solchen Selbständigen, die bisher nicht als Pflichtversicherte den Rentenversicherungen angehörten, auf ihren Antrag die Pflichtversicherung zu ermöglichen. Umgekehrt sollte aber für solche Personen, die als Selbständige dem Grunde nach bereits den Rentenversicherungen angehörten, keine neue oder andere Pflichtversicherung innerhalb der Rentenversicherung geschaffen werden. Dieser der Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige zugrunde liegende Gedanke trifft auch auf selbständige Handwerker zu. Selbständige Handwerker gehören in die für sie geschaffene und auf sie beschränkte Sonderform der Handwerkerversicherung nach dem HwVG, deren Durchführung den Trägern der Arbeiterrentenversicherung obliegt. Die Klägerin gehörte und gehört, seitdem sie den Handwerksbetrieb ihres verstorbenen Ehemanns fortführt, der Handwerkerversicherung an. Daran ändert nichts, daß sie, was auch die Beklagte nicht anzweifelt, nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 HwVG in der Handwerkerversicherung versicherungsfrei ist. Diese Versicherungsfreiheit weist nämlich aus, daß die Klägerin jedenfalls bereits der rentenversicherungsrechtlichen Sonderform der Handwerkerversicherung zugehört. Versicherungsfreiheit - entsprechendes gilt für die antragsabhängige Versicherungsbefreiung - setzt nämlich voraus, daß die betreffende Person überhaupt versicherungspflichtig ist. Die Versicherungspflicht bleibt dem Grunde nach auch dann bestehen, wenn in der Person des Versicherungspflichtigen die gesetzlichen Voraussetzungen für einen der Fälle der Versicherungsfreiheit (oder der Versicherungsbefreiung) erfüllt sind. An der mit der Versicherungspflicht beginnenden Zugehörigkeit zu einem Zweig der Rentenversicherung, hier der Handwerkerversicherung, ändert sich also nichts dadurch, daß eine bestimmte Person versicherungsfrei ist und daher keine Beiträge zur Rentenversicherung zu entrichten hat.
Entscheidend für die gesetzlich durch das RRG eröffnete Möglichkeit der Versicherungspflicht Selbständiger ist nicht, ob der Antragsteller für seine Person versicherungsfrei ist, sondern ob er überhaupt einer Form der Rentenversicherung untersteht. Die Klägerin gehört, obschon sie selbst nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 HwVG versicherungsfrei ist, wegen der grundsätzlich bestehenden Versicherungspflicht der Handwerkerversicherung an. Ihr ist daher der Zugang zur antragsgebundenen Pflichtversicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG versperrt.
Das SG hat sich mit seiner gegenteiligen Entscheidung gegen diese an Sinn und Zweck ausgerichtete Auslegung des § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG ausgesprochen, weil der Wortlaut dieser Vorschrift und der Gesetzeszusammenhang dies nach seiner Auffassung nicht zuließen. Insbesondere sei kein redaktionelles Versehen des Gesetzgebers ersichtlich. Dem ist nicht zu folgen. Das ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte. Zur Begründung ihres Entwurfs eines Gesetzes über die Öffnung der gesetzlichen Rentenversicherung für Selbständige (BT-Drucks. VI/2153) hat die vorlegende CDU/CSU-Bundestagsfraktion ausgeführt:
"Ab 1. Januar 1972 soll die gesetzliche Rentenversicherung für Selbständige einschließlich der freiberuflich Tätigen geöffnet werden. Selbständige, die bereits in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig sind (Handwerker, selbstständige Lehrer und Erzieher ...) werden durch die neue Regelung nicht betroffen" (S. 8 aaO).
Der Leitgedanke, nur solche Selbständige in die Rentenversicherung aufzunehmen, die ihr noch nicht angehörten, wird in der Begründung des Entwurfs zur Neufassung des § 1227 RVO wiederholt:
"... Der vorliegende Gesetzentwurf betrifft nicht Handwerker. Für sie verbleibt es bei der Regelung nach Handwerkerversicherungsgesetz. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie auf Grund des Handwerkerversicherungsgesetzes versicherungspflichtig, versicherungsfrei oder von der Versicherungspflicht befreit sind" (S. 16 aaO).
Dieser Absicht der eindeutigen Abgrenzung entspricht der dem § 1227 Abs. 1 Nr. 9 RVO folgende Satzteil: "sofern sie nicht wegen derselben Beschäftigung oder derselben Tätigkeit nach den Bestimmungen des Angestelltenversicherungsgesetzes, des Reichsknappschaftsgesetzes oder des Handwerkerversicherungsgesetzes versicherungspflichtig oder versicherungsfrei oder auf Antrag von der Versicherungspflicht befreit sind" (§ 1227 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz RVO). Zwar werden in § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG als Parallelvorschrift zu § 1227 Abs. 1 Nr. 9 RVO die Versicherungsfreiheit und die Befreiung von der Versicherungspflicht als Ausnahmen von der grundsätzlich bestehenden Versicherungspflicht nicht ausdrücklich erwähnt. Jedoch ist kein Grund ersichtlich, die wegen der Öffnung der Rentenversicherung für Selbständige gleichzeitig eingeführten Vorschriften der §§ 1227 Abs. 1 Nr. 9 RVO, 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG unterschiedlich auszulegen. Beide sind vielmehr trotz ihrer teilweise verschiedenen Wortfassung gleich anzuwenden. Würde dies nicht geschehen, würden - vom Vorderrichter hingenommen - unterschiedliche Ergebnisse eintreten, je nachdem, ob der letzte Beitrag zur Rentenversicherung der Arbeiter oder der Angestellten geleistet worden wäre. Derartige unterschiedliche Ergebnisse würden aber dem Gesetzesziel widersprechen, Selbständige, soweit sie bisher nicht versicherungspflichtig waren, auf ihren Antrag als Pflichtversicherte in die Rentenversicherung aufzunehmen, ohne dabei Unterschiede zwischen den Rentenversicherungen der Arbeiter und der Angestellten zu machen.
Eine allein auf der letzten wirksamen Beitragsentrichtung beruhende Zuständigkeit der Rentenversicherung der Arbeiter oder der Angestellten und die daran anknüpfende unterschiedliche Behandlung würden zwingend zu einer Ungleichbehandlung führen, die wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes verfassungsrechtlich zu mißbilligen wäre.
Da die Klägerin der Handwerkerversicherung angehört, obschon sie selbst nach § 2 Abs. 1 Nr. 4 HwVG versicherungsfrei ist, ist sie von der Pflichtversicherung nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG ausgeschlossen. Der angefochtene Bescheid ist daher in diesem Punkt rechtmäßig.
Er ist es auch in seinem zweiten Teil, in dem die Beklagte die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach Art. 2 § 49 a Abs. 1 AnVNG abgelehnt hat. Nach Art. 2 § 49 a Abs. 1 Buchst. b AnVNG - nur diese Nachentrichtungsmöglichkeit ist streitig - können Personen, die bis zum 31. Dezember 1974 nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG versicherungspflichtig werden, auf Antrag abweichend von den Regelungen des § 140 AVG freiwillige Beiträge für Zeiten vom 1. Januar 1956 bis 31. Dezember 1973, in denen sie oder ihr Ehegatte eine selbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt haben, nachentrichten. Diese Nachentrichtungsmöglichkeit ist der Klägerin bereits deshalb versagt, weil sie bis zum 31. Dezember 1974, wie dargelegt, nicht nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG versicherungspflichtig werden konnte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen