Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. örtliche Zuständigkeit. kein Entfallen der Bindungswirkung des Verweisungsbeschlusses bei offensichtlichem Irrtum eines Gerichts. Wohnsitz. Ort faktischer Anwesenheit
Orientierungssatz
1. Gemäß § 98 S 1 SGG iVm § 17a Abs 2 GVG ist ein Verweisungsbeschluss wegen örtlicher oder sachlicher Unzuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wurde, bindend. Ausnahmsweise kommt dem Verweisungsbeschluss dann keine Bindungswirkung zu, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder einem willkürlichen Verhalten beruht (vgl BSG vom 25.2.1999 - B 1 SF 9/98 S = SozR 3-1720 § 17a Nr 11, vom 27.5.2004 - B 7 SF 6/04 S = SozR 4-1500 § 57a Nr 2, vom 1.6.2005 - B 13 SF 4/05 S = SozR 4-1500 § 58 Nr 6 und vom 8.5.2007 - B 12 SF 3/07 S = SozR 4-1500 § 57 Nr 2 sowie BVerfG vom 19.12.2001 - 1 BvR 814/01 = NVwZ-RR 2002, 389). Willkürlich ist eine gerichtliche Entscheidung dann, wenn sie unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar ist, sodass sich der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht und deshalb auch Art 3 Abs 1 GG verletzt. Allein ein offensichtlicher Irrtum eines Gerichts lässt die Bindungswirkung nicht entfallen (hier: fehlerhafte Anwendung der Vorschrift des § 57 Abs 1 S 1 Halbs 1 SGG, nach der sich die örtliche Zuständigkeit des Sozialgerichts zunächst nach dem Wohnsitz des Klägers zur Zeit der Klageerhebung bzw der Antragstellung richtet und nur in Ermangelung eines Wohnsitzes nach dem Aufenthaltsort).
2. Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er iS des § 30 Abs 3 S 1 SGB 1 (vgl BSG vom 17.5.1989 - 10 RKg 19/88 = SozR 1200 § 30 Nr 17 = BSGE 65, 84) eine Wohnung unter Umständen inne hat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Ein Wohnsitz wird aufgegeben, wenn die Wohnung aufgelöst oder nicht nur vorübergehend nicht mehr benutzt wird (vgl BSG vom 29.5.1991 - 4 RA 38/90 = SozR 3-1200 § 30 Nr 5). Hat jemand keinen Wohnsitz, wird auf den Aufenthaltsort abgestellt. Das ist der Ort faktischer Anwesenheit, die nicht "gewöhnlich" iS des § 30 Abs 3 S 2 SGB 1 zu sein braucht, jedoch eine gewisse Dauer haben muss.
Normenkette
SGG § 57 Abs. 1 S. 1, § 58 Abs. 1 Nr. 4, § 98 S. 1; GVG § 17a Abs. 1-2; GG Art. 3 Abs. 1; SGB 1 § 30 Abs. 3 Sätze 1-2
Verfahrensgang
SG für das Saarland (Beschluss vom 10.02.2010; Aktenzeichen S 26 AS 25/10 ER) |
Tatbestand
Mit einem am 30.12.2009 beim Sozialgericht (SG) Mainz eingegangenen Schriftsatz beantragte der Antragsteller, die Antragsgegnerin durch Erlass einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm Kosten der Unterkunft und Heizung nach dem SGB II für ein in seinem Eigentum stehendes und im Zuständigkeitsbereich des SG Mainz belegenes Haus zu gewähren. Hierzu gab er an, seit 31.10.2009 obdachlos zu sein und sich in S. aufzuhalten. In der Antragserwiderung teilte die Antragsgegnerin mit, der Antragsteller habe sich ohne festen Wohnsitz gemeldet, sich vom 7. bis zum 14.12.2009 täglich den Tagessatz auszahlen lassen und am 15.12.2009 bei der ARGE S. angemeldet, von der er seitdem Leistungen beziehe. Dort habe er erklärt, sein Haus werde zum Verkauf angeboten und er wolle vorerst in S. bleiben. Am 19.1.2010 bat der Antragsteller das SG Mainz telefonisch, ihm Post an ein bei der ARGE S. eingerichtetes Postfach zu senden, da er sich in seinem Haus nicht aufhalten könne. Tagsüber halt er sich in der Notunterkunft der C. S. auf.
Mit Verfügung vom 27.1.2010 hat das SG Mainz die Beteiligten zu einer beabsichtigten Verweisung des Rechtsstreits an das SG für das Saarland angehört. Daraufhin erklärte der Antragsteller mit Schreiben vom 2.2.2010, hiermit nicht einverstanden zu sein und innerhalb von drei Tagen wieder in die P. zurückkehren zu wollen. Die Post solle zukünftig wieder an die Anschrift seines Hauses gesandt werden, wobei er nicht sagen könne, wann er diese nachschauen könne.
Mit Beschluss vom 5.2.2010 hat das SG Mainz sich für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das SG für das Saarland verwiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, es sei auch nicht wegen eines bereits anhängigen Rechtsstreits als Gericht der Hauptsache für den Erlass der einstweiligen Anordnung zuständig, da die Verfahren unterschiedliche Gegenstände beträfen.
Mit Beschluss vom 10.2.2010 hat das SG für das Saarland das Verfahren dem Bundessozialgericht (BSG) zur Bestimmung des zuständigen Gerichts vorgelegt, da die Verweisung durch das SG Mainz willkürlich sei. Das SG Mainz habe trotz der Stellungnahme des Antragstellers verkannt, dass dieser weiterhin seinen Wohnsitz am Ort seines Hauses gehabt habe und dass sich die örtliche Zuständigkeit zuerst danach und nur nachrangig nach dem Aufenthaltsort richte.
Entscheidungsgründe
Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG durch das BSG liegen vor. Es ist als gemeinsam nächsthöheres Gericht im Sinne dieser Vorschrift zur Entscheidung des negativen Kompetenzkonflikts zwischen dem SG Mainz und dem SG für das Saarland berufen, nachdem das SG Mainz seine örtliche Zuständigkeit verneint und den Rechtsstreit an das SG für das Saarland verwiesen hat, dieses Gericht sich jedoch ebenfalls nicht für örtlich zuständig hält, sondern weiterhin das SG Mainz mangels Bindungswirkung als zuständig ansieht. Das SG für das Saarland konnte von einem eigenen Verweisungsbeschluss absehen und von seiner Unzuständigkeit ausgehend unmittelbar das BSG zur Bestimmung des zuständigen Gerichts anrufen (vgl BSG, Beschluss vom 27.5.2004, B 7 SF 6/04 S, SozR 4-1500 § 57a Nr 2).
Zum zuständigen Gericht ist das SG für das Saarland zu bestimmen, weil dieses an den Verweisungsbeschluss des SG Mainz vom 5.2.2010 gebunden ist.
Gemäß § 98 Satz 1 SGG iVm § 17a Abs 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) ist ein Verweisungsbeschluss wegen örtlicher oder sachlicher Unzuständigkeit für das Gericht, an das verwiesen wurde, bindend. Dies gilt im Interesse des verfassungsrechtlich gewährleisteten effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) und einer möglichst zügigen sachlichen Entscheidung grundsätzlich unabhängig von der Verletzung prozessualer oder materieller Vorschriften. Den Streit der beteiligten Gerichte über den Anwendungsbereich von Regelungen über die örtliche Zuständigkeit zu entscheiden oder in jedem Einzelfall die Richtigkeit des dem Verweisungsbeschluss zugrunde liegenden Subsumtionsvorgangs zu überprüfen, ist gerade nicht Aufgabe des gemeinsam übergeordneten Gerichts im Verfahren nach § 58 Abs 1 Nr 4 SGG.
Ausnahmsweise kommt dem Verweisungsbeschluss dann keine Bindungswirkung zu, wenn die Verweisung auf einer Missachtung elementarer Verfahrensgrundsätze oder einem willkürlichen Verhalten beruht (vgl BSG, Beschlüsse vom 25.2.1999, B 1 SF 9/98 S, SozR 3-1720 § 17a Nr 11 S 19 ff, vom 27.5.2004, B 7 SF 6/04 S, SozR 4-1500 § 57a Nr 2 RdNr 11, vom 1.6.2005, B 13 SF 4/05 S, SozR 4-1500 § 58 Nr 6 RdNr 15, und vom 8.5.2007, B 12 SF 3/07 S, SozR 4-1500 § 57 Nr 2 RdNr 4, sowie Bundesverfassungsgericht vom 19.12.2001, 1 BvR 814/01, NVwZ-RR 2002, 389). Willkürlich ist eine gerichtliche Entscheidung dann, wenn sie unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt mehr vertretbar ist, sodass sich der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht und deshalb auch Art 3 Abs 1 GG verletzt. Allein ein offensichtlicher Irrtum eines Gerichts lässt die Bindungswirkung nicht entfallen. Danach ist für eine vom Verweisungsbeschluss des SG Mainz abweichende Bestimmung des örtlich zuständigen SG kein Raum.
Das SG für das Saarland ist danach bereits deshalb für die Entscheidung örtlich zuständig, weil der Verweisungsbeschluss des SG Mainz nach § 98 Satz 1 SGG, § 17a Abs 2 GVG unanfechtbar (§ 98 Satz 2 SGG) und für das SG für das Saarland bindend ist (§ 17a Abs 1 GVG). Der Beschluss beruht nicht auf einer Verletzung elementarer Verfahrensgrundsätze, soweit sie hier zu beachten sind. Die knappe Begründung des Beschlusses ist kein solcher Verstoß.
Die Entscheidung des SG Mainz ist auch nicht willkürlich. Selbst wenn das SG Mainz möglicherweise die Vorschrift des § 57 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG fehlerhaft angewandt hat, nach der sich die örtliche Zuständigkeit des Sozialgerichts zunächst nach dem Wohnsitz des Klägers zur Zeit der Klageerhebung bzw der Antragstellung richtet und nur in Ermangelung eines Wohnsitzes nach dem Aufenthaltsort, war seine Rechtsauffassung nicht unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt unvertretbar. Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er iS des § 30 Abs 3 Satz 1 SGB I (vgl BSG, 17.5.1989, 10 RKg 19/88, BSGE 65, 84, 86) eine Wohnung unter Umständen inne hat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Ein Wohnsitz wird aufgegeben, wenn die Wohnung aufgelöst oder nicht nur vorübergehend nicht mehr benutzt wird (vgl BSG, 29.5.1991, 4 RA 38/90, SozR 3-1200 § 30 Nr 5 S 8) . Hat jemand keinen Wohnsitz, wird auf den Aufenthaltsort abgestellt. Das ist der Ort faktischer Anwesenheit, die nicht "gewöhnlich" iS des § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I zu sein braucht, jedoch eine gewisse Dauer haben muss (Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl 2008, § 57 RdNr 7 mwN) .
Vorstehend bestanden im Zeitpunkt seines Verweisungsbeschlusses (vgl BSG, 1.6.2005, B 13 SF 4/05 S, SozR 4-1500 § 58 Nr 6 RdNr 12) für das SG Mainz konkrete Anhaltspunkte für eine Wohnsitzaufgabe des Klägers im Zeitpunkt der Antragstellung und für einen Aufenthalt von gewisser Dauer in S. So hatte der Antragsteller selbst angegeben, obdachlos zu sein und sich in S. aufzuhalten, wohin er zunächst auch seine Post gesandt bekommen wollte. Dieser Sachverhalt wurde auch durch die Antragsgegnerin bestätigt, die über einen Leistungsbezug in S. und daneben über dort mitgeteilte Bemühungen des Klägers um den Verkauf seines Hauses berichtet hat. Der Sachverhalt zum Zeitpunkt der Antragstellung hat sich auch nicht durch die mit Schreiben vom 2.2.2010 übermittelte Erklärung des Antragstellers geändert, sich wieder in die P. begeben zu wollen, wenn auch diese Erklärung dem SG Mainz Anlass gegeben hätte, sich mit der Frage der Dauer- und Ernsthaftigkeit der Wohnsitzaufgabe näher auseinanderzusetzen. Dabei wäre jedoch auch zu würdigen gewesen, dass der Antragsteller ausdrücklich darauf hingewiesen hat, nicht sagen zu können, wann er nach der an die Anschrift seines Hauses gesandten Post schauen könne, was darauf schließen lässt, dass er dort nicht wieder einziehen wollte. Die fehlende Auseinandersetzung mit der Frage einer möglicherweise nicht dauerhaften Aufgabe des Wohnsitzes im Zeitpunkt der Antragstellung macht die Verweisung des Rechtsstreits an das SG für das Saarland uU im Ergebnis falsch, jedoch nicht im oben dargelegten Sinne willkürlich, zumal auch andere Umstände, die darauf schließen lassen könnten, dass die Entscheidung des SG Mainz auf sachfremden Erwägungen beruht haben könnte, nicht ersichtlich sind.
Fundstellen