Was ist ein Angriff i.S. des Opferentschädigungsgesetzes

Der Fall: Bedrohung einer Bankangestellten mit einer täuschend echt aussehenden Pistole. Die Folge: erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigung des Opfers durch tief greifende Angststörung. Dennoch wollte die Behörde keine Opferentschädigung gewähren.

Am 13.2.2009 beschloss der 27 Jahre alte Täter, die Filiale einer Volksbank zu überfallen. Mit aufgesetzter Sonnenbrille, über den Kopf gezogener Kapuze, einem wesentliche Partien des Gesichts verdeckenden Schal, Handschuhen und einer nicht geladenen Schreckschusspistole betrat er den Schalterraum einer Volksbank und richtete seine Waffe auf den Kundenberater, der gerade an den Schalter trat, um den vermeintlichen Kunden zu bedienen. Dieser händigte dem Täter das im Kassentresor befindliche Geld aus.

Ein Bankräuber und 10 Minuten Angst: behandlungsbedürftige posttraumatische Belastungsstörung

Die spätere Klägerin, ebenfalls Angestellte der Bank, blieb während dieser Zeit aus Angst regungslos an ihrem Schreibtisch sitzen. Der ausgehändigt Geldbetrag von ca. 17.000 EUR reichte dem Täter aber nicht; er verlangte die Öffnung eines zweiten Kassentresors und richtete zwischenzeitlich die Schreckschusspistole auch kurz auf die Klägerin. Diese blieb weiterhin reglos auf ihrem Platz. Erst nachdem der Täter auf den weiteren Geldbetrag von ca. 6.000 EUR erhalten hatte, verließ er fluchtartig die Bankfiliale.

Der Vorgang nahm insgesamt einen Zeitraum von ca. 10 Minuten in Anspruch, während dessen die Klägerin in Schockstarre verharrte. Wegen des erlittenen Schocks war die Klägerin ca. eine Woche arbeitsunfähig, sie musste anschließend zweieinhalb Wochen in einer anderen Filiale eingesetzt werden. Erst nach einer psychologischen Behandlung konnte sie wieder in der ursprünglichen Filiale arbeiten, litt jedoch weiter hin an einer behandlungsbedürftigen posttraumatischen Belastungsstörung.

Behörde verweigert Entschädigung: Schreckschusspistole reicht ihr nicht

Wegen der erlittenen Tatfolgen stellte die Klägerin einen Antrag auf Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Im Dezember 2009 lehnte das Landratsamt den Antrag ab.

  • Nach Auffassung des Landratsamtes lag ein tätlicher Angriff im Sinne von § 1 OEG nicht vor, da die Klägerin keiner objektiven Bedrohung ausgesetzt gewesen sei.

  • Nach dem Opferentschädigungsgesetz spiele es keine Rolle, dass die Klägerin sich subjektiv bedroht gefühlt habe.

  • Entscheidend sei vielmehr, dass objektiv keine Gefahr bestanden habe, da das Bedrohungswerkzeug lediglich eine Schreckschusspistole und keine echte Waffe gewesen sei. 

Opferentschädigung ist zwar keine Volksversicherung

Vor Gericht drang das Landratsamt mit seiner Auffassung weder erst- noch zweitinstanzlich durch.

Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs ist  § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Danach enthält derjenige, der in Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder andere eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes.

Das LSG stellte allerdings heraus, dass das OEG nicht jeden, von einem beliebigen Unglücksfall Betroffenen erfasse, sondern nur diejenigen, die durch eine mit Gewaltanwendung verbundene Straftat geschädigt wurden. Vermögensschäden, wie sie durch Betrug, Untreue oder ähnliche Straftaten entstehen könnten, seien von dieser Entschädigung ebenso ausgenommen wie die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen solcher Straftaten. Durch diese Einschränkung wolle der Gesetzgeber verhindern, dass das Gesetz auf eine allgemeine Volksversicherung gegen schwere Unfälle hinaus laufe, was finanziell vom Staat nicht getragen werden könne.

Tätlicher Angriff ist auch ohne Körperkontakt möglich

Nach Auffassung des LSG setzt der tätliche Angriff im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz eins OEG - abweichend von dem im Strafrecht strittig diskutierten Gewaltbegriff - grundsätzlich eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person voraus.

  • Eine ohne Einsatz körperlicher Gewalt allein intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung, die nicht unmittelbar auf die Beeinträchtigung der körperlichen Integrität abziele, falle nicht unter diesen Begriff (einfaches Mobbing).

  • Die körperliche Gewalteinwirkung verlange aber nicht zwingend eine körperliche Berührung zwischen Täter und Opfer, vielmehr könne nach ständiger Rechtsprechung auch physisch vermittelter Zwang die Begrifflichkeit ausfüllen (BSG, Urteil vom 24.09.1992, 9a RVg 5/91).

Gewalttätiges Erscheinungsbild des Vorgangs ist bedeutsam

Je gewalttätiger die Angriffshandlung gegen eine Person nach ihrem äußeren Erscheinungsbild sei, desto geringere Anforderungen seien an die Bejahung eines tatsächlichen Angriffs in objektiver Hinsicht zu stellen. Eine Hilfsüberlegung könne sein, ob die Abwehr des Angriffs unter dem Gesichtspunkt der Notwehr gerechtfertigt wäre. Vorliegend sei der Täter wegen räuberischer Erpressung zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Die Verwendung von Scheinwaffen sei in der Strafjustiz schon lange der Bedrohung mit geladenen Waffen gleichgestellt.

  • Im konkreten Fall habe die Klägerin keinen Anlass gehabt, an der objektiven Gefährlichkeit der Situation zu zweifeln. Die Schreckschusspistole habe einer scharfen Waffe täuschend ähnlich gesehen.
  • Auch aus der Sicht eines objektiven, vernünftigen Beobachters habe sich eine akute Gefährdung für Leib und Leben der Klägerin dargestellt.
  • Im übrigen stelle es sich als nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung dar, würde der mit einer geladenen und entsicherten Schusswaffe Bedrohte dem Schutz des OEG unterstellt, während derjenige, der aus Sicht eines vernünftigen Dritten der gleichen Gefahrenlage ausgesetzt sei, aus dem Schutzbereich ausgenommen würde.

Damit sei die Voraussetzung für einen tätlichen Angriff im Sinne von § 1 OEG erfüllt. Hierdurch sei die posttraumatische Belastungsstörung der Klägerin adäquat kausal verursacht worden. Dies habe auch die Beklagte nicht in Frage gestellt. Damit sei ein Anspruch der Klägerin nach dem OEG unzweifelhaft gegeben.

Erweiterung des Opferschutzes

Die Bedeutung der Entscheidung liegt in der Konkretisierung des Begriffs des tätlichen Angriffs in § 1 OEG. Mit der Entscheidung ist insbesondere klargestellt, dass eine nach der Beurteilung eines verständigen Dritten vorliegende konkrete Bedrohungssituation auch dann Entschädigungsansprüche des Opfers auslöst, wenn objektiv die Bedrohungslage nicht gegeben war. Über die Höhe des Anspruchs musste das Gericht nicht entscheiden, da die Klägerin lediglich beantragt hatte, ihre Ansprüche nach dem OEG dem Grunde nach festzustellen. 

(LSG Baden-Württemberg, Urteil v. 13.12.2012, L 6 VG 2210/12).