Jobsharing mit einem Bot
Unsere Hypothese lautet: KI wird flächendeckend in Führung gehen – und dies nicht nur sprichwörtlich. Künftig werden weniger Menschen in formellen und fachlichen Führungsrollen gebraucht werden, die verbleibenden menschlichen Führungskräfte sind allerdings noch weniger verzichtbar. Wenn auch, so vermuten wir, mit ganz anderen Tätigkeitsschwerpunkten als heute. Die Leichtigkeit, mit der algorithmen-basierte Systeme schwere Koordinationsaufgaben in Teams übernehmen, starre Meinungen von Einzelnen verändern und mühsame Mitarbeitergespräche meistern, darf menschliche Führungskräfte ermutigen, sich dem leicht Ungewissen zu widmen. Mehr Freiheit also für menschliche Führungskräfte und ihre drei später noch ausgeführten Handlungsschwerpunkte:
- Entscheiderin bei Unentscheidbarem,
- Unterstützer bei der Ausgestaltung der Identität,
- Expertinnen für den richtigen Abstand.
Schauen wir uns zunächst den Weg in diese Zukunft an. Schon heute werden zahlreiche Managementaufgaben durch Algorithmen übernommen. In der Gig Economy mit App- oder plattformbasierten Geschäftsmodellen wie bei Uber oder Lieferando arbeitet kein Beschäftigter mehr direkt mit einem Manager. Stattdessen organisieren und kommunizieren Algorithmen die Zuweisung von Fahrgästen und deren Bestellung, sie übernehmen die Preisbestimmung, Routenplanung und das Controlling. Doch wie steht es um die Akzeptanz nicht-menschlicher Führungskräfte?
Mit Bot-Bossen gegen den Führungskräftemangel
Sobald drei Kriterien erfüllt sind – Transparenz, Fairness und die Möglichkeit der Einflussnahme –, scheinen Menschen ihre Bot-Bosse zu mögen: keine herumschreienden Vorarbeiter mehr, keine biorhythmischen Schlagseiten bei Entscheidungen, keine Launen, die aus dem Privatleben an den Arbeitsplatz getragen werden und keine Ungleichbehandlungen von Lieblingen und anderen durch die Führungskraft. Mag dieser hohe Zuspruch für Bot-Bosse auf den ersten Blick überraschend erscheinen, so verständlich ist er bei genauerem Hinsehen: Die schlechte Wirkung von schlechter Führung ist gut belegt. In einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Respondi wurden 2.085 Fachkräfte befragt. Lediglich 58 Prozent fühlten sich angemessen wertgeschätzt und 56,5 Prozent berichteten von Vertrauen und Rückhalt durch ihre Führungskräfte. Auch global sehen die Zahlen nicht besser aus. Ungerecht empfundene Führung ist nicht selten der Hauptgrund für Kündigungen. Aber nicht nur Mitarbeitende stellen ihren Führungskräften mangelhafte Zeugnisse aus. Sie wollen es selbst auch lieber nicht besser machen. Die Boston Consulting Group befragte 4.000 Angestellte: Nur noch 14 Prozent der Nichtführungskräfte können sich eine formelle Führungsrolle vorstellen. Aufstieg war gestern. Heute lieber Fach- als Führungskarriere.
Die Rolle ist nicht mehr attraktiv, insbesondere in der dienenden Rolle für Teams: Wer möchte schon mehr Stress, zusätzliche Anforderungen und ständige Erreichbarkeit bei gleichzeitiger Unerreichbarkeit von Mitarbeitenden, die während der Arbeit viel von dieser Work-Life-Balance reden? Der Führungskräftemangel ist die nächste Herausforderung, denn Menschen, die nicht führen wollen, sind eben auch nicht so leicht zu führen wie Aufstiegswillige. Damit ist eine der Integrationsfunktionen von Organisationen verloren gegangen, wie der führungserprobte Managementforscher Chester Barnard feststellte. Anweisungen von Führungskräften wurden oft genug nur aufgrund des eigenen Aufstiegswillens akzeptiert.
Menschliche Vorbehalte gegen KI-Führung
So futuristisch dies noch für manche klingen mag, die objektivierte, datenbasierte Lösung gegen Willkür und für den Führungskräftemangel läge auf der Hand: Wenn die Zufriedenheit mit menschlicher Führung ohnehin nicht zu hoch ist und gleichzeitig das Interesse der demografisch bedingt schrumpfenden Aspiranten sinkt, warum erleben wir dann keinen Begeisterungssturm beim Thema KI und Führung? Wieso scheint es ethisch geboten, dass nicht der Bot, sondern der Mensch die letzte Instanz beim Entscheiden über Menschen bleiben muss? In der Forschung ist das Phänomen des sogenannten anthropozentrischen Denkens im Zusammenhang mit Führung eher ein Evergreen als neuer Chartstürmer.
Der amerikanische Wissenschaftler James Meindl prägte in den Achtzigern dafür den Begriff der "Romantisierung von Führung". Es geht um einen fundamentalen Attributionsfehler, auch Korrespondenzverzerrung genannt. Komplizierte Begriffe für einfache Beobachtungen: Menschen unterschätzen die Einflüsse der Situation und überschätzen die Rolle des Individuums – vor allem dann, wenn es besonders gut oder besonders schlecht läuft. Manager tendieren also dazu, die menschliche Führungskraft als Erfolgs-(oder Misserfolgs-)Garant zu verteidigen, und nun kommt konsequenterweise auch die Verteidigung der menschlichen Führungskraft vor KI dazu. In der Systemtheorie wird der personalisierte Entscheider auch als die Entscheidungszuschreibungsadresse von systemisch entstandenen Entscheidungen bezeichnet.
Muster alter und neuer Führungsstile
Im Gegensatz zu klassischem Management – was nicht selten wie Malen nach Zahlen also als controlling-basiertes Entscheiden erscheint –, wirkt Führung irgendwie immer menschlicher und magischer. Führung bedeutet, Einfluss so auszuüben, dass andere motiviert sind, ein bestimmtes Ziel erreichen zu wollen. In der Musiksprache: Der DJ muss immer wieder einen Beat finden, bei dem andere freiwillig und freudig mittanzen. Diese Beats sind sehr unterschiedlich. Auf die Führung übertragen, kennen wir die einfache Führungstheorie mit Boni und klaren Deals für klare Leistung. Dann wurde es transformational: visionäre, inspirierende, dienende und coachende Führung, hoch charismatisch und dabei authentisch. Das war noch ganz gut in Business Schools vermittelbar, aber bevor Sie nun hoffen, dass KI Ihnen auch Inspirationsfähigkeit und Charisma beibringt: Stopp! Wenn man die Vielzahl der Fragebogen und Mitarbeiterumfragen zusammenwirft, die alte und neue Führungsstile messen, kommt ein ziemlich klares Muster heraus. Führungskräfte sollten:
- Aufgaben und Rollen klar zuordnen und dafür sorgen, dass der Job gemacht werden kann.
- Beziehungen gestalten können, sodass sich jeder in voller Individualität wertgeschätzt, entwickelt und inkludiert fühlt, aber gleichzeitig auch das Wirgefühl und die gute Stimmung des Gesamtteams nicht aus den Augen gerät.
- Visionen und ein attraktives Bild der Zukunft auf Basis von Werten und Vorstellungen vermitteln.
Effektiv ausgeübt, schafft es Führung damit, drei grundlegende Bedürfnisse zu adressieren:
- Menschen wollen Autonomie haben – also selbst Kontrolle wahrnehmen (zum Beispiel entscheiden, wann, wo, wie und mit wem sie arbeiten).
- Menschen wollen ein Gefühl der Zugehörigkeit spüren – also mit anderen verbunden sein.
- Menschen wollen ihre eigene Kompetenz erleben – also Dinge selbstwirksam meistern, Aufgaben beherrschen und neue Fähigkeiten erlernen.
Wenn die Befriedigung dieser drei Bedürfnisse gelingt, ist das Resultat ein intrinsisch motiviertes Team, dessen Mitglieder Arbeit als sinnstiftend erleben. Der KI aber wird genau diese Fähigkeit abgesprochen: dass sie Beziehungen gestalten kann und damit die Möglichkeit hat, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Sinnstiftung zu erfüllen. Die Empathie bleibt übrig – beim Menschsein. Das klingt so menschlich, so logisch, so hoffnungsfroh. Die Forschung aber zeigt uns etwas anderes. Und wird schnell als technooptimistisch abgetan, zumindest wenn man einschlägige LinkedIn-Diskussionen verfolgt.
Ekpathie und Empathie
Wir schauen uns die Forschung trotzdem an, denn hier gibt es mit Affective Computing einen ganzen Zweig, der sich mit der Nachbildung menschlicher Emotionalität befasst. Die Wissenschaftlerin Yidan Yin hat mit ihren Kollegen untersucht, ob KI in einer Unterhaltung Antworten generieren kann, die den Empfängern das Gefühl geben, auch gehört zu werden. Tatsächlich gaben die KI-generierten Chat-Nachrichten den Empfängern in höherem Maße das Gefühl, verstanden zu werden, als wenn die Nachrichten von einem Menschen geschrieben wurden. Die KI war zudem besser darin, Emotionen in der Unterhaltung richtig zu identifizieren. In einer weiteren Studie, in der die gesamte Konversation von unabhängigen Dritten bewertet wurde, zeigte sich, dass KI im Vergleich zu Menschen eine größere Disziplin bei der emotionalen Unterstützung bewies. Während Menschen dazu neigen, gleich die Lösungsgenerierungsmaschine anzuwerfen und Ratschläge zu geben, bleibt die KI mehr in der aktiven Zuhörerrolle.
Paradoxerweise entsteht das warme Gefühl bei den Empfängern der Nachrichten also gerade deswegen, weil die KI einen kühleren Kopf als menschliche Konversationspartner behält. KI kann also auch Ekpathie – gewissermaßen das Gegenteil von Empathie. Damit wird die Fähigkeit beschrieben, in bestimmten Situationen gerade kein Einfühlungsvermögen zuzulassen, das manipulierend sein kann oder eine Übertragung der kritischen Emotionen verhindert. Jeder kennt Ratschläge von Betroffenen, die einen betreffen sollen – ob bei Frustrationen mit dem Chef oder auch bei Ehe- oder Kindererziehungsproblemen. Zu nah dran, zu projizierend. Deswegen gibt es da Profis.
Was für den menschliche Führungskraft übrig bleibt
Die geschilderte Studie ist nur eine von zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten, die überzeugende Belege dafür liefern, dass KI die grundlegenden Bedürfnisse von Menschen sehr wohl adressieren kann. Noch allerdings verschwindet der Effekt, sobald die KI als Gesprächspartner aufgedeckt wird, aber hier sind Gewöhnungseffekte zu erwarten. KI-Gesprächspartner wie Woebot Health werden bereits effektiv als Therapeuten bei Depressionen und Angstsymptomen eingesetzt, mit beeindruckender Wirkung. Und auch Coaching für Führungskräfte – ein Bereich, in dem empathisches Eingehen auf die eigene Situation ganz sicher eine Rolle spielt – funktioniert in zwischen gut über KI. So hilft die App Bunch beispielsweise bei der Verbesserung des eigenen Führungsstils. Poised möbelt die eigenen Präsentationsfähigkeiten auf. Führungskräfte tauchen in unseren Lehrveranstaltungen mittels VR-Brille in Kommunikationssimulationen ein. Und das Feedback? Das objektive KI-generierte Feedback ist der Hammer! Denn je höher man im Unternehmen aufsteigt, desto einsamer und unehrlicher, also netter verpackt, wird auch die kleinste kritische Rückmeldung. Die KI aber macht keinen Unterschied und haut den Teilnehmenden auch schlechte Scores um die Ohren beziehungsweise in das virtuelle Blickfeld auf Augenhöhe – und genau das motiviert.
Anders ausgedrückt: Was bleibt für den Menschen übrig? Sie müssen in Führung gehen, um, erstens, die unentscheidbaren Entscheidungen zu entscheiden. Hier braucht es einen starken ethisch-moralischen Kompass und Integrität. Auch in Bezug auf Empathie dürfen und müssen wir differenzierter werden. Denn Menschen leben vorwärts und verstehen rückwärts, wie der Existenzphilosoph Søren Kierkegaard Mitte des 19. Jahrhunderts formulierte. Genau dafür wird es Führungskräfte brauchen, die, zweitens, Identitätsgestalterinnen sind. Die persönlich interagieren, gemeinsame Erfahrungen gestalten und so gemeinsam Antworten auf die Sinnfrage suchen. Dafür wird es eine Renaissance des Physischen geben, die mit einer besonderen Anforderung an menschliche Führungskräfte einhergeht: Drittens, sie müssen Distanzexpertinnen sein und räumliche wie persönliche Distanz definieren, aber auch die Distanz von und durch KI.
Entscheidungsträgerin für Unentscheidbares
Führungskräfte brauchen Kraft, weil sie nicht an dem arbeiten, was so ansteht, sondern führen, wenn nicht klar ist, was ansteht. Anders formuliert: Es geht um Führung als Dilemma-Management. Führungskräfte dürfen sich an das Gefühl gewöhnen, keine eindeutig richtige Entscheidung treffen zu können. Das wird zum Dauerzustand, ja zur Daseinsberechtigung. Neben Lockerungsübungen für die geistige Beweglichkeit braucht es Prinzipienfestigkeit für den festen Stand. Das ständige Entscheiden des Unentscheidbaren beziehungsweise der darin innewohnenden Dilemmata stellt uns immer wieder vor die Frage: Wie eicht man seinen moralischen Kompass, auch für künstlich-intelligente Empfehlungen? Epikur empfahl dazu die anderen. Für den griechischen Philosophen waren neben der eigenen emotionalen Gelassenheit (Ataraxie) die zwischenmenschlichen Freundschaften hilfreich und eine zentrale Quelle für den Umgang mit moralischen Dilemmata. Nun muss man nicht gleich mit allen Kolleginnen befreundet sein. Aber man kann Beziehungen pflegen, über Organisations-, Funktions- und Generationsgrenzen hinweg. Das nennt man Peering, und dieser Begriff entstammt bezeichnenderweise nicht etwa aus der Gruppentherapie, sondern aus der Informatik: Er benennt dort die direkte Verbindung oder den Zusammenschluss von gleichrangigen Internetdienstanbietern oder Computernetzwerken. Dabei stellen die Peering-Partner keine gegenseitigen Zahlungsansprüche. Konkurrenten werden so zu Kooperationspartnern, wenn es um gemeinsame Interessen geht. Damit das funktioniert, braucht es weniger Angst vor Konkurrenz und mehr Mut zu Transparenz.
Während in den Medien oft das mangelnde Vertrauen in KI diskutiert wird – die Angst vor dem Algorithm Threat –, gibt es genug Belege dafür, dass wir uns lieber mit der Angst vor dem Ego Threat (der empfundenen Bedrohung für das Selbstbild) befassen sollten. Denn wir wissen, dass psychologische Sicherheit in Organisationen – also auch die Sicherheit vor als übergriffig wahrgenommenen Menschen – zentral für die Entwicklung ist. Und: Menschen wollen sich im Job lieber durch Algorithmen ersetzen lassen als durch einen anderen Menschen. Das eigene Selbstbild wird weniger stark angegriffen, wenn eine Maschine besser ist als ein anderer Mensch. Solche Ängste stehen dem vertrauensvollen Peering unter Führungskräften im Weg. Damit das gemeinsame Durcharbeiten widersprüchlicher Führungsanforderungen ohne Ego Threat gelingt, sind wir beim nächsten Punkt: Führungsarbeit als Identitätsarbeit.
Wie Führungskräfte Identitäten gestalten
Eine Identität bezeichnet das Verständnis eines Individuums oder einer Gruppe von sich selbst. Getreu der Populärphilosophie haben wir nicht nur eine Identität, sondern viele – als Familienmensch, Sportlerin, Vorsitzende im Philatelistinnenclub und Führungskraft etwa. Wir sind nicht In-Dividuen, sondern – auch rollenbezogen – Dividuen. Und die Einheit der Dividualitäten ist die Identität, die uns ausmacht und als die wir auch gesehen werden wollen. Neil D. Lawrence ist – Achtung – Deepmind-Stiftungsprofessor für Machine Learning. Er hat sich – nach einem dreijährigen Ausflug als Machine Learning Director bei Amazon – wieder zurück an seinen Schreibtisch der University of Cambridge gesetzt. Hier befasst er sich vor allem mit einem: Welche Charakteristika des Menschen können nicht von einer KI übernommen werden? Lawrence lehnt sich dabei an den griechischen Philosophen Demokrit an, der sich überlegt hatte, dass es unmöglich sei, Materie unendlich weiter in kleinere Bestandteile zu zerlegen. Vielmehr erreicht man irgendwann einen Punkt, an dem keine Teilung mehr klappt – wir sind beim Atom (dem griechischen Wort für unteilbar). Analog stellt sich Lawrence vor, dass wir alle Fähigkeiten, die Maschinen besser als Menschen ausführen können, von der menschlichen Intelligenz abziehen. Sein Buchtitel The Atomic Human verweist damit auf die unteilbare Essenz, die dann übrigbleibt: Der Kern bestehe aus menschlichen Erfahrungen und Emotionen – und damit sind wir wieder bei den eingangs beschriebenen Qualitäten der künstlerischen Intelligenz. Wir, also unsere Identität(en), sind die Summe unserer Erfahrungen. Dabei spielen Gefühle eine wichtige Rolle. Heißt: Unsere Erfahrungen passieren zwar in der realen Welt, aber was davon wirklich in uns bleibt und damit die Geschichten unseres Lebens ausmacht, ist, wie es sich anfühlt.
Bei Führung als Identitätsgestaltung geht es zum einen darum, sinngebende Geschichten in der Arbeit mit unergründlichen Algorithmen zu kreieren. Zum anderen gehört dazu, Erlebnisse zu schaffen, bei denen Emotionen wechselseitig mitschwingen. Der Soziologe Hartmut Rosa würde es wohl als eine Resonanzerzeugung beschreiben – eine Form der Weltbeziehung, in der Menschen und ihre Umwelt in einer wechselseitigen, emotionalen und kognitiven Verbindung stehen. Selbstverständlich kann uns auch eine KI – in Maßen – berühren und Resonanz auslösen. Allerdings ist ein wichtiger Teil des Erfolgsrezepts von Resonanzerfahrungen, dass diese auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden, zum Beispiel gemeinsame Gruppenerfahrungen, die von dem amerikanischen Soziologen Randall Collins als erfolgreiche Interaktionsrituale bezeichnet werden. Die können zwar von KI geplant, aber eben nicht erlebt werden. Dieser Kern des Menschseins, dieses gemeinsame emotionale Schwingen in der Identitätsarbeit – das ist künftig ein Schwerpunkt der menschlichen Führungsarbeit. Das Warum kommt aus gemeinsamen unperfekten Erlebnissen und den dabei aufgeworfenen Fragen, nicht aus KI optimierten tadellosen Antworten und Purpose Statements.
Menschliche Führungskräfte als Distanzexpertinnen
Gehen Sie weiter. Hier gibt es nichts zu sehen. Bei so viel Nähe in der Führung wundern Sie sich vielleicht über diesen scheinbar paradoxen Distanzruf bei nahbarer Führung. Distanz darf zunächst im räumlichen Sinne verstanden werden. Vielleicht in einer VR-Welt, vor allem aber im Kontext von hybridem Arbeiten. Metastudien zeigen inzwischen genauso wie Experimente, dass flexible Arbeitsmodelle mit der Ermöglichung von Homeoffice-Tagen gut für das wahrgenommene Gefühl der Selbstbestimmung und damit für die Arbeitsleistung sind. Allerdings vergrößert das Auseinanderarbeiten nicht nur die räumliche, sondern auch die soziale Distanz zwischen Zusammenarbeitenden. Wir nehmen uns in virtuellen Meetings weniger Zeit für Small Talk. Die technisch vermittelte Kommunikation wird selbst technischer, aufgabenfokussierter, transaktionaler. Die Führungskraft als Distanzexpertin darf hier Ortssinn zeigen und immer wieder die richtige Balance zwischen Nähe und Distanz mit ihren fluid zusammenarbeitenden Teams finden.
Distanz sollte zweitens auch im nötigen Abstand zu sich selbst verstanden werden. Es gilt, das eigene Beobachten immer wieder zu beobachten. In einer Zukunft, in der wir ständig mit Maschinen arbeiten, können Leitfragen wie die folgenden interessante Selbstgespräche initiieren: Wenn man der Durchschnitt der fünf Interaktionspartner ist, mit denen man die meiste Zeit verbringt – was macht es mit mir, wenn diese Partner zu immer größeren Teilen KI-Entitäten sind? Ist es nur meine Neigung, die KI-Tools und Roboter, mit denen ich kommuniziere, zu vermenschlichen, oder sind es die Maschinen, die mich robotisieren? Dienen sie mir, oder sorgen sie dafür, dass ich mich so verhalte, als wäre ich der Dienende des Roboters beziehungsweise der digitalen Bürokratien und Algorithmen. Drittens benötigt die Führungskraft als Distanzexpertin die notwendige Distanz zur KI: Wie definieren und etablieren wir Strategien, damit Menschen den Maschinen nicht leichtgläubig nachentscheiden?
Führung und Verbundenheit
Ein kleines Experiment: Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit rauchendem Kopf denkend und arbeitend in einem kleinen Büro, und plötzlich geht der Feueralarm los. Rauch quillt schon durch die Tür. Zum Glück steht ein kleiner Roboter in der Ecke, der ein Schild mit der Aufschrift "Emergency Guide Robot" trägt. Sie könnten nun den markierten Notausgang benutzen oder aber in die Richtung gehen, in die der Roboter zeigt, den Gang runter durch den Rauch zu einer anderen Tür. Sie nehmen den offiziellen Notausgang? Gute Wahl. Leider nicht die, welche die meisten Menschen treffen. Genau mit einem solchen Szenario konfrontierte eine Gruppe von Forschern um den Doktoranden Paul Robinette nämlich ahnungslose Versuchsteilnehmer. Die Ergebnisse waren eindeutig: Der Großteil folgte blind den Anweisungen des Roboters, obwohl der sogar sehr offensichtlich in eine potenziell lebensgefährliche Richtung wies.
Das Beruf(ung)sbild für menschliche Führungskräfte wird damit deutlich attraktiver, ja potenziell lebensrettend: Bringt Bewegung in die Menschen, damit die Entscheidungen von KI nicht als Gesetz genommen werden! KI darf vorwegdenken, wir brauchen aber auch diejenigen, die nachdenken und eigene ethische Standards anbringen. Allerdings nicht (nur) allein – sondern miteinander. Kommunikation muss also sein, auch weil Führungskräfte gegen die Distanzierung durch KI aktiv werden dürfen. Die Forschung zeigt uns schon heute den Handlungsbedarf von morgen: Menschen, die KI-Unterstützung für die eigene Kommunikation nutzen, fühlen sich weniger mit anderen verbunden. Wer von KI geführt wird, sieht andere eher als Objekte statt als Menschen. Hier treten wiederum menschliche Führungskräfte auf den Plan, um dazu beizutragen, dass wir uns mit anderen Subjekten verbunden fühlen, und um uns daran zu erinnern, dass wir ein Ergebnis unserer gemeinsamen Erlebnisse und deren erinnerten Geschichten sind. Womit wir zielgenau beim Start sind: der Bildung der Zukunft.
Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch von Fabiola H. Gerpott und Stephan A. Jansen "Die Arbeit: Wie wir sie mit KI neu erfinden" (Brand Eins Books, 2025, 20 Euro). Er ist zuvor erschienen in Personalmagazin 7/2025. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der Personalmagazin-App. |
Das könnte Sie auch interessieren:
So unterstützt KI Führungskräfte
Wissenschaft für Praktiker: Wie sich Emotionale Intelligenz auf Leistung und Führung auswirkt
-
Essenszuschuss als steuerfreier Benefit
697
-
Workation und Homeoffice im Ausland: Was Arbeitgeber wissen müssen
602
-
BEM ist Pflicht des Arbeitgebers
350
-
Probezeitgespräche als Feedbackquelle für den Onboarding-Prozess
283
-
Vorlage: Leitfaden für das Mitarbeitergespräch
265
-
Ablauf und Struktur des betrieblichen Eingliederungsmanagements
219
-
Mitarbeiterfluktuation managen
2134
-
Das sind die 25 größten Anbieter für HR-Software
210
-
Acht rettende Sätze für schwierige Gesprächssituationen
199
-
Warum Offboarding an Bedeutung gewinnt
181
-
Jung, dynamisch, männlich: Stellenanzeigen grenzen aus
22.12.2025
-
Engagement statt PR: Inklusion als Employer-Branding-Faktor
19.12.2025
-
Haufe Live: Praxisnahe Einblicke in den KI-Einsatz
18.12.2025
-
“Nicht das Gehalt erhöhen, sondern den Gehalt”
17.12.2025
-
Wie Chat GPT und Co. die Jobsuche verändern
16.12.2025
-
Beim Anteil von Frauen in Führung verändert sich wenig
15.12.2025
-
Warum Offboarding an Bedeutung gewinnt
12.12.2025
-
"Wir müssen mit KI Schritt halten"
11.12.2025
-
Wenn der Chef-Chef anklopft
10.12.2025
-
Wie ein inklusiver Berufseinstieg gelingt
08.12.2025