Industrie 4.0: Reifegradmodelle und Tests für Unternehmen

Deutsche Industrieunternehmen haben in den vergangenen zwei Jahren ihren digitalen Reifegrad deutlich gesteigert, wie eine aktuelle Erhebung von 2020 zeigt. Um zu bestimmen, wie weit das eigene Unternehmen auf dem Weg zur Industrie 4.0 fortgeschritten ist, stehen verschiedene Reifegradmodelle zur Verfügung. Ein Überblick.

Die Bedeutung der Industrie 4.0 – der digitalen Transformation der Produktion – und die Präsenz des Themas wächst stetig. 59 Prozent der Industrieunternehmen mit mehr als 100 Mitarbeitern in Deutschland nutzen 2020 spezielle Anwendungen aus dem Bereich Industrie 4.0. Vor zwei Jahren waren es erst 49 Prozent. Zugleich hat sich der Anteil der Unternehmen, für die Industrie 4.0 gar kein Thema ist, seit 2018 von neun Prozent auf ein Prozent verringert. Das ergab kürzlich eine repräsentative Studie des Digitalverbands Bitkom.

Doch wie lässt sich der digitale Reifegrad eines Industrieunternehmens bestimmen? Forschungs- und Industrieverbände, Unternehmen und Universitäten haben hierfür verschiedene Reifegradmodelle entwickelt, die einen Anhaltspunkt geben, wie weit ein Unternehmen auf dem Weg zur Industrie 4.0 bereits ist. Wir stellen im Folgenden die wichtigsten kurz vor.

Industrie 4.0 Maturity Index von Acatech

Die Deutsche Akademie der Technikwissenschaften (Acatech) berät Politik und Gesellschaft in technikwissenschaftlichen und technologiepolitischen Zukunftsfragen. Der "Industrie 4.0 Maturity Index", welcher aus einer Kooperation der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und dem Forschungsinstitut für Rationalisierung an der RWTH Aachen entstanden ist, gehört zu den komplexesten der gängigen Reifegradmodelle. Es erfasst den betrieblichen Status Quo von Industrie 4.0 unter Berücksichtigung des gesamten Wertschöpfungsprozesses im Unternehmen. Ziel des Modells ist es, eine Grundlage für eine individuelle Industrie-4.0-Roadmap für Unternehmen zu schaffen.

Der Industrie 4.0 Maturity Index wurde 2017 erstmals veröffentlicht und im Frühjahr 2020 umfassend aktualisiert. Er fokussiert Produktion, Logistik, Verkauf, Marketing sowie Forschung und Entwicklung und ist um eine sechsstufige Entwicklungsskala aufgebaut, welche Computerisierung, Konnektivität, Sichtbarkeit, Transparenz, Prognosefähigkeit und Adaptierbarkeit umfasst. Mit jeder Stufe steigt der digitale Reifegrad.

Industrie 4.0-Readiness-Modell (Impuls Stiftung des VDMA)

Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA) hat ein eigenes Reifegradmodell ("Industrie-4.0-Readiness-Modell") entwickelt. Die Grundlage für das Modell bilden die folgenden sechs Dimensionen von Industrie 4.0: Strategie und Organisation, Smart Factory, Smart Operations, Smart Products, Data-driven Services, Mitarbeiter. Aus diesen sechs Dimensionen werden sechs Readiness-Stufen (0 bis 5) abgeleitet. Auf der Stufe 0 befinden sich die Außenstehenden, die noch keinerlei oder nur in geringem Maße Planung oder Umsetzung von Industrie-4.0-Maßnahmen getätigt haben. Stufe 5 beschreibt die Exzellenz, also Unternehmen, die alle Industrie-4.0-Aktivitäten erfolgreich umgesetzt haben.

Der VDMA hat außerdem einen Werkzeugkasten "Industrie 4.0" in Form eines Leitfadens zusammengestellt. Dieser ist vor allem als Orientierungshilfe für kleine und mittelständische Betriebe gedacht, um ihre bestehende technologische Infrastruktur zu analysieren. Der Werkzeugkasten unterteilt sich in die zwei Dimensionen: Produkte und Produktion. In jeder der Dimensionen werden verschiedene Anwendungsebenen von Industrie-4.0-Ansätzen bei Produktinnovation und produktionsbezogenen Anwendungen in einzelne erreichbare Entwicklungsstufen zerlegt. Pro Anwendungsmöglichkeit sind fünf gut nachvollziehbare Entwicklungsstufen erreichbar. Jede Entwicklungsstufe unterliegt bestimmen Kriterien, weshalb sich dieses Modell auch gut für Workshops eignet.

Weitere Reifegradmodelle zu Industrie 4.0

Eine Zusammenstellung und Einordnung weiterer Reifegradmodelle und Analysetools zu Industrie 4.0 findet sich in einem Paper des Instituts für angewandte Arbeitswissenschaft (Ifaa) von 2017. Die darin gelisteten Modelle unterscheiden sich unter anderem hinsichtlich der analysierten Themenbereiche und der Anwendung. Einige fokussieren auf technische Aspekte, andere versuchen, die gesamte Wertschöpfungskette im Blick zu behalten. Manche Tests können allein durchgeführt werden, andere hingegen kooperativ mit Partnern, die den Entwicklungsprozess unentgeltlich oder professionell unterstützen.

Was Unternehmen bei Reifegradanalysen beachten sollten

Das Ifaa empfiehlt Anwendern, unbedingt darauf zu achten, einen Check zu wählen, der zu ihrer Situation und dem geplanten weiteren Vorgehen passt. Wer die eigene Situation selbst in Ruhe analysieren möchte, braucht dazu nicht unbedingt externe Partner. Wer sich für die Zusammenarbeit mit externen Partnern entscheidet, sollte deren Kompetenzen und Interessen kennen.

Manche Tests erwecken den Eindruck, die "digitale Reife" sei ausschließlich abhängig vom Umfang verfügbarer digitaler Systeme und der Vernetzung. Diese Faktoren können die Effizienz von Unternehmensprozessen erheblich steigern. Jedoch gehört zur digitalen Reife auch die Fähigkeit, den Digitalisierungsumfang zu erkennen, der für das eigene Unternehmen sinnvoll und wirtschaftlich ist. Unternehmen, die so viel digitalisieren "wie nötig" und diesen Umfang genau beschreiben und begründen können, verfügen vielleicht über weniger Technik, aber haben deswegen sicherlich keinen niedrigeren Reifegrad als Unternehmen, die - weniger reflektiert - so viel digitalisieren wie möglich.

Industrie 4.0: Auch das Fundament muss stimmen

Experten sind sich zudem einig: Industrie 4.0 sollte auf dem soliden Fundament robuster und verschwendungsfreier Prozesse etabliert werden. Dieses Fundament muss zunächst mit den passenden Methoden des Lean Management, ganzheitlicher Produktionssysteme oder des Industrial Engineering geschaffen werden. Deren "reife" Umsetzung ist also ein wichtiger Erfolgsfaktor und Voraussetzung für die Umsetzung von Industrie 4.0. "Die Güte des Fundaments bleibt jedoch in Reifegradmodellen oft unberücksichtigt", erklärt Frank Lennings vom Ifaa. "Unternehmen sollten auch ihre diesbezüglichen Voraussetzungen sorgfältig reflektieren und scheinbar altmodische, konventionelle Verbesserungspotenziale nicht aus dem Blick verlieren. Sie werden durch Digitalisierung nicht überflüssig sondern verstärken die Wirksamkeit von Digitalisierung und Industrie 4.0 und sind Voraussetzung dafür."


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Schlagworte zum Thema:  Digitalisierung, Industrie 4.0