EuGH verurteilt Bundesrepublik wegen NO2-Grenzwertüberschreitung

Das zögerliche Verhalten der Bundesregierung beim Reduzieren der Stickoxidwerte in Städten war der EU-Kommission schon lange ein Dorn im Auge. Jetzt hat der EuGH die Bundesrepublik wegen systematischer und anhaltender Überschreitung der Grenzwerte für Stickstoffdioxid verurteilt. Einschneidende Folgen dürfte das Urteil für Deutschland allerdings nicht haben, denn inzwischen sind die Luftwerte deutlich besser geworden.

Blamabel für Deutschland ist das Urteil schon. Immerhin steht nunmehr fest, dass sich das weltweit immer als Vorreiter in Sachen Umweltpolitik gerierende Deutschland im eigenen Land nicht an die EU-Vorschriften für die Luftreinhaltung gehalten hat.

Systematische, anhaltende Stickstoffdioxid-Grenzwertüberschreitung

Der EuGH hat in seinem Urteil festgestellt, dass Deutschland in 26 Regionen und Ballungsräumen in dem Zeitraum 2010-2016 systematisch und anhaltend den europäischen Grenzwert für Stickstoffdioxid überschritten hat. Dadurch hat die Bundesrepublik permanent gegen die EU-Richtlinie 2008/50/EG vom 21.5.2008 über „Luftqualität und saubere Luft in Europa“ verstoßen. Diese sieht für Stickstoffdioxid (NO2) ab dem 1.1.2010 Grenzwerte

  • von 40 µg/Kubikmeter Luft im Jahresmittel
  • und von maximal 200 µg/Kubikmeter im Stundenmittel vor.
  • Der Stundenwert darf maximal 18 mal im Kalenderjahr überschritten werden.

Hohe Zahl deutscher Ballungsräume betroffen

Nach dem Urteil des EuGH wurden die von der EU-Richtlinie festgelegten Grenzwerte in den Ballungsräumen

  • Berlin,
  • Stuttgart,
  • Tübingen,
  • Freiburg,
  • Karlsruhe, Mannheim/Heidelberg, München, Nürnberg, Mittel- und Nordhessen, Kassel, Hamburg, Köln, Düsseldorf, Essen, Duisburg, Aachen, Mainz, Worms, Ludwigshafen, Koblenz u.a. überschritten.

In einigen Gebieten wurde der Jahresgrenzwert von 40 µg/Kubikmeter um mehr als 100 % gerissen.

Stickstoffdioxid-Stundengrenzwert wurde um ein Vielfaches überschritten

Ein weiterer Verstoß gegen die Richtlinie zur Luftreinhaltung besteht nach dem Urteil des Gerichts in einer systematischen und anhaltenden Überschreitung des Stundengrenzwerts für NO2 in den Ballungsräumen Stuttgart und Rhein-Main. In den Jahren 2010-2016 lag nach den Feststellungen des Gerichts die Zahl der Überschreitungen des Werts zwischen 28 und 183 Tagen pro Jahr bei maximal 18 erlaubten Tagen.

EuGH rügt fehlende Maßnahmen zur zeitlichen Eindämmung

Ausdrücklich stellte das Gericht einen weiteren Verstoß der Bundesrepublik Deutschland gegen die Verpflichtungen aus der Luftreinhalterichtlinie in der Weise fest, dass die Bundesrepublik ihrer Verpflichtung nicht nachgekommen ist, durch geeignete Luftqualitätspläne und weitere Maßnahmen dafür zu sorgen, dass der Zeitraum der Nichteinhaltung der Grenzwerte so kurz wie möglich gehalten wird. Die Bundesrepublik habe über viele Jahre keine geeigneten Maßnahmen zur Erreichung der erlaubten Grenzwerte ergriffen.

Die Fehler anderer entlasten Deutschland nicht

Den Einwand der Bundesrepublik, die EU-Kommission habe die Überschreitungen der Grenzwerte maßgeblich aufgrund eigener Versäumnisse mitverursacht, ließ der EuGH nicht gelten. Seinen Vorwurf begründete Deutschland damit, dass die EU sich den Vorschlägen Deutschlands zur Begrenzung der Emissionen von Dieselfahrzeugen, insbesondere durch Verschärfung der zu laschen Euro-5-Norm, längere Zeit widersetzt habe. In der Folge seien erhebliche Grenzwertüberschreitungen nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen EU-Mitgliedstaaten zu beklagen gewesen. Der EuGH stellte klar, dass Versäumnisse anderer Länder und auch der EU-Kommission grundsätzlich nicht dazu führen, dass verbindliche EU-Richtwerte dann auch von anderen Ländern einfach überschritten werden dürften. Eigenes Fehlverhalten sei nie durch das Fehlverhalten anderer zu rechtfertigen.

Voller Erfolg der EU-Kommission

Für den Zeitraum bis 2016 hat der EuGH daher der Klage der EU-Kommission in vollem Umfange stattgegeben.

(EuGH, Urteil v. 3.6.2021, C-635/18)

Verurteilung ohne direkte Folgen

Das Urteil des EuGH war in dieser Form nicht überraschend. Auch andere Länder wie Frankreich und Großbritannien wurden wegen Überschreitung der Schadstoffgrenzwerte bereits vom EuGH verurteilt. Unmittelbare Folgen sind an das Urteil nicht geknüpft. Das Urteil des EuGH stellt lediglich den Rechtsverstoß fest.

Erhebliche Strafzahlungen möglich

Strafzahlungen müssten von der EU-Kommission in einem weiteren Verfahren vor dem EuGH gefordert werden. Danach könnte die Kommission empfindliche Zwangs- und Bußgelder gegen Deutschland festsetzen lassen, nach Expertenschätzungen bis zu 400.000 Euro pro Tag weiterer Rechtsverletzungen.

Luftwerte entwickeln sich positiv

Ein solches weiteres Verfahren ist eher nicht zu erwarten. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil ausdrücklich klargestellt, dass die getroffenen Feststellungen lediglich bis zum Jahr 2016 reichen und Deutschland in der Einhaltung der Grenzwerte erhebliche Fortschritte gemacht habe. Ein weiteres Verfahren, mit dem die EU-Kommission die Verhängung von Strafzahlungen gegen die Bundesrepublik beim EuGH geltend machen könnte, ist vorerst daher nicht zu erwarten. Die EU-Kommission hat angedeutet, zunächst überprüfen zu wollen, ob die in Deutschland erreichten Fortschritte bei der Luftreinhaltung nachhaltig sind.

Regionale Fahrverbote nicht ausgeschlossen

Folgen könnte das Urteil in Deutschland allerdings regional an den Orten haben, an denen die Grenzwerte immer noch deutlich überschritten werden. Das waren im Corona-Jahr 2020 nur noch sechs Städte, darunter München und Hamburg. Die Deutsche Umwelthilfe (DUH), die immer wieder wegen der Luftverschmutzung auf Fahrverbote geklagt hatte, hat bereits angekündigt, gegen die betreffenden Städte erneut gerichtlich vorzugehen und die Anordnung von Diesel-Fahrverboten zu verlangen bzw. aus bereits erwirkten Urteilen Vollstreckungsmaßnahmen einzuleiten, wenn dort die Schadstoffwerte nicht weiter sinken. Grundsätzlich könnte auch die Bundesregierung die Stilllegung von Fahrzeugen anordnen, die nicht mit der neuesten Software zur Emissionsreduzierung nachgerüstet sind.

EU-Kommissare kritisieren Versäumnisse der Länder

Süffisante Kommentare insbesondere aus dem europäischen Ausland, in dem die Bundesregierung in der Vergangenheit sich allzu häufig gerne als Oberlehrer im Umweltschutz gab, dürften nicht lange auf sich warten lassen. Dies sollte aber nicht verdecken, dass die Probleme der Luftverschmutzung in europäischen Ballungsräumen nach wie vor erheblich sind. Nicht nur die Grenzwerte für Stickoxide, sondern auch die überhöhten Feinstaubwerte in vielen Städten sind Grund für die Klage gegen weitere EU-Länder.

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Infolgedessen sehen die Kommissare die Länder in der Pflicht, effektive Schritte zur Luftreinhaltung einzuleiten. Nicht verkannt werden darf aber auch, dass die EU-Kommission bisher sehr zögerlich war und ihrerseits wenig getan hat, um die Grenzwerte in den Mitgliedsländern umzusetzen.

Bundeskanzlerin sieht Deutschland auf einem sehr guten Weg

Auf das Urteil reagierte die Bundesregierung gelassen. Die Bundeskanzlerin und auch die Bundesumweltministerin Svenja Schulze erklärten, die Bundesregierung habe in beispielloser Weise Förderprogramme aufgelegt, um den Kommunen zu helfen, die Anforderung bei den Grenzwerten der Luftqualität einzuhalten und verwiesen u.a. auf das Sofortprogramm saubere Luft. Die Kommunen beklagen sich hinsichtlich des Programms allerdings über bürokratische Hürden. Er sei bisher nicht oder nur wenig Geld geflossen. Die Bundeskanzlerin allerdings meint, die Regierung sei – was die Luftreinhaltung betrifft - inzwischen

auf einem sehr, sehr guten Weg“.

Hintergrund: Anspruch der Anwohner auf saubere Luft

Der Anspruch der Bürger aus nationalem Recht leitet sich

  • unmittelbar aus § 47 Abs. 1 S. 1 und 3 BImSchG ab,
  • wonach die für die Aufstellung von Luftreinhalteplänen zuständige Planbehörde (Regierungspräsidium Stuttgart) einen Luftreinhalteplan aufzustellen oder fortzuschreiben hat,
  • wenn die nach europäischen und bundesrechtlichen Vorschriften einzuhaltenden Immissionsgrenzwerte für Luftschadstoffe nicht eingehalten werden. 

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