Interne Experten im Arbeitsschutz: Ein ungenutztes Potenzial

In vielen Unternehmen wird die Expertise interner Arbeitsschutzexperten ignoriert. Der Dunning-Kruger-Effekt und Beratungsresistenz spielen hierbei eine Rolle, indem sie Führungskräfte dazu verleiten, ihre eigene Kompetenz zu überschätzen und wertvolle Ratschläge zu übersehen.

Das Sprichwort "Der Prophet im eigenen Land gilt nicht viel" beschreibt das Phänomen, dass Menschen oft die Kompetenz und den Rat von Fachleuten oder erfahrenen Personen innerhalb der eigenen Organisation oder des eigenen Umfelds unterschätzen oder ignorieren.

Ratschläge von internen Experten werden ignoriert

In der Praxis bezieht sich insbesondere der Beratungsauftrag der Fachkraft für Arbeitssicherheit überwiegend auf folgende Personengruppen:

  • Arbeitgeber bzw. Führungskräfte
  •  Betriebs- und Personalräte

Die klare gesetzliche Aufgabe des Arbeitsschutzexperten ist, dass er hinweist, berät, aufmerksam macht, hinwirkt, kontrolliert, prüft, berichtet, informiert usw. Im schlechtesten Fall wird er dafür als Besserwisser, Klugscheißer oder ähnliches bezeichnet.

Aber warum beachten Führungskräfte die Hinweise und Ratschläge ihrer internen Arbeitsschutzexperte nicht? Mögliche Antworten auf diese Frage können Beratungsresistenz bzw. Rigidität und der sog. Dunning-Kruger-Effekt sein.

Dunning-Kruger-Effekt: Überschätzung der eigenen Fähigkeiten

Der Dunning-Kruger-Effekt ist eine kognitive Verzerrung, durch die Menschen mit geringem Wissen oder Fähigkeiten bzw. Kompetenzen in einem Bereich dazu neigen, ihre Fähigkeiten in genau jenem Bereich zu überschätzen. Folglich fehlt die Metakompetenz, die eigenen Kompetenzen sachlich gerecht zu beurteilen. Dieser Effekt kann im Arbeitsschutz eine besondere Rolle spielen, insbesondere wenn Führungskräfte mit unzureichendem Fachwissen in Gesundheits- und Sicherheitsfragen Entscheidungen treffen.

Ein weiterer Aspekt ist die sog. Beratungsresistenz, die beschreibt, wie stark Personen – in diesem Fall Führungskräfte – gegenüber externem Rat und Fachwissen verschlossen sind. Eine Steigerung von Beratungsresistenz ist die Rigidität. Dies ist die allgemeine Bezeichnung für die Starrheit bzw. Unbeweglichkeit von Menschen, an Einstellungen, Gewohnheiten oder Handlungen hartnäckig festzuhalten, obwohl dies aufgrund veränderter Rahmenbedingungen nicht mehr angebracht ist und eine andere Handlungs- oder Denkweise logischer/besser und sinnvoller wäre.

Im Kontext des Arbeitsschutzes in Verbindung mit dem Dunning-Kruger-Effekt und der Beratungsresistenz von Führungskräften kann das Sprichwort "Der Prophet im eigenen Land gilt nicht viel" einen wichtigen Aspekt beleuchten, warum gesundheits- bzw. sicherheitsrelevante Hinweise oft ignoriert werden und sich die Sicherheitskultur nicht weiterentwickelt. Wenn eine Führungskraft dazu noch narzisstische Tendenzen aufweist – also dazu neigt, ihre eigenen Fähigkeiten, ihre Bedeutung oder ihren Wert übermäßig zu überschätzen, oft in einem extremen Maß – und diese Eigenschaften stark zum Ausdruck kommen, kann dies die Sicherheit am Arbeitsplatz ernsthaft gefährden.

Erkenntnis schafft Abhilfe

Zunächst ist es wichtig, den Effekt zu erkennen und richtig einzuordnen. Der Dunning-Kruger-Effekt wird weniger durch direkte Selbstaussagen, sondern eher durch das Verhalten und die Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung sichtbar.

Das Erkennen und das Wissen um den Effekt kann proaktiv helfen, schädliche Auswirkungen zu minimieren. Folgende Punkte können darauf hindeuten, dass die Person über die Unfähigkeit verfügt, die eigene Inkompetenz nicht zu erkennen:

Selbstüberschätzung bei geringen Fähigkeiten

Personen überschätzen ihre eigenen Kenntnisse und Kompetenzen in einem Bereich, obwohl objektiv betrachtet erhebliche Wissenslücken oder Defizite bestehen. Beispiel: Eine Person ohne tiefere Kenntnisse in einem Fachgebiet äußert starke Meinungen oder hält sich für kompetenter als erfahrene Experten.

Mangel an Selbsterkenntnis

Betroffene erkennen nicht, dass sie Fehler machen oder ihr Wissen unzureichend ist. Sie haben Schwierigkeiten, eigene Schwächen oder Lernbedarf zu identifizieren.

Widerstand gegen Feedback

Die Betroffenen neigen dazu, konstruktive Kritik abzulehnen oder nicht ernst zu nehmen, da sie von ihrer eigenen Kompetenz überzeugt sind. Sie betrachten Feedback oft als unberechtigt oder missverstehen es.

Unterschätzung von Experten

Personen im Dunning-Kruger-Effekt neigen dazu, die Fähigkeiten oder das Wissen von Experten herabzusetzen oder anzuzweifeln. Das Fachwissen anderer Menschen kann nicht gewürdigt werden. Sie glauben, dass das Thema einfacher ist, als es tatsächlich ist, und halten Experten für unnötig überqualifiziert.

Lernunwilligkeit oder -unfähigkeit

Aufgrund ihres übersteigerten Selbstbewusstseins sehen Betroffene keinen Grund, sich weiterzubilden oder ihre Perspektiven zu hinterfragen.

Überzeugungskraft bei mangelnder Grundlage

Oft treten diese Personen selbstbewusst und überzeugend auf, auch wenn ihre Aussagen wenig fundiert sind. Dies kann dazu führen, dass andere ihnen glauben, obwohl die Grundlagen fehlen.

Organisatorische Zusammenhänge zwischen Beratungsresistenz und Dunning-Kruger-Effekt im Arbeitsschutz

Fehlende Anerkennung von Fachwissen innerhalb der Organisation – Unterschätzung interner Arbeitsschutzempfehlungen
Wenn Unternehmensleitung und Führungskräfte glauben, dass interne Sicherheitsbeauftragte oder Arbeitsschutzexperten in ihrer eigenen Organisation nicht über herausragendes Fachwissen verfügen, neigen sie dazu, deren Empfehlungen weniger ernst zu nehmen. Dieser Effekt verstärkt sich durch den Dunning-Kruger-Effekt. Dies führt dazu, dass externen Beratern tendenziell mehr Glauben geschenkt wird und der teure, aber nicht bessere Rat gerne bezahlt wird.

Verstärkung der Beratungsresistenz durch Hierarchie und Status
In vielen Organisationen sind die Arbeitsschutzbeauftragten auf einer niedrigeren „hierarchischen“ Ebene als das obere Management angesiedelt. Dadurch sehen Führungskräfte in ihnen eher „Befehlsempfänger“ oder Dienstleister für ihre Angelegenheiten statt gleichwertige Berater und messen diesen Ratschlägen weniger Bedeutung bei. Diese hierarchiebedingte Beratungsresistenz verstärkt das Phänomen des "Propheten im eigenen Land": Führungskräfte verlassen sich eher auf ihre eigene, oft subjektive und unvollständige Einschätzung der Sicherheitslage, da sie die Expertise der internen Fachleute nicht als wertvoll anerkennen.

Vermeidung von Veränderung und Status-quo-Bestätigung
Führungskräfte neigen oft dazu, bestehende Prozesse beizubehalten, da diese ihnen vertraut sind und sie sich darin kompetent fühlen. Interne Sicherheitsexperten, die Veränderungen anstoßen möchten, stoßen daher auf Widerstand. Als "Propheten im eigenen Land" haben sie es schwer, Führungskräfte davon zu überzeugen, dass neue Sicherheitsmaßnahmen notwendig sind, da dies eine Herausforderung der bestehenden Praktiken darstellt. Der Dunning-Kruger-Effekt spielt hier hinein, weil Führungskräfte ihre Kompetenz in der bestehenden Arbeitsweise überschätzen und keine Notwendigkeit sehen, daran etwas zu ändern.

Negative Auswirkungen auf die Sicherheitskultur

Wenn Führungskräfte die internen Experten nicht ernst nehmen, führt das zu einer resignativen Einstellung bei den Beauftragten, da sie das Gefühl haben, dass ihre Bemühungen nicht anerkannt werden. Gedanken, dass sicherheitsrelevante Bedenken nicht ernst genommen werden, können auftreten. Langfristig kann dies vorhandene Sicherheitskultur negativ beeinflussen, da der Eindruck entsteht, dass Arbeitsschutz eher eine Formalität ist – und keine echte Priorität des Unternehmens.

Persönliche Ansätze gegen den Dunning-Kruger-Effekt

Seien Sie zunächst einfühlsam und freundlich. Der Dunning-Kruger-Effekt kann leicht zu Abwehrreaktionen führen, wenn man direkt auf Fehler oder Wissenslücken hinweist. Es ist daher entscheidend, das Gespräch mit Empathie und Rücksicht zu beginnen. Gehen Sie davon aus, dass sich die betroffene Person nach bestem Wissen und Gewissen bemüht, auch wenn ihr die eigenen Schwächen nicht bewusst sind.

Schrittweise Herangehen

Anstatt die Person sofort mit umfassender Kritik zu konfrontieren, führen Sie schrittweise Gespräche und lassen immer Raum für Reflexion.

Förderung von Selbstentdeckung und Schaffung von Reflexionsmomenten – mehr Coach statt Belehrender sein

Ermuntern Sie die Person, selbst Lösungen zu finden oder ihr Wissen zu überprüfen, anstatt direkt Antworten vorzugeben. Stellen Sie Fragen wie „Wie sind Sie zu diesem Schluss gekommen?“ oder „Gibt es Alternativen, die wir bedenken sollten?“, um kritisches Denken anzuregen.

Band des Vertrauens und positive Atmosphäre schaffen

Bauen Sie eine vertrauensvolle Beziehung auf, damit sich die Person sicher fühlt, auch Fehler zuzugeben oder Unwissen einzugestehen. Gestalten Sie Gespräche so, dass sie motivierend wirken und nicht als persönlicher Angriff empfunden werden.

Neutralität bewahren

Bleiben Sie immer sachlich und konzentrieren Sie sich auf das gemeinsame Ziel. Vermeiden Sie wertende oder belehrende Aussagen und lassen Sie sich nicht im Eifer des Miteinanders auf die Emotionsebene ziehen.

Zeit nehmen und Geduld zeigen

„Geduld wird belohnt mit einem besseren Verständnis der Dinge“ (Leonardo da Vinci). Geduld ermöglicht es, die Welt tiefer zu begreifen und neue Perspektiven zu gewinnen. Der Prozess, Einsicht zu gewinnen und Beratungsresistenz zu überwinden, braucht Zeit. Erzwingen Sie keine sofortige Akzeptanz, nehmen und geben Sie sich die Zeit.

Organisatorische Ansätze gegen den Dunning-Kruger-Effekt

Stärkung der Position der Arbeitsschutzexperten

Die klare Anerkennung und Positionierung von Arbeitsschutzexperten im Unternehmen als wertvolle Berater und Experten kann dazu beitragen, dass Einschätzungen und Empfehlungen stärker wahrgenommen und Entscheidungen eher anerkannt werden. Führungskräfte sollten regelmäßig ermutigt werden, diese Fachleute zu konsultieren und gezielt in Entscheidungen einzubeziehen.

Ein Ansatzpunkt kann hier Coaching sein. Coaching hilft, Altes loszulassen, blinde Flecken wahrzunehmen, Neues entstehen zu lassen und an diesen Erkenntnissen persönlich zu wachsen. Es zeigt neue Perspektiven auf und schafft Klarheit. Zudem kann Coaching helfen, Entscheidungen zu treffen, Prioritäten zu setzen und Maßnahmen zu entwickeln. Finden Sie positive Resonanz in Ihrem Unternehmen bzw. werden die Arbeitsschutzexperten von den Führungskräften als Coach anerkannt, ist dies sicherlich ein guter Schritt in Richtung proaktive Sicherheitskultur.

Weiterbildung und Schulungen für Führungskräfte

Schulungen und Programme, die das Wissen und die Rolle der internen Arbeitsschutzexperten hervorheben, können helfen, die Expertise sichtbarer zu machen. Auf diese Weise könnten Wissenslücken der Führungskräfte im Arbeitsschutz geschlossen und die Sichtbarkeit erhöht werden. Wichtig ist auch, in diese Schulungen Themen wie kognitive Verzerrungen durch den Dunning-Kruger-Effekt einzubauen, um die Selbstwahrnehmung der Führungskräfte zu schärfen und sie für den Wert von Arbeitsschutz zu sensibilisieren.

Förderung eines respektvollen Umgangs und einer Feedback-Kultur

Eine Kultur, die die Expertise der Mitarbeitenden wertschätzt und deren Wissen aktiv nutzt, kann helfen, das Phänomen des „Propheten im eigenen Land“ zu überwinden. Führungskräfte sollten ermutigt werden, konstruktives Feedback und Rat anzunehmen, unabhängig davon, ob dieser intern oder extern geäußert wird.

Zusammenarbeit

Bilden Sie Teams, die sowohl echte Experten als auch Mitglieder umfassen, die bereit sind, auf Anzeichen des Dunning-Kruger-Effekts aufmerksam zu machen. Eine inklusive und vertrauensvolle Atmosphäre fördert Offenheit und erleichtert es allen Beteiligten, ehrlich miteinander umzugehen.

Transparenz

Fördern Sie eine klare und offene Kommunikation, indem Sie den Fokus auf echte Ergebnisse legen und den Fortschritt regelmäßig überprüfen. Diese Transparenz ermöglicht es der Organisation, kontinuierlich zu lernen. Auch Kolleginnen und Kollegen, die vom Dunning-Kruger-Effekt betroffen sind, können so ihr Wissen und ihre Erfahrungen erweitern.

Fazit

Die Aussage "Der Prophet im eigenen Land gilt nicht viel" ergänzt den Zusammenhang zwischen dem Dunning-Kruger-Effekt und der Beratungsresistenz im Arbeitsschutz, indem sie verdeutlicht, warum interne Sicherheitsexperten oft wenig Gehör finden. Wenn Führungskräfte die interne Expertise vernachlässigen und stattdessen auf ihre eigene, oft fehlerhafte Einschätzung vertrauen, kann dies schwerwiegende Folgen für die Arbeitssicherheit und die Unternehmenskultur haben. Durch die gezielte Anerkennung und Wertschätzung internen Fachwissens lässt sich jedoch eine sicherheitsorientierte Kultur fördern, in der die Kompetenz der Arbeitsschutzbeauftragten voll zur Geltung kommt.


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